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Vierunddreißigtausend Mark 1201–1202

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Die Größenordnung dieses Unternehmens übertraf alle bisherigen maritimen Expeditionen der Stadt um ein Vielfaches. Dandolo musste die vorübergehende Einstellung aller übrigen wirtschaftlichen Aktivitäten verfügen und die Handelsschiffe von den Meeren zurückbeordern, während sich die gesamte Bevölkerung an den Vorbereitungen beteiligte. Für die Durchführung der Arbeiten blieben ihnen nur 13 Monate.

Schon allein der Bau und die Überholung der Schiffe erforderte enorme Mengen an Holz, Teer, Hanf, Tauen, Segeltuch sowie Eisen für Nägel, Anker und Befestigungen. Man bemühte sich auf dem italienischen Festland um Rohstoffe und Material. Große Mengen an Tannen und Lärchen wurden über die Flüsse geflößt und in die Lagune geliefert; Eichen und Pinien kamen aus dem Veneto und von der Küste Dalmatiens. Das staatliche Arsenal, das 1104 eingerichtet worden war, bildete das Zentrum der Arbeiten, doch ein Großteil davon wurde auf privaten Höfen ausgeführt, die über die Inseln in der Lagune verteilt waren. Die Luft war erfüllt vom Hämmern und Sägen, von den Schlägen der Äxte und Hacken, in großen Kesseln brodelte Pech, Schmelzöfen glühten, Seilmacher verarbeiteten Hunderte Meter von verdrilltem Hanf; Ruder, Riemenscheiben, Masten, Segel und Anker wurden geformt, genäht, gegossen und behauen. Schiffe begannen vom Kiel nach oben zu wachsen; andere wurden ausgebessert oder umgebaut. Im Arsenal wurde Kriegsmaschinen gebaut – Steinschleudern und Belagerungstürme, die für die Reise zerlegt werden konnten.

Aufgrund der logistischen Erfordernisse des Kreuzzugs wurden Schiffe verschiedener Art benötigt. Die 4500 Ritter und 20.000 Fußsoldaten konnte man auf Rundschiffen befördern, hochbordige Segelschiffe, die über die gesamte Länge mit Aufbauten versehen und unterschiedlich groß waren: von einer Handvoll mächtiger Prestigeschiffe, die den Adeligen vorbehalten waren, über die Standard-Truppentransporter, auf denen 600 Mann unter Deck zusammengepfercht wurden, bis zu kleineren Schiffen. Die 4500 Pferde sollten auf 150 eigens umgebauten Rudergaleeren befördert werden, die entweder an den Seiten oder am Bug mit aufklappbaren Landebrücken versehen waren, über welche die Pferde in den Bauch der Schiffe gelangen konnten, wo sie mit Schlingen gegen den rollenden Seegang gesichert wurden. Die Türen, die unterhalb der Wasserlinie lagen, mussten für die Fahrt mit Kitt abgedichtet werden, konnten aber an einem geeigneten Strand mit einem Ruck aufschwenken, sodass ein Ritter mit voller Bewaffnung hinauspreschen konnte, was einem arglosen Feind durchaus einen gehörigen Schrecken einzujagen vermochte. Insgesamt mussten die Venezianer wahrscheinlich 450 Schiffe bereitstellen, um das Heer und seinen Tross zu befördern. Außerdem mussten die zusätzlichen 50 Kriegsgaleeren ausgerüstet werden, und es mussten Seeleute und Ruderer für die Flotte rekrutiert werden. Um 33.000 Männer auf Segel- und Ruderschiffen über das östliche Mittelmeer zu befördern, brauchte man weitere 30.000 Männer, die sich auf dem Meer auskannten – die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung Venedigs oder Ersatzmannschaften, die aus den seefahrenden Städten an der dalmatinischen Küste rekrutiert wurden. Es meldeten sich viele Freiwillige für den Kreuzzug, dennoch musste noch weiteres Personal gewonnen werden. In allen Gemeinden der Stadt wurden Männer mittels einer Lotterie mit Wachskugeln requiriert – jene, die eine Kugel zogen, die ein Stückchen Papier enthielt, wurden zum Dienst für die Republik verpflichtet.

Ähnlich gewaltiger Anstrengungen bedurfte es, um die Verpflegung der Armada sicherzustellen. Die Venezianer berechneten sorgfältig den Proviant, der für einen Mann pro Jahr erforderlich war: 377 Kilogramm Brot und Mehl, 2000 Kilogramm Getreide und Bohnen, 300 Liter Wein: Ein Kreuzfahrerheer mit Verpflegung auszurüsten, war ein aufwendiges Unterfangen. Im agrarischen Hinterland von Venedig versuchte man die benötigten Produkte zu besorgen; Weizen wurde aus verschiedenen regionalen Zentren beschafft – aus Bologna, Cremona, Imola und Florenz – und der Teig daraus in venezianischen Öfen zweimal gebacken, um den haltbaren Schiffszwieback herzustellen, der die Grundlage der Seefahrerkost bildete. Nicht alle benötigten Lebensmittel konnten in Venedig beschafft werden. Zweifellos beabsichtigten die venezianischen Planer, die Proviantvorräte unterwegs zu ergänzen, wenn die Flotte an der dalmatinischen Küste entlangfuhr, doch den Vertrag einzuhalten, erwies sich dennoch als eine enorme Herausforderung.

Alle diese Arbeiten mussten auch bezahlt werden. Daher sah sich die venezianische Münzstätte gezwungen, zusätzliche Mengen an kleinen Silbermünzen zu prägen, den grosso, um die vielen Zimmerleute, Abdichter, Seilmacher, Schmiede, Seeleute, Köche und Kahnführer zu entlohnen, die ein Jahr lang unablässig am Aufbau der Flotte arbeiteten. Faktisch lebte die Republik in dieser Zeit auf Kredit und wartete besorgt auf die Erfüllung des Vertrages und die Bezahlung.

Im Frühsommer 1202 hatten die Venezianer schließlich die riesige Flotte beisammen, die erforderlich war, um ein Heer von 33.000 Männern 1400 Meilen weit über das östliche Mittelmeer zu transportieren und ein Jahr lang zu versorgen. »Die Venezianer hatten ihre Verträge mehr als eingehalten«,40 konstatierte Villehardouin. »Die Flotte, war so reich und schön, dass niemals ein Christenmensch eine schönere sehen konnte.«41 Allen Berichten zufolge war der Aufbau dieser Flotte ein Meisterstück kollektiver Organisation und zeugte von der Effizienz des venezianischen Staates, was sich im Laufe der Zeit sehr vorteilhaft auf die Entwicklung der maritimen Fähigkeiten der Republik auswirken sollte.

Die Flotte war zum geplanten Abreisetag, dem 24. Juni 1202, startbereit, doch der Kreuzzug war schlecht koordiniert und blieb hinter seinem Zeitplan zurück. An Ostern (6. April 1202) sollten sich die Kreuzfahrer von ihren Angehörigen verabschieden, doch viele brachen erst an Pfingsten (2. Juni) von zu Hause auf. Die Kreuzfahrer zogen in kleinen Gruppen nach Venedig, unter den Bannern ihrer Fürsten und Grundherren. Der Anführer des gesamten Unternehmens, Bonifatius von Montferrat, erschien erst am 15. August in der Lagunenstadt, doch bereits seit Anfang Juli war klar, dass die vereinbarte Zahl von 33.000 Kreuzfahrern, worauf die Venezianer ihre Flotte ausgelegt hatten, bei weitem nicht erreicht werden würde. Einige wählten aus Bequemlichkeit oder aus Kostengründen andere Wege ins Heilige Land, schifften sich in Marseille oder Apulien ein – vielleicht war ihnen auch das Gerücht zu Ohren gekommen, dass die venezianische Flotte beabsichtigte, nach Ägypten zu ziehen, anstatt das Heilige Land zu befreien. Villehardouin war schnell bei der Hand, jene zu tadeln, die nicht zum vereinbarten Termin erschienen, »weil sie und manche andere vor der großen Gefahr zurückschreckten«.42 In Wirklichkeit war es anders: Villehardouin und die Kreuzzugsbarone, denen er Bericht erstattet hatte, hatten sich bei ihren Kalkulationen schwer verrechnet, und außerdem waren die Ritter, die erschienen, nicht verpflichtet, den längeren Landweg nach Venedig zu nehmen. »Sehr großer Abbruch geschah dadurch dem Heere derer, die nach Venedig gingen, und daraus erfolgte großes Missgeschick, wie ihr es später werdet hören können«,43 schrieb er.

Zudem gab es nicht genügend Platz, um das Kreuzfahrerheer in Venedig unterzubringen, und die Behörden waren besorgt darüber, dass Horden bewaffneter Männer durch die engen Gassen streifen würden. Daher wurden ihnen auf der verlassenen Sandinsel San Nicolo Lagerplätze zugewiesen, der längsten Insel der lidi, die heute schlicht als Lido bekannt sind: »Dorthin gingen die Kreuzfahrer und schlugen ihre Zelte auf und richteten sich dort so gut sie konnten ein«,44 schrieb Robert de Clari, ein französischer Ritter, der einen lebendigen Augenzeugenbericht über den Kreuzzug verfasste, allerdings nicht wie Villehardouin vom aristokratischen Standpunkt aus, sondern aus der Sicht der gewöhnlichen Kreuzfahrer, der Fußsoldaten der Expedition.

Die Kreuzritter fanden sich weiterhin nur in unzureichender Zahl ein, und so verstrich der vorgesehene Abreisetag, was die Sorgen Dandolos von Tag zu Tag mehrte. Die Moral der versammelten Kreuzfahrer erhielt kurzzeitig Auftrieb durch das Erscheinen ranghoher Persönlichkeiten – Ende Juni kam Balduin von Flandern, kurz darauf Graf Louis von Blois, beide mit eigenen Truppen; der päpstliche Legat, Kardinal Peter Capuano, erschien am 22. Juli in Venedig, um dem Unternehmen den päpstlichen Segen zu erteilen, doch nach wie vor blieb die Zahl der Versammelten weit hinter den Vereinbarungen im Vertrag zurück. Im Juli waren es erst 12.000 Mann. »Es waren Schiffe und Lastschiffe wohl für dreimal so viele Leute vorhanden, als das Heer zählte«,45 stellte Villehardouin fest.

War dies beschämend für die Kreuzzugsbarone, so war es für Venedig potenziell ruinös. Die Kommune hatte ihre gesamte Wirtschaftskraft auf dieses Geschäft ausgerichtet, und für Dandolo, der es ausgehandelt und sich dafür eingesetzt hatte und die Bevölkerung dazu gebracht hatte, es zu unterstützen, drohte es zu einer persönlichen Katastrophe zu werden. Wie alle Kaufleute Venedigs glaubte Dandolo an die Unantastbarkeit von Verträgen. Sie waren unter allen Umständen einzuhalten. Laut Clari wurde er wütend auf die Barone:

»›Ihr Herren, Ihr habt uns gegenüber übel gehandelt, denn sofort als Eure Beauftragten mit mir und meinen Leuten den Vertrag geschlossen hatten, habe ich in meinem ganzen Lande befohlen, dass kein Händler seinen Geschäften nachgehen sollte, sondern mithelfen sollte, die Flotte fertig zu machen. Und daraufhin haben sie jeden Tag all ihr Bemühen darauf verwandt und haben seit mehr als einem und einem halben Jahr keinen Gewinn gemacht, aber sehr viel verloren. Deshalb wollen meine Leute und ich, dass Ihr uns die Summe zahlt, die Ihr uns schuldig seid. Und wenn Ihr in dieser Sache nichts tut, so wisset, dass Ihr nicht von dieser Insel kommen werdet, bevor Ihr uns nicht bezahlt habt. Und Ihr werdet niemanden finden, der Euch zu trinken oder zu essen bringt.‹…46 Als die Kreuzfahrer hörten, was der Herzog gesagt hatte, waren sie zutiefst bekümmert und sehr betrübt.«

Es ist unklar, wie ernst die Drohung gemeint war. Aber der Doge war, wie Clari fortfuhr, »ein Mann von großer Klugheit und ließ es trotz allem zu, dass man ihnen zu trinken und zu essen brachte.«47 Beim Großteil der gewöhnlichen Kreuzritter jedoch, die in der Lagune festsaßen, wuchs das Unbehagen. Sie waren im Grunde Gefangene, die unter der heißen Sonne festgehalten wurden; sie stapften durch den Sand am lang gezogenen Strand, blickten auf der einen Seite auf die blaugrüne Adria hinaus und auf der anderen in die trübe Lagune, wo Venedig herüberschimmerte, auf schmerzhafte Weise außer Reichweite, Venedig, das sie quälte und ausbeutete. »Hier«, so berichtete ein Chronist, der offenkundig kein Freund von Venedig war,

»warteten sie, nachdem sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten, von den Kalenden des Juni [1. Juni] bis zu den Kalenden des Oktober [1. Oktober] auf die Überfahrt. Ein Sistarius Getreide kostete 50 Solidi. So es den Venezianern gefiel, verfügten sie, dass keiner der Kreuzfahrer die erwähnte Insel verlassen dürfe. Somit wurden die Pilger, fast wie Gefangene, in jeglicher Hinsicht von ihnen beherrscht. Zudem entstand unter dem Fußvolk große Furcht.«48

Sie waren in frommer Absicht gekommen, um ihre Seelen zu retten, und mussten nun erleben, dass sie von ihren christlichen Mitbrüdern verraten worden waren. Es war unerklärlich. Der schwelende Unmut sollte sich später in handfesterer Form entladen. Krankheiten brachen aus, und »es gab kaum noch genügend Lebende, um die Toten zu bestatten«.49 Und wahrscheinlich wusste keiner der Kreuzfahrer, dass die Reise, die sie so dringlich ersehnten, gar nicht ins Heilige Land gehen sollte. Für die Armen sollte sich der Kreuzzug als eine Reihe von gebrochenen Versprechungen erweisen, die von den Reichen und Mächtigen in böser Absicht gemacht worden waren. Und Venedig wurde bereits für die Folgen verantwortlich gemacht.

Als der päpstliche Legat Peter Capuano in der Stadt ankam, entband er die Armen, die Kranken und die Frauen von ihrem Kreuzzugsgelübde; viele andere waren vermutlich schon abgesprungen und auf eigene Faust nach Hause zurückgekehrt. Capuano erschien als die Stimme und das Gewissen des Papstes und bestärkte die Gläubigen »auf wunderbare Weise«50 durch seine mitreißenden Predigten, doch auch er war nicht in der Lage, das grundlegende Problem zu lösen. Die Kreuzfahrer konnten nicht zahlen, und die Venezianer konnten ihnen ihre Schulden nicht erlassen, wodurch ein Klima erzeugt wurde, das ständiges Krisenmanagement notwendig machte und schließlich Konsequenzen nach sich zog, die damals noch niemand vorhersehen konnte.

Es war eine verfahrene Situation. Die Venezianer wurden wütend. Die Kreuzzugsbarone, in Verlegenheit gebracht dadurch, dass sie den Vertrag nicht erfüllen konnten, versuchten, das benötigte Geld bei den Teilnehmern des Kreuzzugs einzutreiben: vier Mark für einen Ritter und eine Mark pro Fußsoldaten. Alle Kreuzzüge hatten mit dem Problem der Geldbeschaffung zu kämpfen, und dieser bildete keine Ausnahme. Viele Kreuzfahrer hatten bereits Geld bezahlt und weigerten sich, noch mehr beizusteuern; andere waren dazu schlicht nicht in der Lage. Die Schulden blieben weiter drückend. In der sommerlichen Hitze des Lido kam es im Kreuzfahrerheer zu Auseinandersetzungen darüber, wie man weiter vorgehen solle. Manche wollten abziehen und sich einen anderen Weg ins Heilige Land suchen. Andere waren bereit, um der Errettung ihrer Seelen willen alles zu geben, was sie besaßen. Das Kreuzfahrerheer drohte auf beschämende Weise zu zerfallen. Die Barone versuchten mit gutem Beispiel voranzugehen, indem sie eigene Wertsachen ablieferten und sich auf dem Rialto Geld liehen. »Da hättet ihr sehen können, wie manches schöne Gold- und Silbergerät zum Palaste des Herzogs von Venedig getragen wurde, um Bezahlung zu leisten«,51 berichtete Villehardouin selbstrechtfertigend. Dennoch fehlten weitere 34.000 Mark an der vereinbarten Summe – neun Tonnen Silber. Die Barone erklärten dem Dogen, dass sie nicht mehr aufbringen konnten.

Für Venedig und Dandolo wurde die Lage allmählich kritisch. Der Doge hatte persönlich das Abkommen ausgehandelt; nun musste er die Krise beilegen. Er sah sich gezwungen, die Lage vor dem Rat und anschließend vor der Kommune darzulegen. Es herrschte eine gereizte Stimmung; die ganze Stadt hatte das Unternehmen unterstützt, und für jeden stand etwas auf dem Spiel. Venedig drohte der Bankrott, und die Venezianer waren aufgebracht. Die Zeit verstrich; bald würde es für dieses Jahr zu spät sein, in See zu stechen, dann würde sich das Heer auflösen. Zudem beherbergte Venedig 12.000 bewaffnete Männer, die zunehmend unruhig wurden. Mit der Weisheit seiner neun Lebensjahrzehnte und den Erfahrungen der venezianischen Geschichte im Hintergrund, entwarf Dandolo zwei Optionen: Sie konnten die 51.000 Mark behalten, die bereits bezahlt worden waren, und das Projekt abblasen. Aber, so fürchtete er, »es würde nicht in allen Landen gesagt werden, dass dies unser Recht sei, und wir könnten deshalb großen Tadel empfangen, wir und unser Land«52. Sie konnten den Kreuzfahrern aber auch die Schulden stunden, und für diese Lösung entschied er sich: »Ihr Herren«, sagte er, »wenn wir diese Leute nach Hause zurückkehren lassen, wird man uns auf immer für schlechte und unredliche Leute halten. Lasst uns zu ihnen gehen und ihnen sagen, dass sie, wenn sie uns die sechsunddreißigtausend [sic] Mark, die sie uns schulden, von den ersten Eroberungen, die sie machen und von denen sie ihren Teil haben werden, zahlen wollen, dann wollen wir sie über das Meer bringen.«53 Die Venezianer stimmten diesem Vorschlag zu, und Anfang September wurde er den Kreuzfahrer unterbreitet:

»Als die Kreuzfahrer das hörten, was der Herzog gesagt hatte, waren sie sehr glücklich und fielen zu seinen Füßen nieder und versprachen ihm aufrichtig, bereitwillig das zu tun, was er vorgeschlagen hatte. Sie gaben sich in dieser Nacht großer Freude hin und es gab keinen, der so arm war, dass er nicht eine Festbeleuchtung machte. Sie trugen auf den Spitzen ihrer Lanzen große Fackeln von Kerzen um ihre Zelte und in sie hinein, sodass es schien, als ob das ganze Heer in Flammen stehe.«54

Von Venedig aus betrachte, erschien der Lido wie eine Lichterkette.

Wahrscheinlich am Namenstag der Jungfrau Maria, dem 8. September, versammelte sich eine große Zahl von Venezianern, Kreuzfahrern und Pilgern im Markusdom zu einer Messe. Vor dem Gottesdienst stieg Dandolo auf die Kanzel und hielt eine bewegende Rede an die Zuhörer:

»Ihr Herren! Hier sind wir für die höchste Sache, die es gibt, vereint mit den edelsten Leuten, die in der ganzen Christenheit leben. Ich bin ein alter Mann und schwach an Körper und verstümmelt und bedürfte vor allem der Ruhe. Aber ich sehe niemand in unserem Volke, der es besser verstände als ich, euch zu lenken und im Kriege anzuführen. Wenn ihr genehmigen wollt, dass mein Sohn im Lande bleibt statt meiner, um es zu bewachen und zu regieren, so würde ich jetzt das Kreuz nehmen und mit euch ausziehen, zu leben oder zu sterben, wie Gott es mir bestimmt hat.«55

Das Volk jubelte in einhelliger Zustimmung: »Wir genehmigen es, und wir bitten Euch bei Gott, lieber Herr, dass Ihr das Kreuz nehmt und mit uns auszieht.«56 Der Anblick des blinden, neunzigjährigen Dogen, der zweifellos am Ende seines Lebens stand und anbot, sich dem Kreuzzug anzuschließen, beeindruckte die Leute zutiefst: »Es wurde manche Träne geweint, weil der Herzog einen guten Vorwand gehabt hätte, zu bleiben, denn er war ein alter Mann, und wenn er auch schöne Augen in seinem Kopfe hatte, so sah er doch nicht das Mindeste«,57 berichtete Villehardouin. Dandolo stieg von der Kanzel herab und wurde mit Tränen in den Augen vor den Hochaltar geleitet; dort kniete er nieder, und das Kreuz wurde vorn an seinen Dogenhut geheftet, »denn er wollte, dass alle es sähen«.58 Dies motivierte die Venezianer, die anfingen, »in sehr großer Schar das Kreuz zu nehmen … und sie wurden von großer Rührung erfasst wegen der großen Güte, die sie am Herzoge sahen«.59 Mit einem Schlag hatte sich der alte Doge an die Spitze des Kreuzzugs gestellt. Nun wurden die Vorbereitungen beschleunigt, damit die Flotte doch noch in diesem Jahr auslaufen konnte.

Doch es gab einiges, was die frommen Pilger nicht erfuhren. Neben der Vereinbarung, den Kreuzfahrern die Schulden zu stunden, »bis der Herr uns erlaubt«,60 mit ihnen zusammen gemeinsame Eroberungen zu machen, gab es weitere geheime Absprachen, welche die Entwicklung des Unternehmens maßgeblich bestimmen sollten. Um sicherzustellen, dass Venedig trotz des Zahlungsaufschubs einen konkreten Nutzen haben würde, hatte sich Dandolo einen geschickten Plan zurechtgelegt, den er schließlich den Heerführern eröffnete. Dieser Plan war mit den geopolitischen Interessen Venedigs in der Adria verbunden und bezog sich speziell auf die Stadt Zara an der dalmatinischen Küste. Dass die Venezianer dieses Meer beherrschten und Handelsbeschränkungen und Zollabgaben durchsetzen konnten, ärgerte die Dalmatiner. Zara, »eine außerordentlich reiche Stadt … am Meer gelegen«,61 hatte sich immer wieder gegen die venezianische Übermacht aufgelehnt und seit dem Kriegszug des Dogen Orseolo im Jahr 1000 mehrmals seine Unabhängigkeit zu erlangen versucht. Im Jahr 1181 hatte Zara wieder einmal das venezianische Joch abgeschüttelt und einen Beistandspakt mit dem ungarischen König geschlossen. Dieses Muster wiederholte sich mehrmals. Nach Ansicht der Venezianer brachen die Zarenser ihren Treueid; schlimmer noch war, dass sie mit Pisa, dem großen Konkurrenten Venedigs in der Adria, gemeinsame Sache machten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Dandolo von vornherein die Absicht hatte, auf dem Weg durch die Adria mit seiner Flotte die unbotmäßigen Zarenser zur Räson zu bringen, doch hinter verschlossenen Türen hatte er den Heerführern erklärt, dass es schon zu spät im Jahr sei, um noch in den Osten aufzubrechen; wenn sie ihm halfen, Zara zu unterwerfen, würde die Stundung der Schulden von Venedig leichter zu akzeptieren sein. Da anderenfalls der Kreuzzug scheitern musste, erklärten diese sich damit einverstanden.

Dieser Plan warf in theologischer Hinsicht gravierende Probleme auf. Auf seiner ersten großen Zwischenstation sollte das Kreuzheer eine andere christliche Stadt erobern. Schlimmer noch war, dass deren neuer Oberherr, Emico von Ungarn, ebenfalls das Kreuz genommen hatte. Dadurch würde ein anderer Kreuzfahrer angegriffen werden. Zwar hatte Emico bislang nicht erkennen lassen, dass er sich tatsächlich persönlich dem Kreuzzugsheer anschließen wolle – nach Einschätzung der Venezianer hatte er sich lediglich deshalb um päpstliche Rückendeckung bemüht, um sich vor Vergeltungsmaßnahmen zu schützen –, aber dennoch hatte das geplante Vorgehen den starken Beigeschmack einer Todsünde. Darüber hinaus war Papst Innozenz bereits von Emico auf eine solche Möglichkeit aufmerksam gemacht worden und hatte Dandolo die ausdrückliche Warnung zukommen lassen, »das Land dieses Königs in keiner Weise zu verletzen«.62 Doch Dandolo brachte den päpstlichen Legaten Peter Capuano schnell zum Verstummen, indem er ihm untersagte, die Flotte als offizieller Sprecher des Papstes zu begleiten. Der etwas verloren wirkende Kirchenmann segnete daraufhin den Kreuzzug, brachte erneut seine Vorbehalte zum Ausdruck und reiste zurück nach Rom. Innozenz verfasste ein weiteres Warnschreiben. Seine ursprünglichen Befürchtungen bezüglich der verschlagenen Venezianer schienen sich in vollem Umfang zu bewahrheiten. Im sich versammelnden Kreuzfahrerheer machte das Gerücht die Runde, dass das erste Ziel eine christliche Stadt sein solle, und Bonifatius von Montferrat, der formelle Oberbefehlshaber der Kreuzzugsarmee, nutzte einen Vorwand, um am ersten Abschnitt der Seereise nicht persönlich teilzunehmen; anscheinend wollte er nicht eingebunden werden in die Durchsetzung der politischen Ziele Venedigs, doch mittlerweile stand das gesamte Kreuzzugsunternehmen auf des Messers Scheide: Entweder man zog nach Zara oder das Heer würde sich auflösen.

Nun wurden die Vorbereitungen beschleunigt vorangetrieben. Anfang Oktober wurden Belagerungsmaschinen, Waffen, Lebensmittel, Fässer mit Wein und Wasser an Bord der Schiffe getragen, gehievt oder gerollt; die Schlachtrösser der Ritter wurden schnaubend über die Rampen der Lastschiffe geführt und in Lederschlingen gelegt, sodass sie sich dem Wogen der See anpassen konnten; dann wurden die Türen abgedichtet, »so wie man ein Fass abdichtet, denn wenn das Schiff auf hoher See ist, befindet sich die gesamte Tür unter Wasser«.63 Tausende Fußsoldaten, von denen viele noch nie auf dem Meer gewesen waren, wurden auf den Truppentransportern unter Deck in dunklen, engen Verschlägen zusammengepfercht; die venezianischen Ruderer nahmen ihre Plätze auf den Ruderbänken der Kriegsgaleeren ein; der blinde Dandolo wurde an Bord seines Prachtschiffes geführt; dann wurden die Anker gelichtet, die Segel gesetzt und die Taue gelöst. Die Geschichte Venedigs verdichtete sich immer in jenen Momenten, in denen es zu seinen großen maritimen Unternehmungen aufbrach, doch nichts übertraf den glanzvollen Aufbruch zum vierten Kreuzzug. Und keines dieser Unternehmen sollte den Aufstieg der Republik zu imperialer Größe stärker und nachhaltiger beeinflussen. In der Folge wurde Venedig zu einer Macht, deren Fähigkeiten zur See im Mittelmeerraum ihresgleichen suchten.

Für die aus dem Binnenland stammenden Ritter war es ein atemberaubendes Schauspiel. »Niemals, an keinem Tage, brach aus irgendeinem Hafen ein schöneres Geschwader auf«,64 schwärmte Villehardouin. »Es schien, als erstrahle das ganze Meer im Licht funkelnder Schiffe.«65 Für Robert de Clari war es »der prächtigste Anblick seit Beginn der Welt«. Hunderte Schiffe fuhren mit geblähten Segeln durch die Lagune; ihre Fahnen und Wimpel flatterten im Wind. Aus der Armada stachen einige Segelschiffe heraus, die mit großen Aufbauten versehen waren und mit ihren hohen Vorderdecks wie Türme aus dem Meer aufragten; alle waren mit den Wappenschilden und Standarten der jeweiligen Barone versehen als Zeichen ihrer Macht und Größe. Die Namen einiger dieser Schiffe sind überliefert: das Paradies und die Peregrina, auf denen die Bischöfe von Soissons und Troyes reisten, die Violeta und die Adler. Die schiere Höhe dieser Schiffe sollte bei den kommenden Ereignissen eine wichtige Rolle spielen. Auf den Decks standen dicht gedrängt die Kreuzritter in ihren Waffenröcken mit den Kreuzen ihrer jeweiligen Nation – grün für Flandern, rot für Frankreich. Die venezianische Galeerenflotte wurde vom Schiff des Dogen angeführt, das purpurrot gestrichen war, auf dem Dandolo unter einem purpurroten Baldachin saß, »und vier silberne Trompeten wurden vor ihm geblasen und Zimbeln machten großen Lärm«.66 Eine gewaltige Geräuschkulisse legte sich über die panoramaartige See. »Die Priester und Kleriker stiegen auf die Kastelle der Transportschiffe und sangen das Veni creator spiritus. Alle, hoch und niedrig, vergossen Tränen der Freude und der Rührung … Denn da waren wohl hundert Trompetenpaare aus Silber oder aus Bronze, die bei der Abfahrt erschollen, und ebenso viele Pauken und andere Instrumente, dass es ein reines Wunder war.«67 Unter diesem triumphalen Spektakel und begleitet vom Erwachen aufgestauter religiöser Gefühle passierte die Kreuzfahrerflotte die Mündung der Lagune, fuhr an der Kirche San Nicolo vorüber und zu den äußeren Inseln des Lido, die so viele Monate ein Gefängnis gewesen waren, und zog dann hinaus in die Adria.

Doch in diesen pompösen Aufbruch mischten sich auch unbehagliche Töne. Die Violeta sank kurz nach der Abfahrt. Viele Kreuzfahrer hegten tiefe Zweifel, ob es gerechtfertigt sei, das christliche Zara anzugreifen; weit entfernt in Rom saß Papst Innozenz und verfasste ein Schreiben, das jeden Kreuzfahrer mit der Exkommunikation bedrohte, der sich daran beteiligen würde. Und die fehlende Summe von 34.000 Mark sollte die Expedition bis zur Küste von Griechenland verfolgen.

Venedig erobert die Welt

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