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Vorausblickend denken

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In allen Bereichen des Lebens muss man die Schwelle erkennen, ab der man zu sich selbst sagt: „Das ist jetzt genug. Alles darüber kostet mich etwas und birgt sogar Gefahren.“ Diesen Punkt sollte man nicht übersehen. Darum mag ich das Motorradfahren, denn dabei führt das Hinausschießen über Grenzen unmittelbar zu einer Rückkopplung: Schmerzen. Ich fuhr Motocross und Endurorennen, also im Gelände, aber auch auf asphaltierten Rennstrecken. Das Motorrad hat bekanntlich zwei Räder und es fällt um, wenn man es irgendwo abstellt. Es stabilisiert sich in Bewegung durch die Kreiselkräfte, die dabei entstehen. Du bist mit deinem Motorrad ein Gesamtsystem in labilem Gleichgewicht und diese Balance gilt es auch in Kurven zu halten, obwohl die Fliehkräfte ja dagegen arbeiten. Man fährt also in eine Kurve und das einzige, das einen Sturz verhindert, ist der Grip zwischen Boden und Reifen. Je schlechter der Asphalt oder der Reifen, desto schlechter der Grip und desto eher liegst du auf der Nase, oder zumindest am Hintern. Die Reifen haben beim Motorradfahren über eine runde Auflagefläche Kontakt zur Straße. Wenn du dich so richtig in die Kurve hineinlegst, wird diese Kontaktfläche immer kleiner, bis irgendwann nur mehr eine ganz schmale Kante von zwei oder drei Millimetern aufliegt und der Rest des Reifens vom Asphalt abgelöst ist. In Schräglage entscheiden dann diese wenigen Millimeter Gummi, ob es dich vom Motorrad herunterreißt oder nicht. Da braucht man wirklich Gefühl im Hintern. Man muss wissen, wann es genug ist, wann man „runter vom Gas!“ sagen muss.

Unter Motorradfahrern gibt es einen Spruch, der lautet: „Besser viel zu langsam als ein bisschen zu schnell“. Wenn man das nicht einhält, kann es wehtun. Mit einem Rennauto ist das nicht mehr so, da bist du ja nicht Teil eines Gleichgewichtssystems, sondern nur die Steuereinheit. Beim Fahren tut sich dann deutlich weniger und Fehler führen zu geringeren negativen Rückkopplungen. Schlitterst du mit einem Auto auf einer Rennstrecke aus der Kurve, fährst du in den Sturzraum, eine Schotterfläche, und kommst vermutlich ungeschoren davon. Mit einem Motorrad tut das hingegen richtig weh und ab dem Moment, in dem du am eigenen Leib erfahren hast, dass Motorradfahren wehtun kann, verhältst du dich ganz anders. Der, der nicht dazulernt und das eigene Verhalten am Motorrad ändert, spielt mit seinem Leben oder trägt womöglich bleibende Schäden davon.

Im Leben wollen wir – im übertragenen Sinne – diese Grenzbereiche nicht wahrnehmen. Oft können wir es auch nicht, muss man fairerweise dazu sagen. Wir spüren im Leben die unmittelbaren negativen Rückkopplungen nicht, die uns das Motorrad ohne Zeitverzögerung übermittelt. Wenn du mit dem Motorrad in eine Kurve hineinfährst, spürst du, wenn es über das Vorderrad zu rutschen anfängt. Bei vielem, das wir im Leben tun, wenn wir über das Ziel hinausschießen, bekommen wir zuerst sogar eine positive Rückkopplung und keine negative. Das Abreißen des Grips passiert dann nicht wie auf dem Motorrad „jetzt“, sondern zeitverzögert, irgendwann später. Der Sturz, der Crash, passiert also erst in der Zukunft.

All das, was wir seit den Siebzigerjahren ansteuern – seit diese Statistik gemacht wurde, die wir uns gerade angesehen haben –, bringt uns zunächst positive Rückkopplungen: Mehr Geld, mehr Waren, immer alles sofort verfügbar haben, alle Möglichkeiten ausschöpfen, noch höher bauen, Autos noch schneller werden lassen, noch schwerer; immer mehr, mehr, mehr. Da bekommt man vielleicht sogar 50 Jahre lang lauter positive Rückkopplungen und erst spät merkt man: „Hoppla, wir haben etwas übersehen. Wir sind über das sinnvolle Maß hinausgeschossen.“ Die Folgen unseres Verhaltens, das wir in den letzten Jahrzehnten an den Tag gelegt haben, spüren wir ja jetzt noch nicht. Wir denken nur darüber nach, was passieren könnte, das ist aber eine virtuelle Geschichte. Ob beispielsweise wir beide überhaupt noch die wahren Folgen spüren werden, das wissen wir nicht. Unsere Nachfahren, die nächsten Generationen, die Kinder, die Enkel, die Urenkel, werden sie ganz bestimmt spüren. Für uns, kurzfristig gedacht, gibt es relativ wenige Gründe, unser Handeln zu verändern. Es ist so, als würden wir mit einem Motorrad fahren und fahren und fahren und dabei wissen, dass es ohnehin nicht dich aus dem Sattel reißen wird, sondern erst den nächsten, der aufsitzen wird. Genau das ist das Traurige an gesellschaftlichen Diskussionen, wenn es zum Beispiel um den Klimawandel und ähnliche Probleme geht. Nehmen wir als Beispiel den CO2-Ausstoß: Wie viele Kilogramm an CO2 ich ausstoße, kann ich nicht einmal sehen. Ich erhalte diesbezüglich keine unmittelbare Rückkopplung. Wie soll das unser Gehirn verstehen? Es begreift den Schaden nicht, den wir anrichten.

Ein anderes Beispiel: Wenn ich auf meinem Acker eine Missernte verzeichnen muss, vielleicht wegen einer Überschwemmung oder weil der Frost kommt, dann stehe ich davor und sehe es: „Jetzt ist jetzt passiert!“ Und ich weiß: „Jetzt bin ich in einer schlimmen Situation, jetzt muss ich schauen, dass ich überlebe. Jetzt!“ Momentan scheint für uns noch alles zu funktionieren. Wo gibt es Probleme mit der Umwelt? Ich blicke in meinen Garten hinaus und kann die Frage stellen: „Wo bitte läuft da in unserer Umwelt etwas falsch?“

Natürlich können wir derzeit auch nicht zu hundert Prozent sicher sein, dass alles, was Experten zum Beispiel über den Klimawandel sagen, wirklich stimmt. Wir wissen es nicht genau – auch die vielen Zukunftsforscher nicht, die sich ausrechnen, wie es im Jahr 2050 um das Klima stehen wird, und die schon jetzt voraussagen, um wie viel der Meeresspiegel steigen wird, die Gletscher abschmelzen werden, es hier Dürre, dort Überschwemmungen geben wird. Das ist nichts weiter als Kaffeesatzlesen. Keiner der Zukunftsforscher weiß, wie sich Menschen verhalten werden. Sie können nicht wissen, wie wir uns letztendlich verändern werden und ob wir nicht innerhalb von zehn Jahren vieles ganz anders machen werden. Vielleicht werden wir bis dahin vor gänzlich anderen Problemen stehen und der Klimawandel wird uns vollkommen egal sein, weil dann ganz unerwartet ein Virus auftauchen wird, oder wir dahinterkommen werden, dass irgendetwas in unsere Umwelt gelangt ist, das die Kinder so richtig krank machen wird. Eigentlich sind wir ohnehin schon fast so weit, wenn ich an all die zigfach geimpften Kinder denke, die Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten haben, während sich niemand fragt: „Warum ist das so?“ Oder man will es nicht sehen, und manche wissen vielleicht sogar, warum, verdienen aber Geld mit Pharmazeutika und Impfstoffen. Wenn das so ist, dann weiß ich: Da läuft etwas komplett schief.

Ich glaube, auf der sichtbaren Ebene – damit meine ich die mit unseren Sinnen wahrnehmbare – scheint ja alles gut. Alles wächst, alles gedeiht, die Städte werden immer zahlreicher, die Siedlungen größer, Einkaufszentren entstehen. Du hast mehr und mehr Möglichkeiten, die Autos werden besser, werden sicherer und alles wird einfacher. Kommunizieren ist durch das Mobiltelefon leichter geworden, im Januar kann ich Erdbeeren kaufen, bin mit 20 Milchsorten versorgt, und so weiter. Auf dieser Ebene ist alles wunderbar, und dennoch dürfte der Mensch noch andere Sensoren haben, die uns bereits sagen, dass da irgendetwas nicht stimmt, dass da irgendetwas außer Balance ist – dass sich der Sturz schon drei Kurven zuvor ankündigt, du aber ohnmächtig bist, etwas dagegen zu unternehmen, weil es dein Betriebsmodus jetzt einfach nicht zulassen will.

Das ist, so glaube ich, auch der Grund, weshalb viele Leute nicht glücklich sind. Sie holen sich dieses kurze Gefühl des Glücklichseins immer irgendwo, wofür es ja zahlreiche Angebote gibt. Sie sind aber im Innersten unzufrieden und leiden. Das äußert sich dann meistens in körperlichen Reaktionen, Krankheiten, psychischen Störungen, Depressionen oder Burn-out … wie auch immer man es nennt. All das muss einen Grund haben. Es muss einen Grund haben, warum so viele nur mehr auf hundertachtzig sind und eigentlich nicht mehr belastbar.

Mir begegnen immer mehr Menschen, die sagen: „Dies muss sich ändern, jenes kann so nicht weitergehen. Das ist ja alles nur mehr Wahnsinn.“ Ich war neulich mit meiner Mutter bei ihrer Bank, weil sie da etwas zu erledigen hatte und mich dabeihaben wollte, um ihr zu helfen. Wir trafen ihre Bankbetreuerin, die ich persönlich nicht kannte – eine nette Dame. Wir plauderten ein wenig, dann sagte sie einiges, was ich mir von einer Bankangestellten nicht erwartet hätte: „Das gesamte System ist außer Rand und Band“, meinte sie. „Es wird alles zusammenbrechen, das geht so sicher nicht weiter, und es muss sich etwas ändern. Wir müssen erkennen, was wirklich einen Wert hat, und was nicht.“ Diese Frau steckt mitten im System, arbeitet bei einer Bank und verkauft Finanzprodukte. Sie weiß genau, was „los ist“, spürt die Probleme. Sicher gibt es auch viele Menschen, die diese Alarmsensoren nicht haben und die sich denken: „Ach, das wird schon alles gut gehen.“ Auch wenn du zum Beispiel merkst, dass dein Körper nicht mehr so funktioniert, wie er funktionieren sollte, dann sagst du vielleicht: „Ach was, das vergeht schon, das stecke ich schon weg.“ Du willst es nicht wahrhaben.

Erst seit ich selbst mehr Ruhe gefunden und mehr Zeit habe, ist es mir möglich, unser Treiben etwas mehr von außen zu beobachten. Ich bin sozusagen in einem anderen Modus. Nicht nur ich bin das, es sind bereits viele Menschen, die kritisch beobachten und sich denken: „Es läuft etwas falsch.“ Ich wundere mich nicht mehr darüber, wenn ich in einer Zeitung einmal eine Headline sehe, in der steht: „Amokläufer …!“ Ich bin regelrecht dankbar dafür, dass es nur so wenige sind, die Amok laufen. Gründe zum Amoklauf bietet unsere Welt ja genügend. Ich befürchte, dass viele Menschen knapp davor stehen, irgendwann einmal auszurasten, weil sie einfach unter ständigem Druck stehen.

Leb wohl, Schlaraffenland

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