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Was ist Selbstverwirklichung?

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Clemens G. Arvay: Die Selbstverwirklichung ist offensichtlich ein sehr wichtiges menschliches Bedürfnis. Wir möchten uns in unserem Leben selbst verwirklichen, unser Wesen entfalten und das umsetzen, was wir als unseren inneren Auftrag empfinden. Gleichzeitig stehen aber viele vor dem Problem, dass in der Gesellschaft ein immenser Anpassungszwang herrscht. Anders zu sein bedeutet auch – und oft geht es dabei nur um Äußerlichkeiten –, nicht akzeptiert zu werden. Die Selbstverwirklichung hat ja etwas mit Individualität zu tun, scheitert aber daran, dass eben dieses „Individuell-sein“, dieses Anderssein, in vielen Fällen gesellschaftlich gar nicht respektiert wird. Was sind deine Erfahrungen mit dem Anderssein? Welche Steine werden einem da in den Weg gelegt?

Roland Düringer: Bei der Selbstverwirklichung muss man meines Erachtens etwas vorsichtig sein, damit daraus kein Egotrip entsteht. Sich selbst zu verwirklichen darf nicht dazu führen, dass einem alle anderen egal sind. Wir leben ja in gewisser Weise in einer Zeit der Selbstverwirklicher. Es gibt Menschen, die sich uneingeschränkt selbst verwirklichen, weil sie die Möglichkeiten dazu haben und es auch tun. Manche gehen dabei buchstäblich über Leichen.

Um mich selbst zu verwirklichen muss ich erst einmal das Selbst finden. Ich muss zuerst wissen: Was oder wen möchte ich verwirklichen? Ist es tatsächlich mein Selbst, das ich verwirkliche, oder will ich bloß mein Ego ausleben? Das Selbst zu verwirklichen ist viel schwieriger. Mit den üblichen Mitteln, die uns heutzutage meistens zur Verfügung stehen, funktioniert das oft nicht. Damit kannst du das Ich sehr leicht verwirklichen. Das Selbst jedoch – also das, was du eigentlich tief im Inneren bist, dieses Sein, das du in dir trägst und das in dir lebt –, das braucht im Grunde nur wenig zur Verwirklichung. Eben deswegen, weil es so wenig braucht, ist es so schwer zu finden. Was wenig braucht, muss nämlich nur selten seine Deckung verlassen.

Ich erinnere mich daran, schon als Kind und in der Schule etwas anders als die meisten meiner Kollegen funktioniert zu haben. Ich hatte aber das Glück, bald Menschen kennengelernt zu haben, die ebenfalls anders waren. Ihnen war ihr Anderssein völlig egal und ich durfte dadurch sehr viel von ihnen lernen. Mein Mentor, der Schauspieler Herwig Seeböck, war einer von ihnen und ein immens wichtiger Begleiter. Ich kann es mir heute glücklicherweise leisten, anders zu sein. Ich kann es mir leisten, Kugeln im Bart zu tragen, was manche Menschen aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsumstände nicht können. Sehr viel, was in letzter Zeit, seit ich meinen Selbstversuch „Gültige Stimme“ mache, über mich gesprochen wird, dreht sich um diese Kugeln in meinem Bart. So etwas scheint für die Leute bedeutend zu sein: „Der hat ja Kugeln im Bart! Das schaut doch blöd aus!“ Oder: „Kugeln, oh! Wer macht denn so etwas?“. Weshalb sind uns solche Äußerlichkeiten so wichtig?


„Meine Bartkugeln scheinen die Menschen am meisten zu irritieren und oft sogar zu stören. Weshalb legen wir solchen Wert auf Äußerlichkeiten?“

Ich glaube, das äußere Erscheinungsbild von Menschen ist uns so wichtig, weil wir einfach gelernt haben, für die anderen zu leben. Wir opfern unser Lebensglück den anderen, selbst denen, die wir gar nicht so schätzen. Wir spielen uns einander ständig etwas vor, möchten anerkannt, akzeptiert, lieb gehabt werden. Deswegen wollen wir nicht unangenehm auffallen. Dass aber, würden wir eines Tages einmal alle auffallen, kein einziger Mensch mehr auffällig wäre, übersehen wir dabei. Dass wir nach Anerkennung suchen, könnte man auch positiv bewerten. Ich persönlich sehe es aber als negativ. Brauche ich wirklich die Bestätigung durch jemand anderen, um zu wissen, wer oder was ich eigentlich bin?

Mit meinem Anderssein bin ich ohnehin ständig konfrontiert.

Mit meinem Beruf ist man schon einmal anders. Man steht unter Beobachtung, fällt auf, wenn man die Straße entlanggeht. Dabei geht es mir gar nicht darum, anders zu sein. Ich bin ebenso ein Kasperl wie alle anderen Menschen auch und versuche lediglich, andere Wege zu gehen. Das Problem ist, dass man gar nicht erst anders sein muss, um Irritation auszulösen. Es reicht, wenn man bestimmte Dinge anders tut.

Clemens G. Arvay: In der Onlineausgabe der Tageszeitung „Die Presse“ erschien am 12.05.2013 ein Interview mit dir. Unter der Schlagzeile „Aussteiger Roland Düringer sucht das gute Leben“ erzähltest du über deinen schrittweisen „Ausstieg aus den Systemen“. Davon angeregt verfasste eine Leserin einen Kommentar, wo sie über dich schrieb: „Der Mann hat es scheinbar nicht geschafft, erwachsen zu werden. Gut, er ist offensichtlich in der zweiten Pubertät […].“

Die Dinge anders zu machen zieht immer wieder Ablehnung, fast möchte ich sagen: Gehässigkeiten, an. Was sagst du zu dem Kommentar?

Roland Düringer: Diese Frau hat aus ihrer Sicht recht. Sie sieht die Dinge so und konnte gar nicht anders reagieren als mit diesem Kommentar. Ihr Gehirn funktioniert so und aus ihrer Perspektive ist das vollkommen richtig. Und stelle dir vor: Die meisten Menschen haben in ihrem Leben nur eine Pubertät. Ich habe – laut dieser Dame – eine zweite. Vielleicht kommt auch noch eine dritte auf mich zu, das ist doch herrlich, nicht wahr? Es bedeutet, dass man sich verändert, man verwandelt sich. Ich könnte jetzt aus diesem Kommentar den Schluss ziehen, dass die Dame sehr unter ihrer Pubertät litt, dass dies vielleicht keine schöne Zeit für sie war. Meine Pubertät war eigentlich lustig, da hat sich viel abgespielt, das war „leiwand“, wie man in Wien sagt, also es war so richtig lässig. Wir Jugendlichen machten viele Erfahrungen, probierten Dinge aus. Die Pubertät war für mich eine richtig spannende Zeit. Ich könnte aus dem Kommentar aber auch schließen, dass diese Dame eine wunderschöne Pubertät hatte und die Sehnsucht nach einer zweiten verspürt. Vielleicht ist sie neidisch darauf, dass da jemand eine zweite Pubertät erlebt und sie nur eine hatte. Aber noch einmal: Sie konnte nicht anders, als diesen Kommentar zu verfassen. Offenbar war es ihr wichtig.

Wir machen Beobachtungen, die mit unserem eigenen Weltbild, also mit unserer Art zu leben, nicht wirklich kompatibel sind, und dann ist es oft der einfachere Weg, die Menschen, die es anders machen als man selbst, zu verurteilen oder zu bewerten. Auch ich kenne das und erwische mich immer wieder beim Verurteilen, wenn jemand nicht so ist, wie ich es für richtig halte. Leider viel zu oft. Überall geschieht es, dass Menschen einander verurteilen. Veganer bezeichnen zum Beispiel diejenigen, die Fleisch essen, oft als „Fleischfresser“ oder „Leichenfresser“. Menschen, die nicht vegan leben, werden also abgewertet. Es ist etwa so, als würde ein Mensch von sich behaupten, er sei ein ganz besonders spiritueller Mensch und deswegen fährt er mit dem Fahrrad – weil er so spirituell ist. Dann sieht er vielleicht jemanden auf der Straße in einem Auto sitzen – in einem Sportwagen zum Beispiel – und denkt: „Schau, der ist nicht so spirituell wie ich, denn er trägt keine Sandalen, so wie ich, und der fährt auch nicht mit dem Fahrrad und hat auch nicht so ein indisches Tuch umgehängt, wie ich es habe. Dieser Mensch ist überhaupt nicht spirituell.“ Das ist dann eine Vorverurteilung. Vielleicht ist der, der im Sportwagen sitzt, tausendmal spiritueller als ein anderer, der sich für besonders spirituell hält, nur, weil er sich entsprechend verkleidet.

Man muss sehr darauf achten, Menschen nicht zu verurteilen. Wenn mir das passiert, sage ich zu mir selbst: „Hey, hey! Halt! Der kann nicht anders, so dumm es mir auch erscheint, was er da tut, aber in seiner jetzigen Situation geht es für ihn einfach nicht anders.“ Ich zügle mich dann, um ihn nicht zu verurteilen, sondern ihn vielleicht sogar zu unterstützen und ihm Alternativen aufzuzeigen. Ob er diese annimmt oder nicht, ist letztendlich seine eigene Entscheidung. Ich kann lediglich über alternative Wege berichten und sagen: „Schau, mir geht es super damit.“

Clemens G. Arvay: Und doch scheint – das kann man zumindest aus dem Kommentar der Leserin herausfiltern – das „Erwachsensein“ irgendetwas mit „sich angepasst haben“ zu tun zu haben. Als erwachsen gilt in unserer Gesellschaft offenbar nur, wer sich möglichst restlos angepasst und vielleicht sogar einen Teil von sich dadurch abgedreht, abgestellt hat.

Roland Düringer: Ja, dieser Teil wird ihm abgestellt. Kein Kind kommt auf die Welt und sagt: „So, jetzt stelle ich viel von dem, was mir gut tut, ab und möchte mich anpassen.“ Das muss man einem Kind erst mühevoll beibringen und dafür haben wir ein eigenes System, wir nennen es das „Bildungssystem“. Es ist aber in Wirklichkeit ein Ausbildungssystem. Dort beginnt eigentlich schon das Abrichten von Systemidioten. Der Schrei nach mehr für unsere Bildung, zumeist nach mehr Geld, wird am Grundproblem nicht viel ändern. Wir sollten vielmehr die Lehrer dazu anhalten, nicht Fächer und Gegenstände, sondern endlich die Menschen zu unterrichten.

Leb wohl, Schlaraffenland

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