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Wheaton und Berlin (1966)
ОглавлениеIm April 1966 versammelten sich knapp 1000 Delegierte in Wheaton, in den Vereinigten Staaten, zu einem bedeutenden Missionskongress. Es war die Zeit, in der Billy Graham der evangelikalen Bewegung durch seinen Dienst neuen Aufschwung gab. In seiner Person repräsentierte sich die so genannte neue evangelikale Bewegung, die sich aus dem Pessimismus des Fundamentalismus hatte lösen können und durch ihre Weltoffenheit Kräfte für die Evangelisation freisetzte. In Wheaton stand die Evangelisation im Vordergrund des missionarischen Auftrags. Gleichzeitig wurde bedauert, dass man sich zu wenig um soziale Fragen gekümmert hatte. In der Wheaton-Erklärung heißt es:
Wir haben schlimm gesündigt. Wir sind einer unbiblischen Isolation von der Welt schuldig geworden, die uns nur zu oft davon abgehalten hat uns ehrlich mit den Angelegenheiten der Welt zu befassen … Während die Evangelikalen im 18. und 19. Jahrhundert führend in der sozialen Verantwortung waren, haben viele im 20. Jahrhundert die biblische Perspektive verloren und sich einzig darauf beschränkt, ein Evangelium der individuellen Erlösung zu predigen ohne sich genügend ihrer sozialen und gemeinschaftlichen Verantwortung hinzugeben. (Wheaton Declaration 1966)
Diese Passage macht deutlich, dass das soziale Gewissen der Evangelikalen erwacht war. Man wollte an das sozialethische Erbe der frühen evangelikalen Bewegung anknüpfen und Versäumtes aufholen. Dieses Bestreben war zu einem beträchtlichen Teil dem Einfluss der Delegierten aus der Zwei-Drittel-Welt zu verdanken. Das ist erstaunlich, denn aus Afrika, Asien und Lateinamerika nahmen nur etwa 50 Personen am Kongress teil.1
Im selben Jahr fand in Berlin ein Weltkongress über Evangelisation statt. An diesem Kongress begannen erstmals Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt Kritik am Westen zu üben und der Westen verschloss sich dieser Kritik nicht (Steuernagel 1988, 99). Zum ersten Mal konnte davon gesprochen werden, dass die Teilnehmer aus dem Westen und aus den übrigen Ländern als gleichberechtigte Partner teilnahmen, und zum ersten Mal erkannte man, wie wichtig der Beitrag dieser Länder für die Weltevangelisation ist (Johnston 1984, 158).
Der Kongress in Berlin befasste sich nur am Rande mit der sozialen Aufgabe. Billy Graham sprach sich für die Priorität der Evangelisation aus: „Die sozialen, psychologischen, moralischen und geistlichen Nöte und Bedürfnisse der Menschen werden zu einer brennenden Motivation für die Evangelisation. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Kirche einen viel größeren Einfluss auf die sozialen, moralischen und psychologischen Bedürfnisse der Menschen haben würde, wenn sie zu ihrer Hauptaufgabe zurückkehrte, das Evangelium zu verkündigen und Menschen zu Jesus Christus zu bekehren“ (Johnston 1984, 162–163).
Nach Wheaton und Berlin wurde die soziale Frage für die Evangelikalen zu einem wichtigen Thema. Am stärksten wurde sie in der Zwei-Drittel-Welt diskutiert. An einem Kongress über Evangelisation in Bogotá 19692 sagte Samuel Escobar: „Jede Evangelisation, die den sozialen Problemen keine Beachtung schenkt und die das Heil und die Herrschaft Christi nicht in dem Kontext verkündigt, in dem die Zuhörer leben, ist eine mangelhafte Evangelisation; sie verrät die biblische Lehre und folgt nicht dem Beispiel, das Jesus Christus, der uns als seine Botschafter hinaussendet, uns gegeben hat“ (Escobar 2002, 249).
Escobars Aussage unterscheidet sich von Billy Grahams Position dadurch, dass er die soziale Verantwortung nicht als bloße Brücke zur Evangelisation betrachtet. Er forderte, dass wir in der Evangelisation dem Beispiel Christi folgen. Escobar begründete die Zuwendung zur Welt christologisch und gab der sozialen Verantwortung damit einen eigenständigen Wert. Die Schlusserklärung des Kongresses zeigt, dass in Lateinamerika ein neues Verständnis von Kirche und Mission entstanden war:
Wir haben zusammen die Notwendigkeit erkannt, das christliche Leben in seiner ganzen Fülle zu führen und dem lateinamerikanischen Menschen das ganze Evangelium im Kontext seiner zahlreichen Bedürfnisse zu verkündigen … Der Prozess der Evangelisierung muss in konkreten menschlichen Situationen stattfinden. Soziale Strukturen beeinflussen die Kirche und diejenigen, die das Evangelium empfangen. Wo diese Tatsache nicht erkannt wird, wird das Evangelium verraten, und das christliche Leben verarmt. Für uns Evangelikale ist die Zeit gekommen, unsere soziale Verantwortung ernst zu nehmen. Dabei müssen wir auf ein biblisches Fundament bauen, zu welchem eine evangelikale Lehre sowie das konsequent weitergedachte und verwirklichte Beispiel Christi gehören. Das Vorbild Jesu Christi muss in der gefährlichen Situation Lateinamerikas, die von Unterentwicklung, Ungerechtigkeit, Hunger, Gewalt und Verzweiflung gekennzeichnet ist, inkarniert werden. Der Mensch ist nicht in der Lage, das Reich Gottes auf Erden zu bauen. Aber das Handeln der Evangelikalen wird zur Schaffung einer besseren Welt beitragen, die das Reich vorausahnen lässt, für dessen Kommen wir täglich beten. (Escobar 2002, 250–251)
Vereinzelt machten auch im Westen ähnliche Vorstöße von sich reden. 1973 fand in Chicago ein Treffen über die soziale Verantwortung der Evangelikalen statt.3 In der Chicago Declaration of Evangelical Social Concern bekannten sich die Teilnehmer der Vernachlässigung der sozialen Verantwortung schuldig – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Vietnamkrieges:
Wir bekennen, dass Gott Liebe verlangt. Wir aber haben die Liebe Gottes denen nicht gezeigt, die unter sozialer Ungerechtigkeit leiden … Wir haben Gottes Gerechtigkeit gegenüber der ungerechten amerikanischen Gesellschaft weder proklamiert noch gezeigt. Obwohl der Herr uns dazu aufruft, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Armen und der Unterdrückten zu verteidigen, haben wir überwiegend geschwiegen. (Chicago Declaration I 1985 [1973])
Die Chicago-Erklärung war bedeutsam, weil sie einen für westliche Verhältnisse unüblich selbstkritischen Ton anschlug. „Noch nie war der Ruf nach sozialem Engagement in so scharfen Worten laut geworden“ (Berneburg 1997, 69). Dass das Dokument breite Zustimmung fand – unter anderem bei Billy Graham – verdeutlicht die veränderte Atmosphäre unter den Evangelikalen hinsichtlich ihres Weltbezugs. Der Brasilianer Valdir Steuernagel (1988, 131) hält fest, dass seit Berlin nur wenige Jahre vergangen waren, „aber die Evangelikalen waren einen weiten Weg gegangen – von einer zurückhaltenden Zustimmung in Wheaton hinsichtlich der sozialen Verantwortung der Christen … zu einer Art von Evangelisation, die darauf ausgerichtet ist, das ganze Evangelium der ganzen Person zu bringen … wie es in Bogotá zum Ausdruck kam.“
Die Missionstheorie des evangelikalen Mainstreams fußte zu Beginn der 1970er Jahre zwar immer noch auf der traditionellen Begründung von Mt 28. Aber man war sich bewusst, dass Antworten gefunden werden mussten auf die Herausforderungen einer nachkolonialen, globalisierten Welt. Den evangelikalen Missionstheologen stand eine große Aufgabe bevor. Sie mussten biblische Antworten finden auf Herausforderungen, die sich der Mission so noch nie gestellt hatten. In Lausanne begann man sich dieser Aufgabe zu widmen und gab damit Raum für eine der größten missionstheologischen Veränderungen in der modernen Mission.