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1.4Traumatisierende Verluste als schreckliche Überwältigungs- und Vernichtungserfahrung

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Treffen mehrere der genannten Merkmale eines traumatisierenden Verlustes und traumatisierende Kontexte beim Tod des nahen Menschen zusammen, dann setzt bei den Betroffenen ein massives Traumaerleben ein, das sich im Wesentlichen in fünf große Erlebensbereiche zusammenfassen lässt (Hanswille u. Kissenbeck 2010; Peichl 2012; van der Kolk 2019):

Erschrecken und Entsetzen: Für die Betroffenen ist das denkbar Schrecklichste und zugleich unvorstellbar Schlimmste, nämlich der Tod eines nahen Menschen, eingetreten. Im Erschrecken kommt es zu einem Tunnelblick und einem ersten Erstarren (Schauer u. Elbert 2010), der Atem stockt, und das Herz steht still. Das Entsetzen ist oft mit einem Gefühl von Grausamkeit und Grauen verbunden.

Überwältigung und Schock: Der Tod eines nahen Menschen raubt den Betroffenen jede Handlungsmöglichkeit und wird als totale Überwältigung erlebt. Erfahrungen der Desorientierung, Verwirrung und Sprachlosigkeit sind Ausdruck der Überwältigung und verstärken diese. Es folgen weitere Aspekte des Schocks wie verstärkte Erstarrung, Denkblockaden, Zittern, schwache Beine, Übelkeit und emotionale und körperliche Taubheit. Im Schock setzen nun die verschiedenen Dissoziationserfahrungen ein (vgl. nächstes Kapitel), durch die die grausame Realität als unwirklich und irreal erscheint.

Lähmung und Hilflosigkeit: Die durch den Schock ausgelöste im Körper erlebte Lähmung zeigt den Hinterbliebenen, dass sie nichts mehr für ihren nahen Menschen tun können. Sie sind durch den Tod des nahen Menschen und die eigene Lähmung jeder Handlungsmöglichkeit beraubt und erfahren dies als gänzlichen Kontrollverlust und Hilflosigkeit.

Ohnmacht und Verzweiflung: Die Hilflosigkeit überflutet als Ohnmachtsgefühl die Betroffenen und entzieht ihnen jegliche Energie und Kraft. Dies äußert sich als körperliche und emotionale Schwäche, die bis zu einem Kreislaufkollaps oder einer körperlichen Ohnmacht gehen kann. Die Ohnmacht wiederum zeigt sich nun auch emotional als panikartige und abgründige Verzweiflung, in der es keine Hoffnung auf Rettung des Verstorbenen und damit der eigenen Person gibt. Die Verzweiflung leitet dann das Aufgeben und die Unterwerfung unter die irreversible Tatsache des Todes ein.

Intensivste Verlustschmerz-Attacken: Zwar wird in der Überwältigung und im Schock der Verlust nur teilweise realisiert, aber in der Tiefe wird der Tod des nahen Menschen durchaus gewusst. Das ruft kurze intensivste Durchbrüche des Verlustschmerzes hervor, z. B. in Form eines Schmerzensschreis, des Schluchzens, einer Weinattacke oder eines Weinkrampfes. Die Verlustschmerz-Attacken sind dann meist so intensiv, dass es entweder zu einem Zusammenbruch oder zu einer raschen Dissoziation, also zur Abspaltung des Schmerzes kommt.

Beachte!3

Vor der Trauer steht der Verlustschmerz, der als intensive körperliche Erfahrung den Verlust signalisiert und sich zunächst im Schmerzensschrei, im Schluchzen und dann in einer Weinattacke äußert.

Natürlich sind diese hier beschriebenen Erfahrungsbereiche bei den Hinterbliebenen oft im Chaos der Gefühle vermischt, wechseln sich abrupt ab oder brechen immer wieder erneut intensiv auf. Die intensiven Gefühle gehen wie im folgenden und im nächsten Exkurs beschrieben auf eine neurobiologische Reaktion des Organismus der Betroffenen zurück.

Exkurs:

Das Kampf- und Fluchtsystem – Freezing, Lähmung und Numbing

Das Kampf- und Fluchtsystem ist die evolutionsbiologische Grundlage für die unmittelbare Traumareaktion, auch bei einem Verlusttrauma (Flatten 2011; Peichl 2012; Elbert u. Schauer 2014).

Eine lebensbedrohliche Situation aktiviert bei Säugetieren und beim Menschen die Amygdala, die in beiden Gehirnhälften lokalisiert und ein zentraler Teil des limbischen Systems, des emotionalen Gehirns, ist. Die Amygdala alarmiert den ganzen Organismus, indem sie die Stressachse mit dem Hypothalamus, der Hypophyse und der Nebennierenrinde aktiviert. Es kommt zu einer starken Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, um den Organismus in seinen Kampfoder Fluchtmodus zu versetzen. Der Blutdruck und die Herzrate steigen, der Atem wird schneller und flacher, es kommt zu Schweißausbrüchen, und die Muskelspannung nimmt zu.

Der Organismus ist nun bereit zu kämpfen oder zu fliehen. Im Kampf oder in der Flucht wird dann die bereitgestellte körperliche Aktivierung und Energie umgesetzt. Ist beides aber nicht möglich, greift der Organismus auf die letztmögliche Überlebensreaktion zurück, auf den evolutionsbiologisch angelegten Totstellreflex. Dieser Reflex ist bei Säugetieren die einzige Möglichkeit, einem Verfolger zu entkommen, wenn dieser von dem scheinbar toten Tier ablässt. Nun wird der ganze Organismus eingefroren, was als Freezing bezeichnet wird. Auch die einsetzende Paralysierung ist Zeichen des Schocks.

Erleben Betroffene den Tod eines nahen Menschen oder erfahren von diesem, ist die Todesnähe und die nun erfahrbare Übermacht des Todes eine der massivsten Bedrohungen. Das Erschrecken und der Schreck sind die erste evolutionsbiologisch angelegte Alarmreaktion der Amygdala, die sofort und ohne Umweg über den Cortex anspringt. Sofort wird das Gehirn mit Adrenalin und Noradrenalin überflutet und das sympathische Nervensystem massiv aktiviert. Im gleichen Augenblick spüren die Betroffenen aber auch, dass nun ein Kämpfen oder Fliehen aussichtslos ist. Über den Schreck, den Schock und die Panik werden nun wie bei anderen Säugetieren der Totstellreflex und der Parasympathikus aktiviert und die Aktivierung des Sympathikus abrupt abgebrochen, was zunächst ganz früh mit Übelkeits-, Schwäche-, Schwindel- und Ohnmachtsgefühlen einhergeht. Der Totstellreflex, die Aktivierung des Parasympathikus und die Ausschüttung von Endorphinen produzieren nun das traumatische Erleben. Der Schreck und Schock werden über das Freezing fixiert, der Organismus, insbesondere der Muskelapparat, wird paralysiert, und der für das Denken zuständige präfrontale Cortex und das Sprachzentrum werden blockiert. Es werden ein Tunnelblick und Betäubung, aber auch Verwirrung, Desorientierung und Sprachlosigkeit erlebt. Dazu kommt es nun zu verschiedenen dissoziativen und peritraumatischen Erfahrungen, in denen alles unwirklich erscheint (mehr in Kapitel 2). Auch der Hippocampus, der normale Erfahrungen in das biografische Gedächtnis integriert, wird in der Traumatisierung blockiert, sodass das Verlusttrauma unverbunden als emotionale Überwältigung unverarbeitet stehen bleibt, dann dissoziiert und oft auch fragmentiert wird.

Merke!

Ein Verlusttrauma wird in intensivsten Emotionen wie Erschrecken, Entsetzen, Verzweiflung, Ohnmacht und massivstem Verlustschmerz erlebt, die im Schock rasch weitgehend dissoziiert werden, sodass emotionale Taubheit einsetzt.

Diese emotionalen und psychophysiologischen Reaktionen in einem Verlusttrauma sind »normal«, das heißt, dass praktisch alle Menschen in ihrem Organismus auf ein Verlusttrauma damit reagieren.

Da der Organismus der Betroffenen die massiven Erfahrungen im Verlusttrauma nicht lange aushalten kann und auch nicht gänzlich zusammenbrechen und dekompensieren will, setzt in aller Regel sehr rasch die Schutzreaktion der Dissoziation ein. Die intensiven Emotionen werden deshalb sehr rasch gedämpft, betäubt und abgespalten. Dazu im nächsten Kapitel mehr.

Traumatische Verluste

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