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1.2Kennzeichen traumatisierender Verluste

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Der Tod eines nahen Menschen hat bei den meisten betroffenen Hinterbliebenen in aller Regel hohe traumatisierende Wirkung, wenn folgende Kriterien zutreffen:

Existenzielle Bedeutung des Verstorbenen: Je wichtiger der verstorbene Mensch für die Betroffenen ist, je näher und fester die Bindung zum ihm ist und je intensiver die Beziehung gelebt wurde, desto schwerer wird der Verlust gerade dieses besonderen Menschen erlebt. Man könnte vereinfacht auch sagen: Je größer die Liebe zwischen den beiden, desto massiver wird der Verlust genau dieses Menschen erlebt.

Die existenzielle Wichtigkeit und die Tiefe der Liebesbindung werden von den Betroffenen natürlich ganz subjektiv erlebt und definiert. Deshalb verbietet sich jede Wertung von außen, stattdessen wird sie durch die Betroffenen ganz von innen und von der Beziehung zu diesem geliebten Menschen her vorgenommen. Sehr häufig sind es auch sehr individuelle Gründe, die die Bedeutung eines nahen Angehörigen bestimmen. So verliert eine Frau, die selbst kinderlos geblieben war, ihren für sie so wichtigen 30-jährigen Neffen bei einem schweren Autounfall und erlebt das wie den Tod eines eigenen Kindes.

Totalität des Verlustes: Bei einem schweren Verlust spüren die Betroffenen sofort, dass der Tod ihres nahen Menschen alles umfasst, alles trifft und alles zerbricht – alles ist anders, nichts ist mehr so, wie es bisher war. Diese Totalität des Verlustes erfasst die ganze Person der Betroffenen ganz und gar, das ganze bisherige Leben ist verändert, in Frage gestellt und vernichtet. Eine Ehefrau sagt nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes: »Nichts ist mehr so, wie es war, ohne meinen Mann kann ich nicht leben.« Die Totalität des Verlustes schafft das Gefühl der Überwältigung und der eigenen Ohnmacht.

Plötzlichkeit des Verlustes: Plötzliche Verluste treffen die Hinterbliebenen völlig unvorbereitet, sozusagen von einer Sekunde auf die andere. Der Verlust kommt für sie völlig unerwartet, außerhalb jedes denk- und fühlbaren Erwartungsrahmens. Deshalb können sie sich weder zeitlich noch psychologisch auf dieses massive Ereignis vorbereiten. Hinterbliebene können deshalb ihre psychologischen Abwehrmaßnahmen nicht aktivieren, um sich zu schützen. Der Verlust trifft also auf wehrlose und verletzbare Angehörige: »Es war wie ein Blitzschlag, als die Polizei vor der Türe stand.« Ohne innere Vorbereitung führt der plötzliche Tod zu einer totalen Überwältigung der Hinterbliebenen.

Zudem ist kein Abschied möglich, häufig auch keine Klärung oder Aussprache über Konflikte oder belastende Geheimnisse. Genauso wenig ist es den Hinterbliebenen möglich, die letzte gemeinsame Zeit mit dem nahen Menschen bewusst zu erleben und aufzunehmen.

Unzeitigkeit des Verlustes: Der Tod des nahen Menschen kommt meist insofern unerwartet, als dass mit ihm zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu rechnen war. Er läuft allen Erwartungen zuwider und wird als viel zu früh erlebt, besonders dann, wenn der nahe Mensch noch Kind oder Jugendlicher ist oder aber auch deutlich jünger, als es der normalen Lebenserwartung entspräche.

Die Hinterbliebenen erleben dies als Zerbrechen der sicher geglaubten Zukunft, Lebenskontinuität und der Sicherheit des Lebens. Dieses Zerbrechen der berechtigten Erwartungen und der üblicherweise vorauszusetzenden Regelhaftigkeit des eigenen Lebens wird als traumatisch erlebt, weil nun alle bisherigen Denk-, Fühl- und Handlungsroutinen abrupt abgebrochen und verunmöglicht sind.

Vernichtungserfahrung: Bei schweren Verlusten wird der Tod unmittelbar als Vernichtung des Verstorbenen und zunächst auch der Beziehung zum Verstorbenen erlebt, die nie mehr real gelebt werden kann. Damit wird auch die Vernichtung oder zumindest die massive Bedrohung der eigenen existenziellen Lebensgrundlage empfunden. Dies wird besonders deutlich und spürbar, wenn der Tod durch gewaltsame Einwirkungen wie bei einem Mord oder entstellenden Unfall eintritt. Hier wird der vernichtende Tod als etwas Furchtbares mit Gefühlen des Grauens erfahren. Auch Suizide werden häufig als Selbstvernichtung des nahen Menschen erlebt, der dabei auch die Beziehung zu den Hinterbliebenen vernichtet oder zumindest fundamental in Frage stellt.

Gewaltförmigkeit des Verlustes: Traumatisierende Verluste haben häufig gewaltsame Aspekte, z. B. bei einem tödlichen Unfall. Wird dabei auch der Körper des nahen Menschen (wie beispielsweise bei einem gewaltförmigen Suizid durch Erschießen) entstellt, wird die Gewalt des Verlustes konkret sichtbar. Oft wirken auch die vorgestellten Bilder vom verletzten, entstellten Körper des nahen Menschen traumatisierend. Je gewaltsamer der Tod des geliebten Menschen erlebt wird, desto stärker ist auch die Vernichtungserfahrung, und desto stärker ist die traumatisierende Wirkung des Verlustes.

Erlebte Todesnähe: Wird der Tod des nahen Menschen unmittelbar wie bei einem Unfall miterlebt, wird die Nähe des Todes durch eine eigene Lebensgefährdung selbst erfahren. Kommt dazu wie bei Kriegshandlungen die eigene Lebensbedrohung durch Gewaltandrohung, wird die traumatische Wirkung des Verlustes erhöht.

Zudem wird durch den miterlebten Tod des nahen Menschen eine unmittelbare bedrohliche Todesnähe erlebt, die eine existenzielle Ohnmacht und Lähmung bewirkt.

Zufälligkeit und Sinnlosigkeit des Verlustes: Betroffene erleben den schweren Verlust intuitiv als sinnlos und als Ergebnis zufällig zusammentreffender, willkürlich erscheinender Ereignisse. Dies erzeugt ein ungläubiges, entsetztes Nicht-Verstehen, verbunden mit einer bodenlosen Leere und dem Gefühl der Sinnlosigkeit. Oft wird der Tod des nahen Menschen auch als willkürlich und ungerecht erlebt, was eine wütende Ohnmacht auslöst.

Die hier genannten Kriterien eines traumatischen Verlustes wirken kumulativ auf die Betroffenen und erklären die traumatisierende Wirkung einer solchen Erfahrung.

Merke!

Ein traumatisierender Verlust ist als eine plötzliche und schreckliche existenzielle Vernichtungserfahrung zu verstehen, die oft gewaltförmig ist.

Folgende Verlustsituationen werden in aller Regel als traumatisierend erlebt:

•Verlust eines Kindes

•Suizid des Angehörigen

•Verluste in der Kindheit und Jugend

•Verluste in der Schwangerschaft und bei der Geburt

•Unfalltod und plötzlicher Tod durch Herztod, Ruptur eines Aneurysmas oder aufgrund anderer medizinischer Ursachen

•traumatische Erfahrungen des Verstorbenen vor seinem Tod, z. B. bei Behandlungsfehlern im medizinischen Kontext

•Verluste bei scheinbarer oder realer eigener Mitverantwortung der Hinterbliebenen

•Verluste bei Man-made-Katastrophen und damit Mitverantwortung anderer

•Mehrfach-Verluste

•Großschadensereignisse und Beteiligung der Massenmedien

•entwürdigende Behandlung des Verstorbenen

•uneindeutiger und/oder unvollständiger Verlust, z. B. keine Möglichkeit des Abschiednehmens zu Beginn der Corona-Krise

•Verluste bei der Flucht und Migration

•Reaktivierung früherer Verlusttraumata oder anderer Traumata

Jede dieser traumatisierenden Situationen, von denen diese Aufzählung eine unvollständige Auswahl darstellt, hat eine ganz eigene Dynamik und auch besondere Aspekte der Traumatisierung. Ich werde immer wieder auf einzelne der hier aufgeführten Verlusttraumata und der entsprechenden Fallbeispiele eingehen.

An dieser Stelle möchte ich kurz auf Flüchtlinge zu sprechen kommen, die häufig schon in der Heimat und dann oft auf der Flucht nahe Menschen auf traumatisierende Weise verlieren oder sie in der Heimat mitsamt derselben zurücklassen müssen. Häufig erleben sie auch bei der Überfahrt selbst lebensbedrohliche, traumatisierende Umstände. Deshalb sind Flüchtlinge meist multipel von Verlusttraumata und traumatisierenden Lebensbedrohungen betroffen, sind also mehrfach Traumatisierte und schwer Trauernde. Weil dann ihr Aufenthaltsstatus oft unsicher ist, kann eine Verlusttrauma-Psychotherapie nur sehr begrenzt durchgeführt werden und es muss häufig zunächst bei der Stabilisierung bleiben.

Traumatische Verluste

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