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2.1Die akuten Traumareaktionen als neurobiologische Reaktion des Organismus

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Trauer wird in der klassischen Trauerpsychologie häufig immer noch als vorwiegend psychologische Reaktion auf einen Verlust verstanden. Doch der Verlustschmerz, und dann nachfolgend die Trauer, ist eine Reaktion des ganzen Organismus eines Menschen (O’Connor 2019), und dies gilt noch viel stärker bei einem traumatisierenden Verlust (Pearlman et. al. 2014). Die unmittelbare Traumareaktion und der Verlustschmerz sind als eine zweifache neurobiologische Reaktion des Gehirns und des gesamten Organismus zu verstehen. Daran sind zwei sehr wichtige neuropsychologische Systeme beteiligt: zum einen das dem unmittelbaren Überleben dienende Kampf- und Fluchtsystem (vgl. Exkurs Kapitel 1), zum anderen das Bindungssystem (Brisch 2019), hier besonders der Teil des Paniksystems (Panksepp 2004).

Merke!

Bei einem traumatisierenden Verlust bilden zwei fundamentale neurobiologische Überlebenssysteme die Basis für das Erleben und die neurophysiologische Reaktion des ganzen Organismus: das evolutionsbiologisch angelegte Kampf- und Fluchtsystem und das ebenfalls in der evolutionären Entwicklung von Säugetieren entstandene Bindungssystem.

Entscheidend ist nun, dass das Verlusttrauma in beiden Systemen auf die subcortikale Ebene des Gehirns wirkt, besonders im limbischen System, dem emotionalen Zentrum des Gehirns, und im Hirnstamm. Das limbische System reagiert auf eine Lebensbedrohung und auf die Bedrohung einer wichtigen Bindung sehr schnell und unwillkürlich. Es alarmiert den gesamten Organismus über die Amygdala, den Hypothalamus, die Hypophyse, die Nebennierenrinde und den Hirnstamm. Viele dieser körperlichen Reaktionen wie die Erhöhung des Blutdrucks bleiben unbewusst oder halbbewusst.

Das Kampf- und Fluchtsystem reagiert mit Schock und Freezing: Der Tod eines nahen Menschen wird als Vernichtung der Existenz des nahen Menschen und als fundamentale Bedrohung der eigenen Existenz erlebt. Diese Bedrohung aktiviert das Kampf- und Fluchtsystem (Flatten 2012; Peichl 2012). Der ganze Organismus wird über Adrenalin und Noradrenalin auf Kampf oder Flucht eingestellt. Doch beim Tod eines nahen Menschen kann man nicht mehr um den nahen Menschen und seine Rettung kämpfen, ebenso lässt sich gegen die eigene existenzielle Bedrohung nichts mehr tun. Auch Weglaufen und Fliehen vor der schrecklichen Realität des Todes ergibt keinen Sinn mehr. Deshalb gerät der Körper der Hinterbliebenen in einen Schock, der dann wie beim Totstellreflex anderer Säugetiere zum parasympathischen Shutdown und Freezing wird. Lähmung, Betäubung und Fühllosigkeit breiten sich im ganzen Organismus aus und sind die Grundlage der peritraumatischen Reaktionen in der Verlustsituation.

Das Bindungssystem reagiert mit Verzweiflung: Auch das Bindungssystem (Cozolino 2007; Brisch 2019) ist ein altes, das Überleben sicherndes neurophysiologisches, im Gehirn verankertes System (vgl. Exkurs unten) des Säuglings und des Kleinkindes, das die überlebensnotwendige Beziehung zur Mutter und zum Vater herstellt und sichert. Dieses System, insbesondere der Teil, den wir als Paniksystem bezeichnen, springt bei einem Verlust eines nahen Menschen unwillkürlich, automatisch und zunächst unbewusst an. Hier wird der Tod des nahen Menschen als ein abrupter Abbruch einer lebenswichtigen Bindung und als überwältigende Erfahrung von Verlassenwerden erlebt. Dies stellt ein Bindungstrauma dar. Die einsetzende Panik ist eine allumfassende Angst, ohne die Bindungsperson verloren zu sein und selbst sterben zu müssen. Zugleich reagiert das Bindungssystem mit dem Verlustschmerz, der sich in einem einzelnen Schrei und in einem länger anhaltenden Schreien äußert. Das Schreien soll die verlorengegangene und vermisste Bindungsperson zurückrufen, denn ohne sie ist der Säugling bzw. das Kleinkind selbst der Vernichtung ausgesetzt. Kommt die Bindungsperson nicht mehr, setzt die Trauer über die bleibende Abwesenheit ein. Die Trauer führt zu einem Rückzug und zur Anpassung an den Verlust. Wird der Säugling und das Kleinkind dabei gänzlich alleingelassen, stellt sich Verzweiflung ein, die zu einer resignativen und apathischen Depressivität führen kann.

Exkurs:

Das Bindungssystem, der Verlustschmerz und die Trauer

Auch das Bindungssystem ist bei Säugetieren und beim Menschen evolutionsbiologisch angelegt (Cozolino 2007). Schon bei der Geburt und beim Stillen wird durch die Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin beim Säugling und bei der Mutter, aber auch beim Vater eine enge Bindung hergestellt. Der Säugling sucht Schutz, Sicherheit, emotionale Wärme und körperliche Berührung. Die Bindungssignale des Säuglings und Kleinkindes aktivieren das Bindungssystem bei den Eltern. Gelingt Bindung, werden bei beiden Eltern neben dem Oxytocin auch Dopamin und Endorphine im Belohnungssystem ausgeschüttet. So wird die Bindung gefestigt und gestärkt, sodass dann das Kleinkind später auch eine vorübergehende Trennung zeitweise aushalten kann. Auch bei der partnerschaftlichen Liebe und anderen engen Beziehungen von Geschwistern und nahen Freunden bildet das Bindungssystem eine wichtige neurophysiologische, deshalb meist unbewusste Basis einer nahen, bindenden Beziehung.

Wird die Bindung aber bedroht oder gar durch das Weggehen unterbrochen, wird das sogenannte Paniksystem als Teil des Bindungssystems aktiviert: Beim Säugling oder Kleinkind, aber auch später beim Erwachsenen, setzt Panik und Verlustschmerz (sogenannter separation distress) ein. Das Kind weint und schreit, um voller Panik die verlorengegangenen Eltern herbeizurufen; zugleich wehrt sich das Kleinkind mit seinem Schreien gegen die Trennung. Der Bindungsforscher Bowlby (vgl. Brisch 2019) bezeichnet diesen Abschnitt der Reaktion deshalb auch als Protestphase. Für die Trauerarbeit ist zu beachten, dass vor der Trauer meist der akute, oft schreiende Verlustschmerz einsetzt, gefolgt von einer schmerzenden, intensiven Trauer mit einem oft laut schluchzenden Weinen. Im Gehirn entsteht der körperliche und emotionale Schmerz im sogenannten periaquäduktalen Grau im Mittelhirn, in der Insula und im anterioren cingulären Cortex. Diese im emotionalen Gehirn liegenden Regionen bilden das Verlustschmerzzentrum. Der Verlustschmerz zeigt sich im Schreien und Weinen und soll die verlorengegangene Bindungsperson herbeirufen.

Kommt nun trotz der Paniksignale und des Protestes die wichtige Bezugsperson nicht mehr zurück, setzt allmählich die Verzweiflungsphase ein, in der der wütende und schreiende Protest in ohnmächtige Hilflosigkeit und Verzweiflung, dann in Resignation und schließlich in einen stillen Rückzug in sich selbst umschlägt. Den gesamten Prozess bezeichnen wir als Bindungstrauma, bei dem ein zentrales überlebensnotwendiges Bedürfnissystem verletzt wird.

Erwachsene erleben durch die bleibende Abwesenheit des verstorbenen nahen Menschen eine verzweifelte Trauer, die oft von einem leisen Weinen und Wimmern begleitet wird. In dieser leisen und doch intensiven Trauer liegt die Chance, den Verlust zu realisieren, aber auch das Risiko, über die Resignation in eine Depression zu geraten.

Bei einem Verlusttrauma reagieren und interagieren nun beide neurobiologisch angelegten Systeme des Organismus und verstärken sich gegenseitig (vgl. Kapitel 4.3). Dies erklärt die Intensität des Erlebens bei einem traumatischen Verlust und das mögliche Risiko eines destruktiven Verlaufes dieser zweifachen psychophysiologischen Reaktion.

Traumatische Verluste

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