Читать книгу Analytisch orientierte Literaturwissenschaft - Rolf Breuer - Страница 11
1. Vor der Entwicklung des historischen Bewusstseins
ОглавлениеDie Entdeckung, dass viele Dinge und Phänomene, die man bislang für unwandelbar gehalten hatte, tatsächlich der Veränderung unterliegen, geschichtlich geworden sind, hat natürlich mit der zunehmenden Beschleunigung aller Lebensvorgänge seit dem Beginn der Neuzeit zu tun. Früher, im Mittelalter, verliefen die Veränderungen so langsam, dass sie im Laufe eines Menschenlebens kaum bemerkbar waren, seien es Änderungen der Sprechweise, der Kleidungsvorschriften, der Regierungsformen, der Sitten, der Gefühle. So lag es nahe anzunehmen, die Welt sei unwandelbar. Auf den Morgen folgen Mittag, Abend und Nacht und dann wieder ein Morgen. Auf Ostern folgen Pfingsten und das Kirchenjahr, auf den Sommer folgen der Herbst und dann wieder ein neues Jahr. Auf Geburt folgen Taufe und Heirat, Alter und Tod, davor aber Geburt der Kinder, deren Taufe, Heirat usw.: alles Kreisläufe des ewig Gleichen.
Dann, so um die Mitte des 18. Jahrhunderts, holte das Denken die Veränderungen der Wirklichkeit seit etwa 1500 ein. Damals wurde zum ersten Mal die Zeitlichkeit der Welt systematisch bedacht. Dass es bereits in der Antike eine blühende Geschichtsschreibung gab, spricht nicht gegen diese Behauptung. Mit Bewusstsein der Zeitlichkeit oder gar mit Geschichtsbewusstsein ist mehr gemeint als die Kenntnis der historischen Fakten, mehr auch als die Reflexion auf die Prinzipien der geschichtlichen Entwicklung, auf den Sinn der Geschichte. Vielmehr ist historisches Bewusstsein das Verständnis seiner selbst und der Welt, in der man lebt, als geschichtlich geworden. Die Begriffe Vergangenheit und Gegenwart werden dabei zu Komplementärbegriffen. Geschichte gilt einerseits nicht mehr naiv als zurückliegende Gegenwart, aber auch andererseits nicht mehr antiquarisch als von der Gegenwart wie durch einen Abgrund getrennt; vielmehr gilt Geschichte als Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wobei die Vergangenheit vor allem wegen ihres Bezugs zur Gegenwart interessiert und die Gegenwart nicht zuletzt in ihrem Bezug zur Vergangenheit verständlich erscheint. Wenn, so sagt Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode, etwa Herodot oder Plutarch das Auf und Ab der menschlichen Geschichte durchaus zu beschreiben wussten, dann doch, ohne auf die Geschichte der eigenen Gegenwart und die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins schlechthin zu reflektieren.1 Diese naive Distanzlosigkeit gegenüber der Geschichte zeigt sich am sinnfälligsten vielleicht in Gemälden des Mittelalters und der Renaissance. Ein Beispiel ist etwa die Miniatur „Die Anbetung der Heiligen Drei Könige“ der Brüder Limburg aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (geschaffen von 1413 bis 1416).2 Die Kunsthistoriker heben durchaus hervor, wie sorgfältig die Brüder Limburg exotisches Kolorit anbrachten, wie ihre Malerei die durch die Kreuzzüge erweiterten Kenntnisse ethnischer und kultureller Verschiedenheit an den Tag legt.3 Und doch ist Melchior, der des Jesuskindes Füße küsst, wie der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaiologos gekleidet; die Gefolgsleute der drei Könige tragen Turbane, als seien sie bereits Muslime; die Frauen hinter Maria gleichen hochmittelalterlichen Zofen; und über dem Geschehen des Jahres Eins erhebt sich die Silhouette des gotischen Bourges, der Hauptstadt des Berry, mit der Grosse Tour, der mächtigen Kathedrale und der Turmspitze der Sainte Chapelle.
Aber – um in die Literatur und in eine spätere Zeit zu wechseln – noch die Anachronismen William Shakespeares sind berühmt. Da gibt es Hinweise auf Aristoteles in Troilus and Cressida, das doch zur Zeit des Trojanischen Krieges spielt; in Coriolanus, angesiedelt im alten Rom, wird auf die Rosenkriege und auf Brillen angespielt; und in anderen Stücken gibt es im antiken Rom und Ephesus sowie in Altbritannien läutende Glocken, die doch eine Erfindung des 14. Jahrhunderts sind. Selbstverständlich ist das für die Kunst Shakespeares gleichgültig, ja bei genauerem Durchdenken der Sache ist der Anachronismus-Vorwurf sogar geradezu abgründig: man bedenke bloß, dass der wichtigste, weil ganze Werke durchwirkende Anachronismus bei Shakespeare der Gebrauch der frühneuenglischen Sprache durch alte Griechen, Römer und Ägypter ist … Und auch das Wort von der naiven Distanzlosigkeit der Brüder Limburg gegenüber der Vergangenheit ist nicht als Vorwurf oder gar als ästhetische Kritik gemeint. Ein solcher Vorwurf wäre seinerseits wieder unhistorisch, denn die anachronistische Darstellung der Geburt des Heilands kann interpretiert werden als Zeichen von deren Singularität und Geschichtsenthobenheit.
Ist der Anachronismus-Vorwurf letztlich ästhetisch töricht, so ist jedoch interessant, dass er – mitsamt dem Begriff Anachronismus selbst – charakteristischerweise zur Zeit der verschiedenen europäischen Neo-Klassiken bzw. Klassizismen entsteht. In dieser Kulturepoche wird die früher weithin herrschende Distanzlosigkeit gegenüber der Vergangenheit abgelöst durch eine Verabsolutierung der Gesetze und Regeln der Vergangenheit, sprich der antiken Kultur. Vor allem im Bereich der Literatur werden Homer und Vergil, Pindar und Horaz, Sophokles und Seneca zur Norm.
Will man die naive Distanzlosigkeit des europäischen Mittelalters und der englischen Renaissance im Umgang mit der Geschichte mit großen Worten belegen, so könnte man von falscher „Aktualisierung“ und von „Präsentismus“ sprechen; im Fall der gelehrten oder kleinmütigen Verabsolutierung der Antike in der Klassizistik müsste man von „antiquarischem Akademismus“ reden. Beide Richtungen werden der Dialektik von Geschichte und Gegenwart nicht gerecht.
Die Herausbildung des Verständnisses dieser Dialektik soll nun im folgenden nachgezeichnet werden, notwendigerweise in Auswahl4 und in aller Kürze. Es gibt jedoch Wissenschaftstheoretiker, die diesen Prozess die tiefgreifendste Umwandlung im menschlichen Denken überhaupt nennen.5