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I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte Lob der Distanz

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Ein kulturpolitischer Essay

Anders als in den Naturwissenschaften müssen die Forscher und Interpreten in den Geisteswissenschaften ihrem Gegenstand mit Einfühlung und menschlichem Interesse begegnen, sonst können sie nicht verstehen, was sie erforschen und deuten wollen. Ebenso wichtig jedoch ist eine gewisse Distanz zwischen Forscher und Gegenstand, sonst können die Forscher nicht kritisieren, was sie vorfinden und zu verstehen suchen, und ohne Distanz zum Gegenstand dürfte es ihnen auch schwerfallen, sich selbst, ihre Vorannahmen, ihre Methode, ihr Erkenntnisinteresse zu reflektieren. Nur wenn diese Bedingungen gegeben sind, kann man von Wissenschaftlern sprechen, in Unterscheidung von Künstlern, Interessenvertretern, Politikern oder Gläubigen.

Nun hat sich aber in den letzten Jahrzehnten in den Geisteswissenschaften – und vor allem in ihren Leitdisziplinen – eine Entwicklung angebahnt, die dieses aufklärerisch-romantische Gleichgewicht von kritischer Energie und Empathie deutlich zu stören beginnt. Einflussreiche Theoretiker vertreten einen erkenntnistheoretischen Subjektivismus und nehmen an, dass jeder Wissenschaftler die zu erkennende Wirklichkeit nach seinem Bild konstruiert. Wenn das so ist, dann gibt es zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis natürlich keine Distanz. Die Sprache der Beschreibung und Interpretation der „Tatsachen“ erlangt in dieser Sicht der Dinge eine überragende Bedeutung, weil die Wirklichkeit, die die Forscher in früheren, naiveren Zeiten zu beobachten und deuten glaubten, tatsächlich nur ein sprachliches Konstrukt ist, ähnlich den Fiktionen der Dichter.

Vielleicht klingt das dramatischer als sich die tägliche Wissenschaftspraxis realiter darstellt. Die meisten Literaturwissenschaftler, Historiker oder Soziologen interviewen weiterhin Gesprächspartner, durchsuchen Archive nach Quellen, entziffern alte Handschriften, versuchen, Fälschungen aufzudecken, verlässliche Editionen zu machen, das Werk eines Autors zu verstehen usw. In der Theorie jedoch dominiert der Subjektivismus die Debatten zu einem erheblichen Ausmaß, vor allem in den USA, aber ebenfalls in Großbritannien und zunehmend auch in Deutschland. Da mag es angebracht sein, wieder einmal eine Lanze für die alte Tugend der Distanz zu brechen.

Advokaten der These, dass Subjekt und Objekt in den Geisteswissenschaften zusammenfallen, finden sich im Moment allerorten, vor allem in den Fächern, die durch die schiere Größe ihrer Repräsentanz an den Universitäten den Ton angeben: Psychologie, Soziologie, Geschichte, Literaturwissenschaft. So verschieden die Dinge im einzelnen auch liegen, viele Vertreter dieser Fächer stimmen in der Annahme überein, die jeweilige Realität – sei es die psychologische, die gesellschaftliche, die historische oder die literarische – werde von den Forschern bei ihren Untersuchungen erzeugt und existiere unabhängig von ihnen nicht. In der Geschichtswissenschaft beispielsweise lautet die These: Der Historiker wählt aus der überwältigenden Fülle der Daten aus, er gliedert, er tönt die Fakten durch narrative Strukturen, er gibt den Tatsachen Sinn, er schafft „seinen“ Nero, „sein“ Heiliges Römisches Reich, „seine“ Entdeckung Amerikas, nicht viel anders oder sogar genau wie Stendhal seinen Julien Sorel, Karl May seinen Wilden Westen, Shakespeare seine Entstehungsgeschichte einer Eifersucht erschafften: Das interpretierende Subjekt schafft das Objekt nach seinem Bilde. Ein noch größeres Einfallstor für den erkenntnistheoretischen Subjektivismus und Nihilismus sind die Literaturwissenschaft und ihr nahestehende Disziplinen wie Women’s Studies, Black Studies oder Gay and Lesbian Studies. Nur Frauen können Frauen verstehen, nur Homosexuelle Homosexuelle. Nur das Objekt der Erkenntnis kann sein Subjekt sein. Immer wieder läuft die Theorie auf die Identifizierung von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozess hinaus.

Selbstverständlich ist diese Position nicht einfach falsch, sondern im Gegenteil in vielen Fällen richtig, in anderen partiell richtig. In einer naturwissenschaftlich dominierten Epoche geisteswissenschaftlicher Theoriebildung könnte ich mit Überzeugung ein Lob der Empathie verfassen. Aber das ist nicht das Gebot der Stunde, und so möchte ich zeigen, wie nützlich ein Wissenschaftsverständnis ist, das in den Geisteswissenschaften auch zergliedernde Analyse, begriffliche Differenzierung, das Auseinanderhalten der logischen Ebenen von Theorie und Praxis, von Beobachter und Beobachtetem, von Kommentar und Kommentiertem achtet, das neben der Empathie auch die Distanz zwischen Forschern und ihrem Gegenstand zu schätzen weiß.

Subjektivismus und Distanzlosigkeit in den Geisteswissenschaften sind keine Neuheit. Von der nationalistischen Geschichtsschreibung deutscher Historiker bis zur misogynen Psychologie männlicher Psychologen ist die Liste der pro domo argumentierenden Wissenschaftler endlos. Bisher jedoch musste die subjektivistische Praxis unter dem Deckmantel Objektivität operieren, denn nur so waren die Argumente für die Menschen überzeugend „wissenschaftlich“. Und wenn katholische Theologie nur von katholischen Theologen gelehrt werden darf, die mit der Missio des Bischofs ausgestattet sind, dann ist das eben Dogmatik und nicht Wissenschaft.

Es blieb dem „Poststrukturalismus“ vorbehalten, dass sich wohlbestallte Wissenschaftler offen zum Prinzip der Subjektivität bekennen können, sie sogar zum Signum einer auf der Höhe der zeitgenössischen Einsichten stehenden Wissenschaftlichkeit zu machen wagen. Die philosophische Begründung stammt weitgehend aus Paris, die Praxis aus den USA. Dort wurden von Schwarzen Black Studies, von Feministinnen Women’s Studies, von Homosexuellen Gay and Lesbian Studies zur Selbstverständigung sowie zur Formulierung und Durchsetzung politischer Ziele etabliert, und dabei konnte man kritische Distanz zur je eigenen Sache und Person natürlich nicht brauchen. Für die Vereinigten Staaten als junge und zunehmend multirassische, multikulturelle, multisprachliche Gesellschaft ist die Entwicklung verständlich, vielleicht sogar eine notwendige Etappe in der Entwicklung ihrer Geisteswissenschaften und ihres Bildungssystems. Man holt dort unter den Gegebenheiten des Landes nach, was Europa bei der Herausbildung seiner Nationalstaaten, seiner Religionen und Kulturen – mehr schlecht als recht – vorgeführt hat. Die Frage ist aber, ob die starke Wirkung aus den USA zurück nach Europa wünschenswert sein kann, denn hier ist die praktische Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren nach fürchterlichen rassistischen, chauvinistischen und nicht zuletzt religiösen Bürgerkriegen endlich in Richtung auf ein ausgewogeneres Verhältnis von Betroffenheit (Selbstgerechtigkeit) und Distanz (Fremdgerechtigkeit) in den Geisteswissenschaften gegangen, nachdem die entsprechenden Theorien schon lange bereitstanden. Dabei ist die Emanzipation der Frauen und der Schwarzen sowie die Legalisierung der Homosexualität als Fortsetzung des Programms der Aufklärung und der Demokratie begrüßenswert; schließlich sind Aufklärung, Demokratie, Gewaltenteilung, Rationalität, Kritik, Meinungsfreiheit gerade der Impetus für meine Kritik am drohenden Verlust des Prinzips Distanz in den Geisteswissenschaften, zumindest in der Theorie der Geisteswissenschaften. In dieser Hinsicht ist Mangel an Distanz zum Gegenstand und zu sich selbst, auch wenn er politisch aufklärerische Ziele fördern soll, antiaufklärerisch und vordemokratisch. Und außerdem wird eine linke Identitätspolitik im Gewand von Wissenschaft den Fluch einer rechten Identitätspolitik wieder salonfähig machen: Nationalismus, Ethnozentrismus usw.

Wir sind alle immer Angehörige von Gruppen innerhalb größerer Populationen, wenn man will also von Minderheiten: Menschen, Deutsche, Erwachsene, Linkshänder, Führerscheinbesitzer, Gärtner, Krebskranke usw. Und in die geisteswissenschaftliche Forschung kann, ja muss der lebensweltliche Kontext eingehen. Es darf nur nicht so weit kommen, dass man nur als Gruppenangehöriger forscht, beziehungsweise dass man seine Ergebnisse als prinzipiell überlegen ansieht, weil man dem Text gegenüber ein privilegiertes Verhältnis zu haben glaubt. Eine Theorie der Frauenforschung, die beansprucht, nur Frauen könnten Frauen verstehen, vielleicht sogar nur lesbische Frauen („Frauen-Frauen“), lässt sich leicht ad absurdum führen. Wenn die These nämlich stimmte, dann müsste es auch so sein, dass nur eine Mutter eine Mutter versteht, nur ein Rentner einen Rentner, nur ein Moslem einen Moslem, und dann natürlich weiter nur ein moslemischer Rentner einen moslemischen Rentner usw. Letztlich könnte jeder nur sich selbst verstehen, und tatsächlich ist auch schon so argumentiert worden: die Sprache sei ein Gefängnis, und jeder sitze als Monade ohne die Möglichkeit der Verständigung (und des Verstehens) in seiner jeweiligen Zelle. Aber erstens ist das eine selbstzerstörerische Argumentation, denn wie sollte jemand, der glaubt, dass man sich nicht verständigen kann, jemand anderem verständlich machen wollen, dass man sich nicht verständlich machen kann? Und zweitens ist die These, dass wir uns (alle immer) nicht verstehen, völlig unplausibel. Nicht als ob gegenseitiges Verständnis immer ganz einfach wäre, im Gegenteil. Deswegen ist der Philosophie von den großen Anwälten der Klarheit die Rolle zugewiesen worden, „die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen“ (Frege), „die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ zu bekämpfen (Wittgenstein). Und auch die Fachwissenschaften sind unter anderem dafür da. Wenn aber die Gefängnismetapher („the prison-house of language“) stimmte, dann wären die Mauern überall anzunehmen, ja wir wären die Mauern, wir wären Mauern. Im Gegensatz zu Gefängnisinsassen sind Gefängnisse jedoch frei, womit ich nur sagen will, dass es töricht ist, dialektische Verhältnisse wie das zwischen Freiheit und Gefangensein oder Subjekt und Objekt zugunsten nur einer Komponente zu radikalisieren.

So töricht aber auch die These ist, wir könnten uns untereinander nicht verstehen, sie hat im Moment Konjunktur, vielleicht weil viele Gruppen, die eine Sache zu vertreten haben, glauben, es sei für die Durchsetzung ihrer Sache vorteilhaft, wenn man bei Dissens sagen kann, die Gegenseite verstehe einen eben nicht, könne einen auch gar nicht verstehen, weil sie ein Mann, ein Weißer, ein Intellektueller, kinderlos, alt, kein Alkoholiker usw. sei. Für das Verstehen ist es häufig jedoch gerade hilfreich, nicht persönlich betroffen, nicht nah zur Sache zu sein. Manche Details sieht man besser aus der Nähe, manche Strukturen besser aus der Ferne. Welcher Regisseur lässt einen Dementen einen Dementen spielen, welcher Richter verlässt sich allein auf die Aussagen des Angeklagten? Dass ein Forscher über magische Vorstellungen der Azande eine Zeitlang bei den Azande lebt und sich erzählen lässt, warum nach ihrer Meinung Orakel und Magie wirken, ist klar. Zugleich muss sich der Forscher aber die Distanz des Fremden bewahren, denn sonst kann er die magischen Vorstellungen ja nicht mehr mit anderen Praktiken der Wirklichkeitsbewältigung vergleichen. Charakteristischerweise hat kein Azande seinen Orakelglauben kritisch reflektiert, sondern Evans-Pritchard, und wir können daher nicht wünschen, er wäre ein Azande gewesen oder geworden. Das hat unter anderem damit zu tun, dass kritische Wissenschaft in der Lage ist, nicht nur andere Verfahren zu reflektieren, sondern auch sich selbst. Dass es dabei prinzipielle Grenzen der Reflexionsfähigkeit gibt, ist unbestritten, aber die Grenzen sind doch deutlich weiter hinausgeschoben als in unkritischen Verfahren.

Politisch sieht die Sache allerdings anders aus. Niemand wird den in einer Gewerkschaft organisierten Arbeitern theoretisch bestreiten wollen, dass sie berechtigt sind, ihre Interessen selbst zu definieren und zu vertreten, ebenso bei Lesbierinnen oder bei der Standesorganisation der Makler. Die Möglichkeit, die eigenen Interessen zu vertreten, sei es als Gruppe oder als Individuum, gehört sogar ganz elementar zur Demokratie, im Unterschied zu einer paternalistischen oder gar diktatorischen Gesellschaftsverfassung. Aber Interessenvertretung ist eben gerade nicht Wissenschaft, und insofern gehört – da auch Wissenschaftler sich ihre Interessenvertretungen geschaffen haben – die Kontrolle der Wissenschaftler durch die Gesellschaft der Laien zum Prinzip der Demokratie.

Nun können Feministinnen einwenden, dass Männer früher aber kaum Frauenforschung betrieben hätten, dass Männer – charakteristischerweise oder zufälligerweise – die Leistungen von Frauen vernachlässigt hätten, und Gleiches gilt für andere Gruppen, die als Gruppen oder Individuen von der Gleichberechtigung und Macht ausgeschlossen waren oder sind. Das ist richtig, aber auch hier zeigt sich, dass kritische Wissenschaftlichkeit viel flexibler reagiert als unkritische Verfahren: denn nach nur einigen Jahrzehnten gibt es die Fächer allenthalben. Nur ist es so, dass die Vertreter der neuen Disziplinen diese nicht zuletzt deshalb durchgesetzt haben, um – bewaffnet mit der Theorie, dass nur die Objekte der Forschung ihre Subjekte sein können – den jeweiligen Gruppenmitgliedern die Türen zu Karrieren zu öffnen. Weil jedem männlichen Nachwuchsforscher klar ist, dass Women’s Studies für Frauen reserviert sind, um den Anteil von Frauen an der Professorenschaft zu erhöhen, dass er also niemals eine Chance auf eine Stelle haben wird, vermeidet er das Fach. So entstehen Wissenschaftsghettos und Anhänger der Theorie, dass sich Menschengruppen untereinander nicht verstehen können.

Man kann auch einwenden, dass Wissenschaft nicht so hehr sei, wie es oben geschienen haben könnte, nämlich allein oder vornehmlich der Wahrheitssuche gewidmet, während Interessenvertretung in den Niederungen der Alltagspraxis angesiedelt sei. Auch wissenschaftliche Forschung selbst – nicht nur Standespolitik der Wissenschaftler – geht in der Tat unter erkenntnisleitenden Interessen vor sich, ist also immer auch Interessenvertretung, ganz deutlich in der ingenieurswissenschaftlichen Drittmittelforschung, aber auch in den Geisteswissenschaften, was man schon daran zu erkennen vermag, dass jede Seite in jedem pädagogischen Richtungskampf einen Professor mobilisieren kann, dass für jede Feier, für jeden Festtag positive und negative Reden aus der Feder von Wissenschaftlern zu haben sind, für jedes psychologisch strittige Gerichtsverfahren konträre Gutachten. Die Antwort darauf kann nur sein: Gerade weil alle Wissenschaft – wie jede menschliche Tätigkeit – interessengeleitet ist, muss sie im Prinzip kritisch sein, und das heißt unter anderem, sie muss allen offenstehen, die sich äußern wollen und können. Gerade weil Wissenschaft nicht nur, vielleicht nicht einmal überwiegend rational geleitet ist, müssen sich Wissenschaftler gegenseitig kontrollieren können. Eine Theorie, die das prinzipiell bestreitet, ist wissenschaftsfeindlich und demokratiefeindlich.

Die Behauptung, nur Frauen könnten Frauen verstehen usw., lautet in nur leicht verschobener Akzentuierung: Bei einer Aussage kommt es weniger auf den Inhalt an und mehr darauf, wer sie macht. Das ist keineswegs völlig falsch. Wenn mir mein Hausarzt sagt, ich hätte Pocken, nicht Windpocken, so reagiere ich anders, als wenn mir das mein kleiner Sohn sagt. Wenn ein jüdischer Dramatiker das Thema Hitler als Farce auf die Bühne bringt, so ist das etwas anderes, als wenn es ein Deutscher tut. Wenn ein berühmter Musikwissenschaftler einen Vortrag über Beethoven ankündigt, gehe ich wahrscheinlich eher hin, als wenn es der mir unbekannte Musiklehrer des Nachbardorfes tut. Vertrauen ist auch in den Wissenschaften wichtig, jedenfalls in praxi, weil sonst jeder vor lauter Nachprüfen bisheriger Ergebnisse nie über den Stand der vorigen Generation hinauskäme. Aber prinzipiell lautet die Devise: Traue niemandem, und schon gar nicht dem, der methodisch von Vertrauen redet! Aussagen müssen so gemacht sein, dass sie überprüfbar sind, und natürlich kommt es letztlich doch auf die Aussagen an und nicht auf den, der sie macht, denn sonst würde man das Kriterium der Wahrheit durch das der Betroffenheit ersetzen. Wahrhaftigkeit ist nicht gleich Wahrheit. Statt Nachprüfbarkeit hätte man das Kriterium der Autorität.

Wieder ergibt sich, dass die poststrukturalistische Theorie des Vorrangs des Subjekts vor dem Objekt in Wirklichkeit vormodern ist. Politisch steht sie auf dem Stand einer aristokratisch-paternalistischen Gesellschaft, in der die Besten wissen, was gut und richtig ist. „Quod licet Jovi, non licet bovi“ ist jedenfalls nicht das Motto der Wissenschaften im Zeitalter der pluralistischen Demokratie. (Das heißt übrigens nicht, dass Wissenschaft demokratisch wäre, sondern nur, dass beiden Institutionen das Prinzip des Misstrauens beziehungsweise des Fallibilismus zentral ist.) Auch die Literaturtheorie kennt ähnliche Tendenzen, vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach dem ontologischen Status von Literatur und nach dem Ort seiner Bedeutung. Die früheren Literaturtheoretiker waren meist die Autoren selbst, und bezeichnenderweise vertraten sie eine autorenzentrierte Theorie der Bedeutung: die Autorenintention ist die Bedeutung. Nachdem die heutigen Literaturwissenschaften längst professionalisiert sind, ist die Kluft zwischen Autor und Kritiker so tief geworden, dass viele Theoretiker der Ansicht sind, der Leser-Kritiker generiere im Akt des Lesens die Bedeutung des Texts, das Subjekt erzeuge das Objekt. Waren die Literaturwissenschaftler im Zeitalter der Dominanz der Autoren meist Philologen, also Diener der Autorenintention, oft wohl auch mehr Museumswärter als echte Vermittler, so wären die Kritiker heute gern Autoren, wie wir es aus der Welt der Bühne mit dem Phänomen des „Regietheaters“ kennen. Die frühere historisierende Methode droht einer präsentistischen Methode Platz zu machen.

Auch hier muss man wiederholen, dass die These, der Rezipient gebe einem Zeichen erst seine Bedeutung, nicht gänzlich falsch ist. In der Tat wird in Alltagskommunikation und im Kunstwerk die Autorenintention in dem Maße weniger wichtig, in dem der Text von uns weiter entfernt ist, sei es zeitlich, sei es geographisch. Die Autorenintention ist entscheidend für meine Reaktion (Interpretation), wenn ich direkt angesprochen bin, etwa wenn ich auf der Straße angerempelt werde und wissen möchte, ob das Absicht war oder Versehen. Sie ist wichtig, aber nicht allesentscheidend, wenn ich mich angesprochen fühlen darf oder muss, aber nur indirekt, etwa bei der Lektüre eines Artikels über männliches Sexualverhalten im viktorianischen England. Im Falle jedoch einer alten Tontafel mit Rechtsvorschriften für Priester aus dem Zweistromland fühle ich mich nicht mehr angesprochen, und insofern sind mir die Intention des Verfassers und damit der ganze Text gleichgültig (außer als Dokument, wenn ich Spezialist für die Sache bin). Man könnte sagen, dass ein Text mit zunehmender Entfernung von mir zum bloßen Naturereignis wird, Intention als Kategorie also entfällt.

Borges hat in seiner Kurzgeschichte Die Bibliothek von Babel so etwas wie eine Illustration des Sachverhalts geschaffen. Der Inhalt der Bücher dieser Bibliothek besteht aus allen möglichen Kombinationen von 25 Zeichen. Jedes der Bücher hat Platz für zirka 1,3 Millionen Zeichen, was bedeutet, dass es 251300000 verschiedene Bücher gibt, darunter eines, das nur aus a’s besteht, darunter aber auch eines, das den Text von Kants Kritik der reinen Vernunft enthält, eines, das eine Grammatik der litauischen Sprache enthält usw. Hier haben wir Texte vor uns, bei denen es keinerlei Autorenintention gibt, bei denen die Last der Aufgabe, einen Text mit Bedeutung zu versehen, tatsächlich ganz beim Leser-Bibliothekar liegt. Von praktischer Bedeutung ist der Fall jedoch nicht, denn selbst wenn das ganze Universum mit Büchern vollgepackt wäre, ergäbe das bei einem Liter Volumen pro Buch und einem Weltall von zehn Milliarden Lichtjahren Kantenlänge nur eine Bibliothek mit zirka 1080 Bänden (ohne Regale!) Und so viel Impraktikabilität schlägt sogar noch auf die Theorie durch: Eine solche Bibliothek kann es nicht geben, weil man nicht genug Atome im ganzen Weltall auch nur für die Druckerschwärze hätte, vom Papier ganz zu schweigen. Aber auch rein prinzipiell: Wie sollte man Kants Kritik finden, wenn man kein Kant ist und nicht weiß, wonach man suchen soll? Und wenn man ein Kant ist, dann spart es viel Zeit, die Kritik zu denken, anstatt sie unter 251300000 Büchern zu suchen. Der vielberedete „Tod des Autors“ ist letztlich nur eine hintergründige Paradoxie, die die Dialektik des Verstehensprozesses zwischen Sender und Rezipient außer Acht lässt. Tatsächlich besteht unsere Kommunikation überwiegend aus direkter Interaktion, und jede vernünftige Bedeutungstheorie wird daher intentional sein (und ist es in der Fachphilosophie auch).

Bei Kunstwerken liegt die Sache etwas anders, allerdings nicht diametral entgegengesetzt. Und zwar liegt ein Unterschied darin, dass man bei den Werken, über die man spricht, offenbar davon ausgeht, dass es lohnt, sie dem Verschwinden im Abgrund der Zeit zu entreißen, weil sie unersetzlich sind, was so viel heißt wie: sie sind durch leichter zugängliche Werke der Gegenwart nicht zu ersetzen. Bei Alltagskommunikation trifft das fast nie zu. Wie soll man die unersetzlichen Werke der Literatur aber verständlich erhalten? Man kann nicht beim Autor nachfragen, was er meinte, und es wäre auch gar nicht sinnvoll, denn man ist nicht direkt von ihm angesprochen. Insofern hat der „Dekonstruktionismus“ recht, wenn er zeigen möchte, dass die Werke für die heutigen Leser oft eine andere Bedeutung haben als der Autor vermutlich beabsichtigte. Das ist sogar eine ganz alte Einsicht, denn die Verfahren der Literaturwissenschaft sind entwickelt worden, weil die Autorenintention oft nicht (mehr) eindeutig zutage liegt, das Werk also zum Problem geworden, andererseits interessant geblieben ist. Kunstwerke sind, gerade wenn sie interessant sind, reicher als der Autor wusste, und das gilt sogar bei Alltagskommunikation, wo ebenfalls jede Äußerung mehr sagt als gemeint ist. Nur darf das Fremde, das Unzugängliche, die Distanz eben gerade nicht eingeebnet werden, denn warum sollte ich Shakespeare lesen, wenn ich doch immer nur wieder mich selbst auffände? All die Hilfstätigkeiten und Hilfswissenschaften – Handschriftenkunde, Archivstudien, Kenntnisse der Periode, des Autors, der Gattungskonventionen usw. – ergäben keinen Sinn, wenn wirklich der Interpret oder auch nur kollektive Verstehenstraditionen die Bedeutung des Werks (ganz) erschüfen.

Ein weiteres Beispiel für die in bestimmten Kreisen so beliebte Einebnung der Distanz zwischen Subjekt und Objekt in der Literaturwissenschaft ist die Theorie, Literatur und Literaturtheorie beziehungsweise Literaturkritik hätten denselben ontologischen Status und seien ununterscheidbar. Auch diese These ist nicht ganz falsch. Angesichts einer humorlosen Abhandlung über den Witz oder einer trockenen Statistik über die Liebe unter Jugendlichen heute hat sicher schon mancher die Grenzen einer naturwissenschaftlich distanzierenden Geisteswissenschaft gespürt. In diesem Sinne sagte Friedrich Schlegel, Poesie könne nur durch Poesie kritisiert werden. Für das Verhältnis zwischen Beobachter und Welt ist die These (aus dem Neuplatonismus stammend) vielleicht am schönsten in Goethes Xenie ausgedrückt: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken“. Aber selbst ein philosophischer Laie erkennt schnell, dass das nur ziemlich vage stimmen kann. Augenhaft muss Goethes Auge auch gewesen sein, denn um die Aussage machen zu können, dass Augen sonnenhaft sind, um die Sonne erblicken zu können, musste er vorher Augen erblickt haben, was nach seiner Aussage nur gelingt, wenn sie – auch – augenhaft sind. Wie alles andere, was Augen sonst noch sehen können, müssten Augen aber auch sein. Man erkennt, dass die Aussage letztlich ziemlich nichtssagend ist. Tatsächlich ist es mit unseren Augen so, dass sie besonders gut in dem Bereich der elektromagnetischen Wellen sehen können, in dem die Sonne besonders intensiv abstrahlt. Unsere Augen sind entstanden unter dem jahrmillionenlangen Einfluss des Lichts der Sonne. Wenn man das auf das Verhältnis zwischen Sprache und besprochener Welt übertragen darf, so heißt es: Von der Objektsprache (Dichtung) muss ein Einfluss ausgehen auf die Beschreibungssprache (Literaturwissenschaft), sonst kann diese jener nicht gerecht werden. Aber die Beschreibungssprache braucht nicht zu werden wie die Objektsprache – sie darf es sogar nicht, denn die Sonne kann sich ja gerade nicht sehen (und sogar das Auge kann sich selbst nicht sehen). Und: Die Sonne ist das Primäre, das Auge das Sekundäre.

Nun wird in der Praxis meistens nicht so heiß gegessen wie in der Theorie gekocht. Noch habe ich keine Dissertation gesehen, die ich für einen Roman hätte halten können, auch wenn die Wissenschaftsprosa mancher neuerer Autoren nicht dem Ideal durchsichtiger Klärung von Sachverhalten folgt, sondern Eigenwert zu beanspruchen scheint. Aber ich habe immerhin schon eine Habilitationsschrift in der Hand gehabt, deren Verfasserin sich weigerte, in der Bibliographie zwischen Primär- und Sekundärliteratur zu unterscheiden, weil das nicht auf der Höhe der Theorie gewesen wäre, und das in einer Arbeit, die bisher vernachlässigte und in Vergessenheit geratene Romane erschließen will, wo also jeder Leser gerne auf einen Blick sehen würde, welche Romane denn da wiederentdeckt werden. Da die Theorie aber besagt, dass es keine Wahrheit gibt, Tarskis Differenzierung zwischen Objektsprache und Metasprache aber getroffen wurde, um Aussagen Wahrheit zusprechen zu können, ist es tatsächlich widerspruchsfrei, nicht zwischen logischen Ebenen zu unterscheiden. Da kann man dann nur sagen: Hat es auch Methode, so ist es doch Wahnsinn. Und man sieht, wie wichtig der Grundsatz der Fremdkontrolle ist, denn Auswüchse wie diese sind nur in einer Situation des Ingroup-Provinzialismus verstehbar.

Und wieder zeigt sich das Autoritäre der Theorie, Literatur und Literaturwissenschaft seien ununterscheidbar. Eine Studie, die durch ihren Stil verlangt, dass sich der Leser ganz auf sie einlassen muss, um sie nachvollziehen zu können – etwas, das das Kunstwerk verlangen darf –, will nicht durch Argumente einen freien Leser überzeugen, sondern durch imperiale Gesten beeindrucken. Der Ornithologe will fliegen.

Im Zusammenhang der Theorie, Literatur und Literaturwissenschaft seien untrennbar, wird auf Einwände hin gelegentlich geantwortet, die traditionelle Differenzierung zwischen den logischen Ebenen des Kommentierten und des Kommentars sei vielleicht bei traditioneller Literatur angebracht gewesen, etwa bei realistischen Romanen des vorigen Jahrhunderts, die ihrerseits von einer objektivistischen Konzeption der Wirklichkeit, vom Glauben an Wahrheit, vom Gedanken an die Trennung von Subjekt und Objekt usw. durchdrungen seien; sie sei aber auf jeden Fall unangebracht bei literarischen Werken, die selbst die Trennung von Subjekt und Objekt der Beschreibung in Frage stellen. Tatsächlich gibt es ja seit einigen Jahrzehnten, vor allem im angelsächsischen Sprachraum, eine umfangreiche Tradition von Erzählliteratur dieser Art. Meta-Literatur ist ein Beispiel, also Literatur, deren Gegenstand die Niederschrift des Werks selbst ist, etwa Becketts Malone stirbt. Sodann gibt es Romane, die wie Literaturkritik aussehen, etwa Julian Barnes’ Flauberts Papagei. Und schließlich gibt es eine Vielzahl fiktiver Autobiographien und Biographien, bei denen die Darstellung objektiv gegebener Realität und fiktionale Dichtung ineinander übergehen, früh schon Virginia Woolfs Orlando und kürzlich Robert Nyes Memoirs of Lord Byron oder Peter Ackroyds Chatterton. Solche Literatur kann in Beziehung gesetzt werden zu der zunehmenden Tendenz des allgegenwärtigen Mediums Fernsehen, die Trennung zwischen Realität und Fiktion verschwimmen zu lassen. Man denke nur an die stufenlose Linie vom traditionellen Spielfilm über den nachgestellten Kriminalfall bis hin zu Reality-TV und Kriegsberichterstattung aus dem Hotelfenster heraus, und das Ganze vielleicht noch dauernd von Werbespots und Videoclips unterbrochen, und man wird einsehen, dass die alte Differenzierung mit bloß zwei Kategorien (real oder fiktiv) zu grobschlächtig ist. Aber gerade wenn es für die Menschen de facto immer schwieriger wird zu unterscheiden, muss die begriffliche Differenzierung umso sorgfältiger sein. Bei zunehmender Brutalität an den Schulen sagt der Pädagoge ja auch nicht: Dann geben wir eben die Unterscheidung von Gewalt und Friedfertigkeit auf!

Natürlich muss das Handwerkszeug der Literaturwissenschaft, die Begrifflichkeit usw. angesichts neuer Gattungen und Gattungsmischungen geschärft und erweitert werden, aber deswegen müssen nicht etwa die Kategorien aufgeweicht werden. Einen Prozess der Aufweichung von Objekten kann ich gerade nur mit einer harten Sprache feststellen, einen geschichtlichen Entwicklungsprozess nur mit statischen Begriffen. Außerdem scheint die Theorie auch hier weiter zu sein als die Praxis. Die fernseherfahrenen Kinder der Gegenwart jedenfalls unterscheiden in ihren Reaktionen (zum Beispiel im Grad ihrer Angst) deutlich zwischen Realität und Fiktion auf dem Bildschirm. Schon Aristoteles baute seine Funktionsbestimmung der Tragödie darauf auf, dass der Zuschauer auf eine auf der Bühne gespielte Gewalttat anders reagiert als auf eine vor unseren Augen auf der Straße.

Es braucht den Theoretiker oder Interpreten auch nicht zu beirren, dass ein Autor wie beispielsweise Ackroyd offenbar selbst an die neuen Theorien glaubt, die er seinen Romanen zugrunde legt, und sie nicht etwa nur als Spielvorlage betrachtet. Wie man im Sommer 1993 in der Times lesen konnte, hält Ackroyd Einsteins Relativitätstheorie – ganz im Sinn poststrukturalistischer Wissenschaftssoziologie – für einen Mythos. Naturwissenschaftliche Theorien sind gewiss Modelle, aber deswegen noch keine Fiktionen im Sinne von Dichtungen. Und so hat auch trotz manch kühner allgemeiner Meta-Theorie noch kein Wissenschaftssoziologe ernstlich konkret gesagt, wieso das heliozentrische Weltbild oder die Theorie Harveys vom Blutkreislauf nur fiktionale Erzählungen sein sollen. Als Dichter darf Ackroyd das natürlich denken, und man kann ihn trotzdem schätzen, so wie man ja auch kein mittelalterlicher Katholik sein muss, um Dantes Göttliche Komödie zu bewundern, kein Anhänger der höfischen Liebe, um Chaucers Troilus und Criseyde zu lieben. (Allerdings darf man Dantes oder Chaucers Weltbild auch nicht absurd oder verächtlich finden, sonst wird einem die nötige Empathie fehlen.) Man könnte sogar argumentieren, dass Literatur gerade da ihre ureigenste Provinz hat, wo sie interessante Gedankenspiele vorführt, die in der Wirklichkeit unmöglich sind, sei es praktisch wie oben bei Borges, sei es logisch wie in Wells’ Zeitmaschine.

Einige Geschichtstheoretiker behaupten, Geschichtsschreibung sei Fiktion, habe denselben ontologischen Status wie Dichtung. So hat man im Gefolge von Hayden Whites Thesen argumentiert, dass es keine historischen Tatsachen gebe, sondern dass die Geschichtsschreibung die Tatsachen erschaffe. Der Historiker konstruiere Geschichte, ganz wie der Romancier, der seine literarische Welt im Schreiben entwirft.1 Tatsächlich geht der Historiker bei seiner Rekonstruktion der Geschichte von einem gewissen Vorverständnis aus, muss entscheiden, was (ihm) wichtig ist und was nicht, muss das Material ordnen, muss Kausalbeziehungen herstellen, dem Verlauf der Ereignisse Bedeutung geben, nicht im Sinn eines höheren Ziels, aber doch in dem Sinn, dass wir bei aller zwischenmenschlichen Kommunikation ständig interpretieren, wie uns das Handeln anderer betreffen mag, wie es aufzufassen ist, ob beispielsweise als Bedrohung, als Angeberei oder als gutgemeint. Der Historiker ist zwar ein Spezialist für bestimmte öffentliche Bereiche menschlichen Handelns, vor allem in der Vergangenheit, und er arbeitet seine Darstellung und Deutung genauer aus, geht methodischer vor, macht seine Vorannahmen transparent usw., aber prinzipiell verschieden von der alltäglichen Erklärungsarbeit des Menschen ist sein Tun nicht. So lautet die These der Subjektivisten im Grunde: Alle Denk- und Sprachtätigkeit der Menschen, ob Wissenschaft, Alltag oder Dichtung, ist ontologisch gleich.

Die Geschichtskonstruktionen oder -rekonstruktionen erfolgen durch Versprachlichung (daher die poststrukturalistische These, alles sei Sprache, alles sei Text), und zwar in Form von Erzählungen, womit die narrativen Verfahren ins Spiel kommen: Erzählstandpunkt, Metapher, Vergleich, Beispiel, Litotes usw. Da auch die Dichter so vorgehen (ihre Welt besteht nur aus der Sprache, die sie konstruiert), seien Geschichtsschreibung und Dichtung auch in diesem Sinne ontologisch gleich. Richtig ist zwar, dass in früherer, dem naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal verpflichteter Geisteswissenschaft viele Historiker ernstlich glaubten, ihre Geschichtsschreibung stelle alles so dar, wie es wirklich gewesen sei. Und richtig ist, dass zum Beispiel Vorannahmen die Darstellung der „Tatsachen“ einfärben, sogar bestimmen können, etwa im Fall, dass jemand den Eindruck gewonnen hat, das Dritte Reich sei als Tragödie (für Deutschland) aufzufassen, das heißt, als schuldhaft-unverschuldetes Verhängnis, woraufhin er die ungeheure Fülle des Materials auf diese Vorannahme hin auswählen und interpretieren wird. Wenn aber in der bisherigen Theorie, der ich zuneige, zwischen fiktionalen und diskursiv-expositorischen Textsorten differenziert wird, dann nicht deshalb, weil die eine narrative Elemente enthielte und die andere nicht, denn in der Tat enthalten beide narrative Elemente; vielmehr differenziert man deshalb, weil fiktionale Texte zu anderen Fragen einladen als expositorische. Während man bei wissenschaftlichen und alltäglich-diskursiven Texten trotz der erzählerischen Elemente letztlich nach Informationsgehalt, Plausibilität und Wahrheit fragt, interessiert man sich bei fiktionalen Texten für die Kühnheit der Metaphern, für die rhetorische Brillanz, für magisch-rituelle Qualitäten wie Reim, Metrum und Rhythmus, für den architektonischen Bau, für die Übereinstimmung von Form und Inhalt usw.

In Molières Der Bürger als Edelmann erfährt der neureiche Monsieur Jourdain von seinem schmeichlerischen Rhetoriklehrer, dass er Prosa spricht, wenn er spricht, und ist freudig angetan von dieser Auszeichnung. Er kann aber natürlich gar nicht anders als Prosa sprechen, wenn er den Mund auftut, und so ist es auch mit den Historikern, mit uns allen: Wir sind noch keine Dichter, weil wir bei einer Dienstbesprechung oder einem Brief an die Versicherung narrative Verfahren benützen. Vornehmer ausgedrückt: Erzählstrukturen sind kein Differenzmerkmal zwischen geisteswissenschaftlicher Forschung und fiktionalen Texten; vielmehr ist Fiktionalität, zumindest zu einem erheblichen Teil, eine pragmatische Kategorie. Wir behandeln fiktionale Texte anders als diskursive, und man kann auch durchaus einen fiktional gemeinten Text (etwa einen historischen Roman) wie einen diskursiven behandeln und einen diskursiven (Gibbons Geschichte des Verfalls und Untergang des Römischen Reichs beispielsweise) wie einen fiktionalen.

Nun haben die Thesen der subjektivistischen Geschichtstheoretiker zwar viel Aufmerksamkeit erregt, sind aber von den Praktikern unter den Historikern ziemlich überwiegend ignoriert oder abgelehnt worden. Viele Literaturwissenschaftler jedoch haben die Auffassung, Geschichte sei nicht Rekonstruktion von Wirklichkeit, sondern vom Historiker konstruierter Text, begrüßt, und psychologisch kann man die Attraktivität der konstruktivistischen Theorien ja auch gut verstehen, würden sie doch die Literaturwissenschaft zur zentralen geisteswissenschaftlichen Disziplin machen. Tatsächlich aber können Menschen sehr gut unterscheiden zwischen Sinneseindrücken oder Erinnerungen an Sinneseindrücke auf der einen Seite und Phantasien oder Erinnerungen an Phantasien auf der anderen Seite. Vermutlich ist es ein Selektionsvorteil, wenn man das kann, und deshalb gibt es dazu auch einen Forschungszweig (Self-Awareness Studies, Reality Control Studies).

Aber von seiten vieler Romanciers und Dramatiker scheint es Schützenhilfe für die Poststrukturalisten zu geben. Der von manchen als faction bezeichnete, zwischen fiction und fact angesiedelte Roman beispielsweise ist oft als Indiz für die Auflösung der Differenz Kunst / Leben beziehungsweise der Textsorten Fiktion / expositorische Texte gedeutet worden. (Und auch in den anderen Künsten gibt es vergleichbare Tendenzen, von Warhol bis zu konkreter Musik.) Das Thema kann hier nicht ernstlich erörtert werden, aber so viel ist klar: Wenn sich die Objekte (in diesem Fall die Gattungen oder Textsorten) mischen, wenn sie vielleicht sogar zu etwas Neuem fusionieren, dann müssen sich deshalb keineswegs die Kategorien der Beschreibung mischen, dürfen es sogar nicht. Das wäre das Ende der analytischen Chemie, wenn sich, weil Wasserstoff und Sauerstoff eine Verbindung zu H2O eingehen, auch die chemischen Bezeichnungen zu etwas Neuem verbinden müssten. In der Kunst und natürlich auch im Spaß kann man das alles machen, aber das hat nichts mit ontologischen oder erkenntnistheoretischen Notwendigkeiten zu tun und braucht nicht, ja darf nicht auf die Literaturwissenschaft abfärben.

Sie ist eine Wissenschaft und muss insofern zu ihrem Gegenstand in einer gewissen kritischen Distanz mit analytischem Auflösevermögen verbleiben. Das Bekenntnis zu radikaler Subjektivität, die Annäherung der Geisteswissenschaften an die Künste, des Subjekts an das Objekt, führt zu Selbstgerechtigkeit, Kritikunfähigkeit und Narzissmus.

Analytisch orientierte Literaturwissenschaft

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