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3. Jean-Jacques Rousseau und die Entdeckung der Entwicklung des Menschen aus dem Kind

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Gleichzeitig mit der Entdeckung der Geschichtlichkeit des ästhetischen Geschmacks, der Kunstwerke und im besonderen der Literatur wurde die „Geschichtlichkeit“ des menschlichen Lebens entdeckt, insofern als die Eigengesetzlichkeit der einzelnen Altersstufen, vor allem der Kindheit und des Jugendalters, entdeckt wurde, eine Entdeckung, die gleichbedeutend war mit der Etablierung der neuzeitlichen Pädagogik und die den Weg ebnete für die Psychologie, speziell für die Seelen-„Archäologie“, die spätere Psycho-Analyse. Die epochemachende Schrift ist Jean-Jacques Rousseaus (1712-78) Emile ou de l’éducation von 1762,11 erschienen also im selben Jahr wie Hurds Letters. Dieser pädagogische Roman ist die Übertragung des Entwicklungsgedankens im ganz wörtlichen Sinn von evolutio auf den Menschen (genauer: auf das Kind und den Heranwachsenden): Rousseaus Erziehungsmethode lässt das im Kind vorhandene „natürliche“ Potential sich „auswickeln“. Rousseau nennt diese Methode „éducation négative“ (im Zweiten Buch des Emile) und meint damit eine Erziehung, die störende zivilisatorische Einflüsse fernhält, damit der Keim wachsen kann, wie es seiner Natur entspricht. Im Grunde also wird Emile nicht erzogen, sondern wächst nach seinem Gesetz.

Im Suchen nach den echten Bedürfnissen fand Rousseau, dass sich das System der Bedürfnisse im Ablauf des natürlichen Wachstums verändere: das Kind habe andere als der Knabe, der Knabe andere als der Jüngling und dieser andere als der Mann. Jede Stufe aber müsse nach ihrem Eigengesetz leben und sich entfalten, weil sonst die nächstfolgende sich nicht naturgemäß richtig werde entfalten können.12

Parallel also zur Entdeckung der Eigenart und des Eigenwertes des Mittelalters gegenüber der antiken Klassik durch Hurd entdeckt Rousseau Eigenart und Eigenwert des Kindesalters gegenüber der – sozusagen „klassischen“ – Erwachsenenwelt und historisiert damit das menschliche Leben. In den Worten von Rudolf Lasshahn:

Erst die Kontinuität der eigenen Erfahrungen, das Bewußtsein von eigenen Erlebnissen, die Einbeziehung dessen, was man einmal war, auch die Kontinuität mit den Handlungen in zurückliegenden Jahren konstituiert das Selbst.13

Parallel zum Anachronismus bei Shakespeare und den Brüdern Limburg verstand man vor Rousseau und den zeitgenössischen Pädagogen Kinder als kleine Erwachsene, deren Kleidung beispielsweise auf zahllosen Illustrationen wie die Kleidung der Erwachsenen aussieht, nur eben kleiner. Die entgegengesetzte Entwicklung ist mit Freud erreicht, bei dem das Kind sozusagen der Vater des Menschen ist – um eine Formulierung aus William Wordsworths „Immortality Ode“ aufzugreifen –, wenn auch vor allem seiner Neurosen und Pathologien.

Analytisch orientierte Literaturwissenschaft

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