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6. Die Entdeckung gesellschaftlichen Wandels: Die Historiographie
ОглавлениеDer eine oder andere wird sich vielleicht gefragt haben, wo denn die Geschichtsschreibung selbst bleibt, die historische Disziplin par excellence, hier verstanden als die Wissenschaft von der Geschichte der menschlichen Gesellschaft (eingeschlossen Politik, Krieg, Kultur). Tatsächlich begann die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Welt nicht auf dem Felde der menschlichen Gesellschaft. Bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein war man sich weitgehend nicht klar, „welch tiefe Spuren die Zeit im menschlichen Leben und Wirken hinterlassen hatte.“23 Vor allem aber entnahmen frühere Geschichtstheorien – etwa die christliche Auffassung von der Heilsgeschichte – ihre Kategorien zum Verständnis der Zeitläufe nicht diesen selbst. Geschichte ist aber nicht verständlich aus dem Studium der Bibel, sondern nur aus ihr selbst: und diese reflexive Formulierung ist beabsichtigt, denn, wie die Doppeldeutigkeit des Wortes Geschichte anzeigt, ist Geschichte sowohl Geschehen wie auch Beschreibung (und damit Verstehen) des Geschehens.
Als Vorläufer einer solchen von historischem Bewusstsein getragenen Geschichtsphilosophie ist Giambattista Vico (1668-1744) zu nennen. Und dann muss Herder mit seinen vier Bänden Ideen zur Philospohie der Geschichte der Menschheit (1784-91) erwähnt werden; hier wird zum ersten Mal versucht, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte zusammen zu sehen, womit eine Tradition begründet wird, die dann von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Auguste Comte (1798-1857) und Karl Marx (1818-83) fortgeführt wurde. Ihre Sicht der Geschichte war jedoch noch weitgehend theologisch: säkularisierter Rest der christlichen Idee der Heilsgeschichte. Erst die moderne „bürgerliche“ Geschichtswissenschaft seit Leopold von Ranke (1795-1886) und seiner Geschichte der germanischen und romanischen Völker von 1494 bis 1535 (1824) glaubt nicht länger, den Gang der Geschichte, ihre Richtung zu kennen, und schreibt Geschichte nicht mehr im Sinne eines solchen Vor-Urteils (wenn auch Ranke als konservativ eingestellter Katholik glaubte, dass es in Gott einen Sinn gebe, nur eben uns unerkennbar.)