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Zeitalter des Neoliberalismus
ОглавлениеSeit dem weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus in den 1990er-Jahren stehen internationale Organisationen unter Druck, sich der wachsenden Macht von privaten Akteuren zu öffnen. Das gilt nicht nur für die WHO, sondern etwa auch für die Welternährungsorganisation FAO, das Kinderhilfswerk UNICEF, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder den Europarat. Im Falle der WHO setzten 1993 die USA unter George Bush zunächst durch, dass die Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten eingefroren wurden: Das schon in den 1980er-Jahren eingeführte reale Nullwachstum wurde durch ein nominelles Nullwachstum ersetzt.70 Inflations- oder Währungsschwankungen wurden nicht mehr ausgeglichen und der Haushalt sinkt damit alljährlich real, also inflationsbereinigt.
In die so organisierte Finanzierungslücke traten zunehmend freiwillige programmgebundene Beiträge der Mitgliedsstaaten sowie private Akteure mit ihren jeweiligen Interessen. Unter dem Strich bedeutet diese Entwicklung, dass die WHO sich heute nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären Mitgliedsbeiträgen finanziert, über die sie frei verfügen kann, während ca. 70 Prozent der Mittel zweckgebunden sind. Vor 30 Jahren machten die Mitgliedsbeiträge hingegen noch etwa die Hälfte der Einnahmen aus.71
Im Rahmen meiner Corona-Berichterstattung für den Europarat72 hatte ich im Juni 2020 die Möglichkeit, den Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, nach den Folgen dieser Entwicklung zu fragen. Er bestätigte diese Zahlen und sagte: »Das beeinträchtigt unsere Arbeit.« Was auf der Hand liegt: Mit den »freiwilligen Beiträgen« bestimmt der Geber, was gemacht wird. Die sozialen Determinanten von Gesundheit, also Wohn- und Arbeitsverhältnisse, gesunde Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser, die in der Geschichte der WHO durchaus eine Rolle gespielt hatten, treten zugunsten rein kurativ-medizinischer Faktoren – also vermarktbare Medikamente und Impfstoffe – immer mehr in den Hintergrund. Auch in der gegenwärtigen Frage der Strategien gegen Covid-19 werden diese relevanten sozialen Faktoren weitgehend ausgeblendet.