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Schweinegrippen-Skandal
ОглавлениеDer aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie ist auch deshalb so schwierig, weil die WHO bei der letzten Pandemie-Ausrufung vor Corona völlig daneben lag. Die im Vergleich zur jährlichen Grippewelle relativ milde H1N1-Influenza aus den Jahren 2009 und 2010 (sogenannte Schweinegrippe) wurde von der WHO am 11. Juni 2009 zur Pandemie mit der höchsten der damals gültigen Pandemiestufen (Stufe sechs) erklärt. In der Folge sind in fast allen Mitgliedsstaaten vorbereitete Pandemie-Pläne in Kraft getreten bis hin zu milliardenschweren Verträgen mit Impfstoffherstellern, durch die sich die Staaten (in Deutschland die Bundesländer) zur Abnahme großer Mengen von Impfstoffen verpflichteten.
Die parlamentarische Versammlung des Europarates setzte im Dezember 2009 auf Initiative Dr. Wolfgang Wodargs, der damals als Bundestagsabgeordneter für die SPD Mitglied der Versammlung war, einen Untersuchungsausschuss ein. Im Juni 2010 wurde ein Abschlussbericht vorgelegt, der von der Versammlung mit großer Mehrheit angenommen wurde.74 Berichterstatter war nicht mehr Wodarg, da er Anfang 2010 aus der Versammlung ausschied, sondern der britische Labour-Abgeordnete Paul Flynn.
Besonders umstritten war damals die wenige Wochen vor der Pandemie-Ausrufung von der WHO vorgenommene Änderung der Kriterien dafür. So stellte der Bericht fest: »Vor dem 4. Mai 2009 lautete die Definition, dass eine Influenzapandemie dann vorliege, wenn ein neues Influenzavirus auftauche, gegen das die Bevölkerung nicht immun sei, was zu weltweiten Epidemien mit einer hohen Zahl von Todesfällen und Erkrankungen führen werde.«75 Der Schweregrad, also die Zahl der schweren Verläufe oder Todesfälle, fand sich anders als zuvor nicht mehr in der Definition wieder. Die genauen Umstände dieser bis heute bestehenden Änderung der Pandemie-Definition bleiben unklar.
Der Bericht kritisiert die Intransparenz der Kriterien-Änderung bei der WHO scharf. In der von der Versammlung mit nur einer Gegenstimme angenommenen Resolution heißt es in Punkt 2: »Die Versammlung stellt fest, dass gravierende Mängel in Bezug auf die Transparenz der Entscheidungsabläufe im Zusammenhang mit der Pandemie festgestellt wurden, die Bedenken hinsichtlich eines möglichen Einflusses der Arzneimittelindustrie auf einige der wichtigsten Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie hervorgerufen haben. Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transparenz und an Rechenschaftspflicht dazu führen wird, dass das Vertrauen in die Empfehlungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen schwindet.«
In den Jahren seit der Pandemie hat eine teils selbstkritische Debatte über die Änderung der Pandemie-Definition stattgefunden. Ein auf der Webseite der WHO veröffentlichter Text76 gesteht zumindest ein, dass in der Debatte »beide Seiten teilweise recht haben«. Denn die WHO verteidigte sich damit, dass es sich bei den kritisierten Richtlinien nicht um eine Definition gehandelt habe, sondern um einen Stufenplan für den Umgang mit der Verbreitung eines neuen Virus. Zugleich sei aber das Ziel, durch diesen Plan Panikmache zu vermeiden, gerade nicht erreicht worden – im Gegenteil. Tatsächlich wäre es medizinisch durchaus vertretbar, auch bei wenig gefährlichen Viren, die sich global ausbreiten, von einer Pandemie zu sprechen. Nur müssten die entsprechenden Pandemiepläne dann auch eine klare Gefahrenabwägung vornehmen, um verhältnismäßig zu reagieren. Die Erklärung einer Pandemie löste aber gleich einen Alarmzustand aus, der sich in keiner Weise durch Daten rechtfertigen ließ.
Trotz der damaligen medialen Panikmache mit prognostizierten Millionen Toten und öffentlichen Impfkampagnen war die Impfbereitschaft in vielen Staaten nur sehr gering ausgeprägt. Die Impfquote variierte in verschiedenen europäischen Ländern sehr stark von unter einem Prozent in der Slowakei und der Tschechischen Republik bis nahezu 60 Prozent in Schweden. In Deutschland lag die Impfquote bei unter zehn Prozent.77 Ein Großteil der auf Grundlage der Pandemie-Ausrufung der WHO bestellten Impfstoffe und Medikamente musste später vernichtet werden. Die Kosten lagen für Länder wie Frankreich, Großbritannien oder Deutschland jeweils in der Größenordnung von einer Milliarde Euro, weltweit bei schätzungsweise 30 Milliarden Euro.
Insbesondere in Schweden kam es in Folge der H1N1-Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix in mehreren hundert Fällen zur unheilbaren Nebenwirkung der Narkolepsie (Schlafkrankheit), von der vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren. Studien bestätigten später den Zusammenhang mit Pandemrix, andere Impfstoffe hatten dieses Problem nicht.78 Im Jahre 2016 verabschiedete das schwedische Parlament ein Gesetz, das für jeden Betroffenen eine Entschädigung von bis zu einer Million Euro vorsieht.79
Im Ergebnis war die Einstufung der Schweinegrippe als Pandemie durch die WHO eine gigantische Fehleinschätzung mit schwerwiegenden Folgen. Die Welt wurde unbegründet in Panik versetzt, ein zweistelliger Milliardenbetrag an öffentlichen Mitteln wurde für Impfdosen aktiviert, von denen später ein wesentlicher Teil wieder vernichtet werden musste, und viele Menschen nahmen durch die Impfung Schaden. Vieles deutet darauf hin, dass der Einfluss privater Akteure aus der Pharmaindustrie in der WHO dabei eine entscheidende Rolle spielte. In der Resolution des Europarates vom Juni 2010 heißt es in Punkt 2 geradezu prophetisch: »Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transparenz und Rechenschaftspflicht dazu führen könnte, dass das Vertrauen in die Empfehlungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sinkt. Das könnte sich bei der nächsten Krankheit von pandemischem Ausmaß – die sich als wesentlich schwerwiegender als H1N1 erweisen könnte – als katastrophal erweisen.«