Читать книгу Lockdown 2020 - Rolf Gössner - Страница 8
Das Virus für den Regimewechsel
ОглавлениеDas Ausbrechen der Krankheit ist fälschlich allem Möglichen zugeschrieben worden: vom verschwörerischen und/oder zufälligen Freisetzen einer Virengeneration aus dem Institut für Virologie in Wuhan4 – eine zweifelhafte Unterstellung, die über soziale Netzwerke, vor allem über paranoide Facebook-Posts aus Hongkong und Taiwan verbreitet, aber inzwischen von konservativen Pressestellen und militärischen Nutznießern5 weiter unterfüttert wird – bis hin zur (angeblichen) Neigung der chinesischen Bevölkerung »unsaubere« oder »abartige« Nahrungsmittel zu verzehren. Letzteres vor allem, weil die Virenausbreitung auf Fledermäuse oder Schlangen zurückgeführt wird, die auf halblegalen »wet markets«6 angeboten werden, die auf wilde und seltene Tiere spezialisiert sind (obwohl das nicht der tatsächliche Ursprungsort ist7). Beide Narrative verdeutlichen offensichtliche Kriegstreiberei und Orientalismus, die die Berichterstattung über China generell kennzeichnen, und die schon von einigen Medienartikeln8 hervorgehoben wurden. Doch auch diese Stellungnahmen beschränken sich meist nur auf die Wahrnehmung des Virus in der kulturellen Sphäre – und beschäftigen sich weniger mit den weit brutaleren Dynamiken, die hinter dem Medienzirkus im Verborgenen wirken.
Eine etwas komplexere Variante begreift wenigstens die ökonomischen Folgewirkungen, auch wenn die möglichen politischen Nachspiele für den rhetorischen Effekt aufgebauscht werden. Hier begegnen uns die üblichen Verdächtigen, von den bekannten drachentötenden Kriegsfalken bis hin zu den aufgeregten Wohlhabenden des »gehobenen« Liberalismus: Pressefirmen vom National Review bis hin zur New York Times9 orakeln bereits darüber, wie der Virenausbruch zur Legitimitätskrise der KP Chinas führen könnte, obwohl bisher kaum ein Hauch von Aufstand zu spüren ist. Doch das Körnchen Wahrheit solcher Voraussagen liegt in der Einschätzung der wirtschaftlichen Dimensionen der Quarantäne – ein Aspekt, der Journalisten mit einem Aktien-Portfolio, das schwerer wiegt als sie selbst, kaum entgehen kann. Denn Tatsache ist, dass die Leute, trotz der Regierungsappelle zum Abstandhalten, bald gezwungen sein werden, sich zu »versammeln«, um den Bedürfnissen der Produktion zu dienen.
In China selbst ist der Verlauf dieser Ereignisse schwer vorauszusagen, doch hat der Moment bereits einen raren, kollektiven Prozess des Nachdenkens über »Gesellschaft« ausgelöst. Die Epidemie hat (nach den vorsichtigsten Schätzungen) nahezu 80.000 Menschen direkt infiziert. Doch sie versetzte dem Alltagsleben im Kapitalismus einen Schock, der 1,4 Milliarden Menschen traf und sie zu einem Augenblick der Selbstreflexion zwang. In diesem Moment der Verunsicherung stellten sich alle zeitgleich eine Reihe tief greifender Fragen: Was wird mit mir geschehen? Mit meinen Kindern, meiner Familie, meinen Freunden? Wird es für uns genug zu essen geben? Wird mein Einkommen gezahlt? Werde ich meine Miete bezahlen können? Wer trägt für all das die Verantwortung? Auf seltsame Weise entspricht die Einzelerfahrung im Großen und Ganzen der eines Massenstreiks – aber eines solchen, der in seiner nicht-spontanen, von oben verordneten und insbesondere unfreiwilligen Total-Atomisierung die Grundrätsel unserer strangulierten politischen Gegenwart ebenso klar hervortreten lässt, wie die Massenstreiks des letzten Jahrhunderts die Widersprüche ihrer Ära erhellten. Die »Quarantäne« erscheint somit wie ein Streik, der zwar seiner gemeinschaftsbezogenen Charakteristika beraubt, aber gleichwohl geeignet ist, sowohl der Psyche als auch der Volkswirtschaft einen tief greifenden Schock zu versetzen. Schon allein aufgrund dieses Umstandes, ist sie es wert, genauer darüber nachzudenken.
Selbstverständlich handelt es sich bei Spekulationen über den bevorstehenden Sturz der KPCh – ein beliebter Zeitvertreib des New Yorker und des Economist – um vorhersehbaren Unsinn. Inzwischen rollen die normalen Medienunterdrückungsrituale ab, in denen offenkundig rassistische Leitartikel in den Massenmedien von Kommentaren auf Web-Plattformen gekontert werden, die gegen Orientalismus und andere Ideologie-Facetten polemisieren. Doch fast die gesamte Diskussion bleibt auf der Ebene der Darstellung – oder befasst sich bestenfalls mit der Eindämmungspolitik und den wirtschaftlichen Folgen der Epidemie – ohne jegliche Auseinandersetzung mit den Fragen, wie solche Krankheiten überhaupt produziert, und noch seltener, wie sie verbreitet werden. Doch nicht einmal dies wäre genug. Überflüssig ist der »Eins-Zwei-Drei«-Marxismus, der dem Schurken die Maske abreißt, um festzustellen: Ja, es war wirklich der Kapitalismus, der das Coronavirus hervorgebracht hat. Das wäre auch nicht scharfsinniger als die Auslandskommentatoren, die einem Regimewechsel auf der Spur sind. Selbstverständlich ist der Kapitalismus schuld, aber wie genau findet die Verzahnung der sozioökonomischen Sphäre mit der biologischen statt, und welche Lehren sind aus der Gesamterfahrung zu ziehen?
In diesem Sinne eröffnet uns der Ausbruch der Epidemie zwei günstige Möglichkeiten zur Reflexion: Zunächst bietet sich ein lehrreicher Durchblick, in dem wir substanzielle Fragen hinsichtlich der kapitalistischen Produktion in ihrem Verhältnis zur nicht-menschlichen Welt auf einer grundlegenderen Ebene neu bewerten können, weil nämlich, kurz gesagt, die »natürliche Welt« unter Einschluss ihrer mikrobiologischen Unterlage ohne Bezug zur gesellschaftlichen Organisation der Produktion unverständlich bleibt (da die beiden eben nicht getrennt voneinander existieren). Zugleich werden wir daran erinnert, dass der einzige Kommunismus, der den Namen wert ist, das Potenzial für einen voll politisierten Naturalismus inkludiert. Zum Zweiten können wir diesen Augenblick der Isolation für unsere eigenen Überlegungen zum gegenwärtigen Zustand der chinesischen Gesellschaft nutzen. Manche Dinge werden erst deutlich, wenn alles zu einem unvorhergesehenen Stillstand kommt und eine Verlangsamung dieser Art kann nicht anders, als vorher verborgene Spannungen sichtbar zu machen. Weiter unten werden wir diesen beiden Fragen nachgehen und nicht nur zeigen, wie die kapitalistische Akkumulation solche Plagen hervorruft, sondern auch, wie der Augenblick der Pandemie selbst ein widersprüchlicher Umstand der politischen Krise ist, die den Menschen die vorher ungesehenen Potenziale und Abhängigkeiten in der sie umgebenden Welt erkennbar macht, während sie zugleich einen weiteren Vorwand für die Ausdehnung der Kontrollsysteme in die Alltagsabläufe bietet.