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Ben Siegert und die „Märchenwelt“ Angostura

Benjamins erste Begegnung mit der üppig-fruchtbaren Umgebung am Orinoco ließ ihn womöglich glauben, er sei in einer „Märchenwelt“ gelandet. Eine nie gesehene bunte Artenvielfalt von Menschen, Pflanzen und Tieren traten vor sein Antlitz, und er konnte sich geradezu daran berauschen. Faszination ergriff ihn erneut, wie vor einigen Monaten, als er mit dem Schiff über den Atlantik und durch das karibische Meer gesegelt war und in der Natur Farben wahrnahm, die seiner Vorstellung vom Paradies ziemlich nahekamen. Das Wasser zwischen tiefblau und smaragdgrün, die Sonne gülden, wie er sie nichtsahnend in Kinderliedern besungen hatte, und die Inseln schöner, als sie der englische Schriftsteller Daniel Defoe 1719 in seinem Bestseller „Robinson Crusoe“ beschrieben hatte, dessen Lektüre ihn von jeher faszinierte.

Der junge Arzt machte sich zügig mit der spanischen Sprache vertraut und lernte täglich viele Termini, die ihm den Alltag zu erleichtern und versüßen halfen. Überhaupt kapierte er sehr leicht, gerade so, wie dies seine Lehrer in der schlesischen Heimat bereits anerkennend festgestellt hatten. Zu seiner neuen Alltagskultur in Angostura gehörten neben den vielen Menschen europäischer, amerikanisch, indianischer, orientalischer und afrikanischer Abstammung solche, in deren Stammbaum sich offensichtlich eine Menge ethnischer Herkünfte vermengten. Sein erster Eindruck erhielt vielfache Bestätigung, die Menschen in Venezuela seien eine höchst eigene, bunte und tolerante Mischung aus allen möglichen Erdteilen, die sich in seinem Lebens- und Erlebnisraum mehr und mehr verfestigte. Er war glücklich, diesbezüglich seine Erwartungen und Hoffnungen auf das Erfreulichste erfüllt zu sehen.


Ciudad Bolívar (Angostura) am Orinico 1867, westlicher Teil

Welch reiche Natur, welch faszinierende Flora und welch prächtige, wilde und vielfältige, ja fabelhafte Tierwelt hatte ihn im östlichen Venezuela begrüßt? Sein schon in der Schule entflammtes Interesse an biologischer Natur und Feinstruktur hatte angesichts des neuen wunderbaren Umfelds in den Tropen einen immensen Impuls erhalten. Es war wie ein Wiedererwachen des Interesses, das seine Verwandten und „Schulmeister“ vor vielen Jahren in ihm geweckt hatten. Staunend und zuweilen mit offenem Mund nahm der den Zauber wahr, der ihn in seiner neuen Heimat erfasste und ihn unwillkürlich an die intensive Lektüre der Berichte und Erzählungen Alexander von Humboldts erinnerte, dessen Lebens- und Gedankenwelt er früh im aufgeklärten Elternhaus begegnet war. Wie gebannt las er bereits als Jugendlicher alles, dessen er von und über den berühmten Universalgelehrten habhaft werden konnte. Die Zeichnungen und präzisen Beschreibungen Humboldts sollte er in den nächsten Jahren selbst nachvollziehen können. Ja, Benjamins eigene Einsichten auf dem Gebiet der Flora, Fauna und HumanMedizin sollten die Erkenntnisse des namhaften Geistes- und Naturforschers in einschlägigen Teilen unterstreichen. Die praktische Erfahrung und systematischen Erkenntnisse des Arztes, Unternehmers, Erfinders, Gesellschafters und männlichen Oberhaupts einer später vielköpfigen Familie sollte – wie sich in den folgenden Jahrzehnten herausstellte – gewiss als wohlerfahrene und pragmatisch wertvolle Erweiterung des Wissenshorizonts der menschlichen Spezies gesehen werden.

Kurz vor seinem 24. Geburtstag kam Dr. Benjamin Siegert also im August 1820 in die Stadt am Orinoco, also etwa ein Jahrzehnt vor der Erlangung der Unabhängigkeit des Landes von spanischer Herrschaft und dem Tod Bolívars. Der Mediziner war in Hamburg als Heeresmedicus rekrutiert worden und hatte bereits als noch nicht einmal Zwanzigjähriger in der Schlacht bei Waterloo humanitäre Dienste als Nachwuchschirurg geleistet. Nun war er auf dem südamerikanischen Teilkontinent im Heer des Caraqueños Simón Bolívar als helfende Hand eingesetzt, und es gab kaum medizinische Aufgaben und Herausforderungen, denen er sich nicht zu stellen hatte. Zerschossene Körper, zerfledderte Wunden, Brüche und Frakturen waren in Waterloo ebenso wie im südamerikanischen Befreiungskrieg an der Tagesordnung. Dazu kamen jenseits des Atlantiks Seuchen und rätselhafte Krankheiten, die Ben Siegert von europäischen Schauplätzen her nicht kennen konnte, die gleichwohl aber seine ganze Aufmerksamkeit und Kompetenz in Anspruch nahmen. Dasselbe galt für die Medikamente, die ihm in Westeuropa zur Verfügung standen, die nun aber in den heißen venezolanischen Gefilden wohl nicht fehlten, aber häufig anderer Art waren. Im Laufe der Zeit sah er sich als Mediziner und wissenschaftlich neugieriger Pharmazeut genötigt, solche Arzneien und heilenden Substanzen selbst zu verwerten und deren Wirkung sorgfältig zu prüfen. Das Erfreuliche war, dass das Gebiet des tropischen Regenwalds und das Umfeld in Angostura eine Fülle und endlosen Variantenreichtum an Heilpflanzen und Kräutern bereithielten. In fachkundiger Anwendung halfen diese gelegentlich, die schlimmsten Beschwerden zu lindern und die Patienten aus dem Armeekorps und auch Private zu kurieren. Ben Siegert ging bald der Ruf voraus, ein Doktor von geradezu wundersamer Kraft zu sein. Seine Kompetenz und menschliche Größe würde nicht nur seiner bald flott gedeihenden Familie zugutekommen, sondern den Lebewesen aller Couleur in und um Angostura. Besonders häufig begegneten Siegert Magenbeschwerden, fiebrige Erkrankungen und innere Verletzungen von Seeleuten, die vom Atlantik respektive dem Karibischen Meer über das Orinoco-Delta an den wichtigsten Handelsplatz der Region, Angostura, gelangt waren. Sie begaben sich bald in die Obhut des Heeresmedicus und Universalmediziners, der im Laufe der 1820er Jahre in Venezuela sein Wissen um die Biologie und Wirkung der Heilpflanzen und Kräuter gewissenhaft vertiefte und erweiterte.

Heiße Nächte in den Tropen. Benjamins Anfänge in Angostura 1820 mit María, seiner ersten Ehefrau

Ben lernte nicht nur die Landschaft und die Sprache kennen, sondern knüpfte auch zahlreiche Kontakte mit seinen neuen Mitmenschen. Ein junger, gutaussehender und gebildeter Mann war in diesem Umfeld sehr willkommen, sowohl bei den Einwanderern – zu deren Gruppe er selbst zählt, wie er auch über den deutschen Kaufmann Georg Blohm aus Lübeck schreibt – als auch bei den Einheimischen.

Ben war fast 24 Jahre alt, als er in Angostura südamerikanischen Boden betrat. Die märchenhafte tropische Fauna und Flora bezauberten ihn von allem Anfang an. Er fühlte sich kraftvoll in deren Bann gezogen, dem er sich nur schwerlich zu entziehen vermochte. Im Grunde wollte er diese Faszination des Bis-dahin-nie-Gesehenen nachhaltig auf sich wirken lassen. Die wilde Schönheit des Regenwalds bemächtigte sich seiner. Benjamin spürte von der ersten Sekunde an einen Liebreiz in sich, dem er sich, das ahnte er, kaum würde widersetzten können. Die Menschen waren durch die üppige Natur verwöhnt und herausgefordert zugleich. Die Frauen, denen er in Angostura begegnete, waren von bezaubernder Schönheit, die die Phantasie des jungen Arztes anregten und ihn für sich einnahmen, wenn er nachts zuweilen im geräumigen Doppelbett oder in seiner Hängematte erwachte. Ein ums andere Mal musste er feststellen, dass er von der Intensität der frisch erlebten Bilder bis tief in seine Träume hinein erfasst wurde. Freie Triebkräfte begannen, ihn so gewaltig in ihren Bann zu ziehen, wie er es in der Alten Welt nicht erlebt hatte.

Im Rahmen eines rauschenden Festes, das in den späten Nacht- und frühen Morgenstunden in einer der alten Villen an den Ufern des Orinoco stattfand, trat er leicht angeheitert über die Veranda in die herrlich duftige, sternklare Nacht hinaus. Ein laues Lüftchen ließ die Besucher in jener Nacht die wohltuende Frische genießen und lud zum Lustwandeln ein. Benjamin wurde auf eine jener bezaubernden wild-schönen Gestalten, die das Fest bot, aufmerksam. Wieder im Haus, setzte er sich zu ihr auf eine der umherstehenden Chaiselongues und plauderte ein wenig mit ihr. María del Pilar zeigte sich sogleich angetan von seinem inzwischen sehr flüssigen Spanisch, und Ben erfuhr näheres über Juan Concepción, ihren Vater, sowie über ihre Mutter María Pastora Flores. „Wie bezaubernd, der Nachname ‚Blümchen‘ der attraktiven Mutter“, dachte Benjamin insgeheim und wandte sich wieder ganz dem jungen „Blümchen“ zu. „Wollen wir ein paar Takte tanzen?“, fragte er sie freimütig und atmete den wunderbaren Duft ein, der María del Pilar umwölkte. Sie trug ein helles leichtes Kleid aus feiner Baumwolle, wie man dies in den heißen Tropen häufig sieht, und Ben fielen die mattglänzenden Seidenstrümpfe ins Auge, die ihre hübschen Beine bezaubernd zur Geltung brachten. Überhaupt fesselten ihn die graziöse Gestalt und deren inspirierende herzliche Frohnatur, kurzum: Er war Knall auf Fall in sie verliebt und konnte seine Empfindungen nicht mehr länger verbergen. Nach einigen ausgelassenen Tanzrunden und einer erklecklichen Anzahl „Whiskycitos“ schlug er María vor, mit ihm ein bisschen frische Luft zu schnappen, und sie begaben sich in die parkähnliche Umgebung des säulengetragenen kolonialen Gebäudekomplexes der Familie Araujo an den Ufern des Orinoco. Auf einem moosweichen duftigen Plätzchen ließen sie sich nieder. Zwischen ihnen brannte die Luft, jeder spürte die elektrisierende Erregung des Gegenübers.

Benjamin fühlte sich in Angostura zunehmend wohl und heiratete am 25. Februar 1821 die geliebte María del Pilar Araujo Flores, die damals 17 Jahre alt war. Sie war eine wunderbare Ergänzung zu seiner Ausbildung – wie es in der Heiligen Schrift heißt „Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.“50 Als spanischstämmige Venezolanerin war María von Kindesbeinen an mit der wundersamen Natur der Tropen vertraut und stand ihrem Ehemann stets hilfreich zur Seite, indem sie mit Freude und Elan als seine Beraterin in Sachen heimischer Pflanzenwelt fungierte.

Der „Familienmensch“ Ben Siegert

Auch in anderer Hinsicht beglückte María ihren Ehemann, denn schon ein Jahr später kam der erste Nachwuchs dieser Familie zur Welt. María gebar ihm fünf Kinder, von denen vier überlebten, drei Mädchen und ein Junge. Die Tochter Carolina Romualda de las Nieves Siegert Araujo wurde 1822 geboren. Stellen wir uns vor, wie beglückt Ben gewesen sein muss, als er dieses zarte Wesen zum ersten Mal erblickt; die winzigen Finger seinen Zeigefinger umschließen; wie er seiner glückseligen Frau beim Stillen zusieht, als die Tochter an deren „natürlicher Quelle“ gierig und schmatzend die gesunde Muttermilch trinkt; wie sie wächst und gedeiht!

Zwei Jahre später ist María wieder schwanger und bringt 1824 eine weitere Tochter zur Welt: María Carlota. Nun sind sie ein glückliches, vierblättriges Kleeblatt! Auch Carlotas Entwicklung nahm einen sehr verheißungsvollen Gang. Es waren kaum die ersten fünf Monate nach der Geburt vergangen, da spürte Mutter María del Pilar beim Stillen einen leichten Biss. Tatsächlich zeigte sich bei Carlota bereits der erste Zahn. Dennoch schien es ihr bei Muttern zu gefallen, denn sie nahm von Anfang an keinen Schluck Milch aus dem Fläschchen oder der Tasse, sondern die edle Flüssigkeit aus der „Naturquelle“. María ließ es nicht an entsprechenden ironischen Kommentaren fehlen: „Bevor Carlota alle Zähne hat, wird sie hoffentlich ein Einsehen haben und die Muttermilch nicht mehr brauchen!“

Dieser Umstand ergab sich gewissermaßen auf natürlichem Wege, denn kaum war Carlota zwei Jahre alt, kündigte sich ein weiterer Anwärter für den Platz am „Busen der Natur“ an. Damals gab es noch keine zuverlässige Empfängnisverhütung, so dass der Körper der Frauen durch kurz aufeinander folgende Schwangerschaften ausgezehrt wurde. María schenkte 1826 in Angostura ihrem Ehemann – oder Juan Teofilo Benjamin Siegert, wie er nun in geschriebenen Dokumenten hispanisiert genannt wird – den ersten Sohn, Juan Teofilo Benjamin Siegert jr., der nach seinem Vater benannt, aber kurz Juan gerufen wurde. Ein wahrer Wonneproppen war der Kleine, dem das Spielen mit seinen beiden Schwestern immensen Spaß bereitete und der, ganz im Gegensatz zu Carlota, Mutters Brust geradezu ignorierte. „Sehr rücksichtsvoll“, hörte man seine Mama gelegentlich sagen. Er schien eine Präferenz für warme Kuhmilch zu haben, von der er nicht genug trinken konnte. Der Vater nannte als Nebenerwerbs-Hacendado einige Kühe sein Eigen, und so war die Versorgung mit Milch, Käse, Quark, Butter und Sahne stets gesichert. Vielleicht lag es daran, dass Juans Wachstum vehement vor sich ging und er später der mit Abstand größte der Familie war.

Kaum hatte Juan selbständig gehen gelernt, kündigte sich bereits wieder eine weitere Geburt an. 1828 war es soweit: María del Carmen („Carmelita“) erblickte das helle Licht der tropischen Welt, und Ben Siegert war nun bereits Vater von vier lebenden Kindern. Dies betonen zu können ist nicht selbstverständlich in einer Zeit, in der das Säuglingssterben kein ganz seltenes Ereignis war. Siegert hatte, noch bevor Venezuela im Todesjahr Bolívars 1830 unabhängig wurde, bereits die Todgeburt einer Tochter erlebt. Und als ob der Kindstod nicht genug Leid mit sich gebracht hätte, starb auch noch seine liebe Frau María 1829 am Kindbettfieber.51

Gleichzeitig mussten seine Dienste als Heeresmedicus und „Amtsarzt“ ebenso zuverlässig weiter geleistet werden wie all die anderen Aufgaben, die tagtäglich seine Kompetenz und sein energisches Handeln erforderten. Es war wahrlich nicht das leichteste Los, das er gezogen hatte. Die Lebenserwartung der Frauen lag damals bei etwa 45 Jahren – heute liegt sie eher um die 85 Jahre. Er selbst verliert in den Briefen über den Tod seiner jungen Frau kein Wort, doch es muss ihm das Herz zerrissen haben, dass er seiner zärtlich geliebten Gattin und der Mutter seiner Kinderschar nicht hatte helfen können! Auch ein Medicus gelangt an seine Grenzen und ist nicht der Herr über Leben und Tod! Schon relativ früh hatten die vier Kinder keine leibliche Mutter mehr. Leider muss man ernüchtert feststellen, dass dies in jener Zeit alles andere als eine Seltenheit bedeutete. Unser heute ach so hartes Dasein lässt sich mit den Brutalitäten und Härten des damaligen Menschseins kaum vergleichen. Auch die sozialen Verlaufsformen, ökologischen Bedingtheiten, Geschwindigkeiten des Lebens, allgemein die ökologischen Umstände waren deutlich andere, allerdings eher im Schneckentempo. Dennoch kamen die laufenden Veränderungen den Zeitgenossen bereits „rasend“ vor. So hat jede Zeit und Generation ihr Tempo und ihre spezifische Lebenserwartung.

Ohne der Lebensgeschichte Bens vorzugreifen, kann an dieser Stelle schon gesagt werden, dass er – nicht zuletzt, da der jungen Familie nun die Mutter fehlte, der umfangreiche Haushalt weitergeführt werden musste, bald wieder heiratete. Die vier Kinder wollten erzogen und ausgebildet werden, wobei seine älteste Tochter mit gerade einmal sieben Jahren den Tod der Mutter verkraften musste. Die Wiederheirat verwitweter Menschen war nicht unüblich; auch Bens Vater war zweimal verheiratet gewesen. 1830 schloss Benjamin Siegert ein weiteres Mal Bund der Ehe, und zwar mit María Bonifacia Gómez de Záa.

Der reich gedeckte Tisch Venezuelas

Abgesehen von der Möglichkeit, aus den heimischen Pflanzen medizinische Heilmittel herzustellen, stellten die Flora und Fauna auch eine reiche Auswahl an Nahrungsmitteln bereit. An Vitaminen fehlte es in Venezuela sicher nicht. In kaum einem Land wurde so viel frisches Obst gegessen und als Saft getrunken wie in Bolívars Heimatland. Die Parchita (Maracuja) gehört dazu ebenso wie die lechosa (Papaya), Guayaba (Guave), melón (Honigmelone), Patilla (Wassermelone) und amon (Lidschi). Die nispero sapoteado, eine süße Frucht, die zum Genuss genau die richtige Reife haben muss, ergänzte oft die reiche Auswahl verlockender Früchte. Aber auch in anderen Teilen der Welt bekannte saftige Genüsse wie die Erdbeeren (fresas), Brombeeren (moras), Orangen (naranjas) und die Limone (limón) wuchsen um Angostura in unglaublicher Üppigkeit.

Die Speisefolge beginnt häufig mit einer traumhaften Fischsuppe samt Yuka und diversen Gemüsesorten. Bei Siegerts auf dem Tisch landeten zudem caraotas negras, also schwarze Bohnen und plátanos (Kochbananen). Es handelte sich um Zutaten, die María Siegert gerne als Ergänzung zu carne mechada kochte, wie in Venezuela das in Fasern zerpflückte Rindfleisch genannt wird. Das ganze Gericht nannte sich pabellón criollo und wurde mindestens einmal in der Woche von der florierenden Familie Siegert genüsslich verschlungen. Noch häufiger standen Arepas (Maisfladen) auf dem Speisezettel, die man im Grunde mit allem aß, sei es Hühnerfleisch (pollo), Rindfleisch, Schinken, Käse, Wurst oder sogar Krabben als Füllung. Panillas, kleine Maispfannkuchen, kamen ebenso häufig auf den Tisch. Zu den Lieblingshappen von Ben Siegert gehörten Empanadas, d.h. frittierte Teigtaschen aus Maismehl, die er bevorzugt mit Weißkäse aß. Diesen queso Guayanas bereitete Bonifacia Siegert ebenfalls selbst. An Weihnachten oder anlässlich gehobener Feierlichkeiten kamen obligatorisch die raffinierten dunkelgrünen Hallacas auf den Tisch, eine reichhaltige Besonderheit, bestehend aus verschiedenen Fleischsorten, Huhn, Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten, Rosinen, Oliven, grünem Pfeffer, Kräutern und Gewürzen. Deren Masse wird von Maisteig umhüllt und, in Bananenblätter eingewickelt, in heißem Wasser gekocht. Hallacas gehören mindestens so selbstverständlich zum Festessen wie in Benjamins alter Heimat Schlesien die Weihnachtsgans.

Maniok und Mais sind die Grundnahrungsmittel, die von den alten Indios übernommen wurden. Die Herstellung von Maniokbrot – Casabe – ist uralt. Der Stängel der Yucca wird zerkleinert und der Saft mit Hilfe einer elastischen Korbpresse (Sebucan) herausgepresst. Der trockene Rest wird zu Mehl gemahlen und auf einer Herdplatte zu Fladen verarbeitet. Casabe war in Guayana schon immer ein begehrtes Grundnahrungsmittel der Landbevölkerung, und nicht nur dieser. Bei Siegerts kam es regelmäßig auf den Tisch und Rosa, die Muchacha (die treue Seele des Hauses), verstand dessen Zubereitung vorzüglich. Daneben waren es landwirtschaftliche Produkte, die häufige Verwendung fanden, wie Aki-Pfeffer und Onoto, der rote Farbstoff, der von den Indios sowohl zur Körperbemalung als auch zum Färben von Speisen genommen wird.52

Sofern Milch vorhanden war, was bei den Siegerts der späteren Jahre aufgrund der Viehhaltung stets der Fall gewesen ist, wurden Speisen und Getränke con leche genossen. Die häufig mit Früchten vermengten Milchmixturen heißen Merengadas und geben dem Trank eine gewisse milde Feinheit.

An einem mächtigen Fluss wie dem Orinoco zu wohnen, der mit über 2000 Kilometern Länge zu den imposantesten Wasserläufen Lateinamerikas zählt, war gleichbedeutend mit reichlicher Ergänzung der Küche durch Fisch und Krustentiere opulentester Art. Auch Aale landeten in der Pfanne bzw. in der Räucherkammer der Familie Siegert, ebenso wie Muscheln und Krebse wohlschmeckendster Sorten.

Fleisch war in unermesslichen Mengen verfügbar, gilt doch die vom Orinoco durchzogene Landschaft der weiten Ebenen, der Llanos, als eine der viehreichsten des nördlichen Südamerikas. An Großvieh sowie Schweinen, Ziegen, Schafen und Auswilderungen davon war kein Mangel.

Ben Siegert glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er eines schönen Tages in einer der Orinoco-Buchten ein Tier wahrnahm, dessen Gattung er nicht sicher bestimmen konnte. Einer seiner Hausgehilfen klärte ihn auf: Es handele sich bei dem jungbärengroßen Geschöpf um ein Schwein, das größte Nagetier der Welt. Seine Verwandten seien die niedlichen Meerschweinchen, die von den Neu-Granadinern bzw. Ecuadorianern gerne aufgespießt knusprig gegrillt verspeist würden. Die Familie Wasserschwein heiße Capybara und nähre sich gemeinhin von Rinden, Wasserpflanzen und Gräsern. Daher suchten diese „Fettsäcke“ vorzüglich in der Trockenzeit Wasserläufe wie den Orinoco. Sie hätten, erklärte José, der Muchacho Ben Siegerts, eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Menschen und deren Verhaltensmustern, vor allem der maskulinen Species des homo sapiens. Denn die Capybaras würden in den Dämmerungsstunden langsam aktiv und in der Nacht noch aktiver, gerade wie ihre menschlichen „Onkels“. Da musste José selber lachen und fuhr belustigt fort: „Die Riesenmeerschweine markieren ihren ‚Hofstaat‘ mit den Duftdrüsen. Sie kommunizieren mit ihren Genossen durch bellen, schnurren und pfeifen, gerade so wie manche Campesinos in den Llanos. Sie können bis zu 70 Kilo schwer werden und wenn sie lieb zu ihrem Weibchen, oder sagen wir besser: Weib, sind, können sie bis zu sieben Säuglinge werfen, die beim Wurf zwischen einem und zwei Kilo wiegen. Deren Lebenserwartung bei der Geburt liegt vielleicht bei 12 Jahren. Es ist gut, wenn die Eltern viele Zitrusfrüchte zum Fressen besorgen, denn die armen Schweine können selbst kein Vitamin C produzieren, weshalb Fälle von Skorbut bei ihnen gelegentlich vorkommen. Aber das wissen Sie ja selbst besser als ich“, ergänzte José mit heiterer Miene.

In der Tat waren Benjamin schon zahlreiche Fälle von Skorbut untergekommen, zumal auf Schiffen, denen wochenlang die Zufuhr von Zitrusfrüchten nicht möglich war. Benjamin musste unwillkürlich an seinen Kameraden aus Quito denken, der ihm von gegrillten Meerschweinchen als seiner Leibspeise erzählt hatte. Was es nicht alles gibt auf dieser Welt, dachte sich der Médico stillerdings. Ihm kamen jene Spanferkel in den Sinn, die er zusammen mit seinen Geschwistern auf dem Hof im heimischen Groß-Walditz in Schlesien mit Vorliebe verzehrt hatte.


Die besondere Faszination des Naturfreundes Ben Siegert galt aber inzwischen vor allem den Pflanzen in seiner tropischen Umgebung. Besonders die Orchideen hatten es ihm angetan, z. B. die sog. Maiblume (Flor de Mayo) oder die Mangroven des Orinoco-Deltas. Der gelb blühende Trompetenbaum bot eine Farbintensität, die kaum zu übertreffen war. Die Farbvielfalt wurde eigentlichen nur noch überboten von der Vogelwelt. Jeder Ornithologe müsste sich im Orinoco-Gebiet wie in einem Mekka fühlen, so faszinierend üppig präsentiert sich die fliegende Vielfalt. Was er da an kleineren Piepmätzen vor die Augen bekam, ließ ihn zahllose Male in Freuden gen Himmel schauen. Da schwirrten Kolibris neben Papageien, Tukanen und Hoazinen, die sich an einem Wettbewerb der Farbenvielfalt zu beteiligen schienen. Nicht zu überbieten war das Weißflügeltrupial, dessen leuchtendes orangenes Federkleid am Bauch seinesgleichen sucht. Diese fliegenden Farbpaletten wurden neugierig beobachtet von Flamingos, Roten Sichlern, Braunpelikanen und gelegentlich von Andenkondoren, die mit ihrer Flügelbreite von aufgespannten drei Metern allen zeigten, wer der Rekordhalter unter den Vögeln ist. Ben kam zuweilen seine neue Welt wie ein Traum vor, nur mit viel bunteren und größeren Lebewesen. Scharlachsichler, Halsbandpekaris und Capybaras: alles Geschöpfe, von denen er vor Jahren in der Alten Welt weder den Namen noch die Existenz gekannt hatte. Er dachte gelegentlich an die befreundeten oder verwandten Menschen, die er in Schlesien in erklecklicher Zahl erinnerte, darunter einige Jäger. Er nahm sich fest vor, in seinem nächsten Brief an die Schwester Friederike von den Pudus zu erzählen, den kleinsten Hirschen der Welt, die sich nun in erreichbarer Nähe von ihm befanden. Würde die Schwester womöglich glauben, er wolle sie auf den Arm nehmen? Er verwarf den Gedanken sofort wieder, denn José schlug vor, bald aufzubrechen, da sie sich der Dämmerungsstunde näherten, „der Dämmerungsstunde der Nachtaktiven“, betonte er absichtlich und setzte wieder sein schelmisches Grinsen auf.

Wie helfe ich mir selbst? Ben Siegert als Arzt und Pharmazeut in eigener Sache

1819 war die Unabhängigkeit Venezuelas – des früheren Generalkapitanats Venezuela und Vizekönigreichs Neugranada der spanischen Krone – erreicht. So existierte seit dem 17. Dezember des Jahres und dem Kongress von Angostura das sog. Großkolumbien. Es handelte sich um „Gran Colombia“, das aus Venezuela, Neu-Granada (inklusive Panama) und Ecuador bestand.53 Mit diesem konstituierenden Ereignis war bis 1830 von der Republik Kolumbien die Rede. Ben Siegert leistete nicht nur dem politischen Unabhängigkeitsstreben wertvolle Dienste. Vielmehr trug er mit professionellem medizinischem Kennen und Können zur Heilung, Genesung und Wohlfahrt bei. Die physische wie gelegentlich auch psychische Unterstützung, also die robuste Gesundheit seines Umfeldes, war ihm ein wahrhaftiges Anliegen. Er half sowohl den kämpfenden Einheiten in ihrem gefährlichen Unterfangen als auch der Zivilbevölkerung in und um Angostura. Er gab dem Gemeinwesen alles, was in seinen Kräften stand, bis zum Grenzbereich des Möglichen. Völlig erschöpft ließ er sich oftmals auf seine rindslederbezogene Chaiselongue fallen und versuchte zu regenerieren. Seine Frauen, die die Heilkräuter der Region bestens kannten, versorgten ihn mit immer neuen Mischungen von Ölen, Tees sowie herzstärkenden Tinkturen, die ihre Wirkungen zuverlässig entfalteten. Gleich einem neugierig forschenden Botaniker verzeichnete er systematisch die Namen der Pflanzen und Gewächskompositionen, die ihm im willfährigen Alltag laufend begegneten. Als lerneifriger Zeitgenosse und „Humboldtianer“ war er ohnehin frühzeitig im Bilde und kopierte die Mechanismen des preußischen Universalgeistes und seines Partners Aimé Bonpland, Pflanzen zu benennen und zu präparieren, damit die Nachwelt daraus Wissen und oft heilende Wirkung schöpfen konnte. Gelegentlich erwähnte es Ben in Briefen an seinen Bruder Carl oder an die Schwester Friederike. Seine pharmazeutischen Kenntnisse halfen ihm nicht nur in seiner Eigenschaft als Arzt, er verdingte sich bald als intimer Kenner der Pharmazie und ließ die erkrankten Menschen in seinem Umfeld dank dieser Arzneien oft scheinbar wundersam gesunden.

Ben erklärte seiner Verwandtschaft eingehend per Brief Herkunft und Verwendung der Pflanzen. Gurkengewächse wie die Peonias und Pericocos wüchsen wild und seien wohlschmeckend. Die Sarrapia gebe es mit und ohne Kapsel. Die Rinde der Wurzel des Baums der Sarrapia ohne Kapsel gebe die in der Medizin so berühmte Cortex Simarubae. Siegert empfahl auch ein Strauchgewächs namens Tartaro emetico, das sehr schön blühe und deshalb auch als Zierrat angebaut werde. Er wies stets auf die – gewünschten und unerwünschten – Wirkungen hin. In einem Brief an seinen Bruder Carl in Schlesien schrieb Ben über Sarrapia: „Es hat jedoch eine Erbrechen erregende Eigenschaft und wird seiner Körner halber so benannt.

Der „Javillo ist ein großer, aber sehr giftiger Baum. Wer in seinem Schatten schläft oder auch sich nur einige Zeit darunter aufhält, schwillt gleich an. Der Saft aus dem Stamm ist weiß und klebrig. Man tröpfelt davon in die hohlen schmerzhaften Zähne, wovon diese sogleich aufhören zu schmerzen und binnen wenigen Tagen ganz zermalmt ausfallen, übrigens den gesunden nicht schadet. Man gebraucht diese Fruchtkapseln häufig zu Streusandbüchsen, indem man zuvor durch die kleinere Öffnung behutsam die Samen herauszieht und sie wegen dieser sonderbaren Figur halber auch nur schicke – die Samen selbst haben nichts giftiges an sich, dürfen jedoch weder gekaut noch gegessen werden!“54 Das zeigte exemplarisch, wie sehr der Humanmediziner Siegert auch als Dentist gebraucht werden konnte und wie sehr auch ein Apotheker in ihm steckte, der er in Venezuela de facto auch wurde, ja werden musste.

Der „Seiba, Seidenbaum, wird sehr groß und ausgebreitet und seines angenehmen Schattens halber viel zu Promenaden angepflanzt. Die Wolle oder vielmehr Seide, die dieser Baum in ungeheurer Menge produziert, wird in Venezuela sehr häufig, statt Federn, zu Kopfkissen und anderen Polstereien benutzt, worauf es sich sehr angenehm und weich ruht!6 Man sieht: Der Mediziner hatte auch einen Sinn fürs Gemütliche, Entspannende und Bequeme.

In einem Brief an Bruder Carl in Begleitung einer Sendung u. a. mit Samenkörnern verwies Ben auf präzisere Angaben zu deren Handhabung: „Die Paraparas mit Kapseln sind als solche nur zum Säen anwendbar. Falls Du davon weiter keinen Gebrauch zu machen gedenkst, so schicke zwei an Eduard und drei an Paul; aber füge ja die in den Briefen vom 9ten (in Siegerts Brief an seinen Bruder Carl vom 9. Juni 1834, Anm. R.W.) angeführte weitere Beschreibung davon ausführlich bei.“55 Das ist ein gutes Beispiel für die Transformation von Gebräuchen und Hilfen zwischen der Neuen und der Alten Welt. Der Austausch brachte offenbar nicht nur Fluch, sondern auch Segen.

„Pucheri – wird Pudscheri ausgesprochen – ist nicht zum säen bestimmt – kommt von dem Rio Negro her – wird als Gewürz statt Muskatnuß gebraucht und ist äußerst magenstärkend und windtreibend.56

„(Fructas de Curro sic!)Frutas de burro – kommt von einem strauchartig-niedrigen Baum. Diese getrockneten Früchte sind sehr medizinalisch sowohl innerlich als äusserlich – werden sehr häufig gegen Durchfälle, die von Erkältungen oder Unverdaulichkeiten herrühren, Magenschwäche und Indigestionen in einfacher Infusion, warm oder kalt, gegeben. Man stößt auch davon einige Früchte, wirft sie in rohes kaltes Wasser und trinkt als gewöhnliche Tichana davon – ist also sehr stärkend und astringierend. Der äußerliche Gebrauch ist bereits im Briefe vom 9ten Juni (Siegerts Brief an Bruder Carl vom 9. Juni 1834, Anm. R.W.) angeführt, kann aber auch ohne die Verbindung mit dem (Ihuáco sic!) Ituaco für sich angewandt werden, den größten Teil davon behalte für Dich wenn das Mittel Dir anschlagen sollte und schicke den Neffen bloß einige Träubchen von den frischeren Früchten zum säen. –

Paraparas ohne Kapseln – sind als Spielerei der hiesigen männlichen kleinen Jugend ein unzertrennbares Object – so wie zu unserer Zeit die bunten Bohnen es in Schlesien waren.

Viele der wunderbaren Früchte sind inzwischen auch uns Heutigen bestens bekannt, z. B. die Mango. Sie ist der Kern von einer sehr gutschmeckenden Frucht gleichen Namens – dieser Baum trägt vom 4ten Jahre an Früchte – kann in Treibhäusern von wenigstens 60° bis 80° Wärme nach Fahrenheit sehr leicht aufgehen und gezogen werden. Das Aufgehen der Kerne ist sehr langsam und müßen täglich ein paarmal begossen werden – der Baum für sich liebt überhaupt die Feuchtigkeit und wächst nicht sehr hoch – sehr aromatisch –.

Nispero – ebenfalls eine sehr wohlschmeckende Frucht, die durch und durch fleischig und so süß wie Honig ist nebst viel aromatischem Gehalt. Die Kerne gehen sehr langsam auf und müssen stark begossen werden. Der Baum liebt Schatten u. etwas sandigen Boden. – Ihnaco sind die runzligen Stengel. – (Desengano sic!) Desengaño – ein schön gewachsener Baum zum Zierath in Gartenanlagen, giebt schöne, weißlich-gelbe wohlriechende Blumen. […] Ich bin sehr neugierig darauf zu wissen, ob diese Kleinigkeiten einige Aufnahme finden werden?“ 57

Siegert war wie angedeutet offenbar nicht nur ein begnadeter Arzt, Pharmazeut und Gourmet, sondern hinterließ auch als profunder Biologe einen ziemlich kompetenten Eindruck. Überdies hatte er einen Blick für und Freude an ästhetischen Formen und Strukturen. An Ernst Haeckels „Kunstformen der Natur“ hätte er gewiss seine wahre Freude gehabt. Doch diese wurden erst um die nächste Jahrhundertwende veröffentlicht. Sie gehörten mehr zum Lebenshorizont seiner Nachfahren, vor allem der Töchter, die sich davon für eigene Entwürfe und Muster von Stickereien, Klöppeleien und Kleidermodellen inspirieren ließen.

Aufgrund der Tatsache, dass Ben Siegert in den späteren Jahren laufend Samen und Pflanzen nach Europa zu seinen Verwandten schickte, wurde er in absentia 1838 als Anerkennung zum Mitglied der Medizinischen Gesellschaft in Halberstadt ernannt.

Kompetenz als Arzt in Person – Ben Siegert

Ben Siegert hatte sich zunächst als Arzt einen Namen gemacht. 1832 schrieb er nach Deutschland: „Viele nennen mich sogar Vater, indem ich nur der einzige Arzt und Wundarzt hier seit vielen Jahren bin, und auf diese Weise werde ich auch besonders sehr geliebt und geachtet, wohl auf eine sehr schmeichelhafte Weise behandelt…58 Als ich im Monat August 1820 hier ankam, gab es sehr viele ansteckende und gefährliche epidemische Krankheiten im Lande, worunter das gelbe Fieber (im spanischen la certentura america) und das schwarze Erbrechen (el vormit negro) die schlimmsten waren, und wovon das Land bisweilen heimgesucht wird. Vom gelben Fieber wurde ich befallen, behandelte mich selbst und genaß sehr bald. Nachher litt ich eine kurze Zeit am viertägig kalten Fieber, und später in den Jahren [18]23 und 24 auch an Leberverstopfungen, jedoch heilte ich mich mit Gottes Hilfe sehr schnell aus … Alle diese überstandenen schweren Krankheiten dienen in diesem Lande dazu, sich vor anderen ähnlichen Krankheiten abzuhärten.“…

„Es befanden sich damals aber keine wirklichen Aerzte und Wundaerzte hier, und die wenigen, die früher hier existierten, hatten die herrschenden Krankheitsseuchen bereits hinweggerafft. Nachdem ich das Glück gehabt hatte, mehrere schwere und kritische Kuren sowohl in der Medizin als auch in der Chirurgie glücklich zu vollziehen und die Epidemien sich bedeutend vermindert hatten, geriet ich darauf sehr bald in ein grosses Ansehen mit Hohen und Niedrigen und vorzüglich mit dem Gouvernement…“ 59

In der Tat hatte Ben Siegert in relativ kurzer Zeit in Angostura erfolgreich Fuß gefasst. Jedenfalls befand er sich 1824 bei der ersten öffentlichen Sammlung für die Friedhofsanlage mit acht Pesos unter den größten Spendern. Insgesamt kamen 732 Pesos und vier Reales zusammen und zudem trugen José Tomás Machado 25 fanegas Kalk und Pedro María Ortiz für zehn Tage die Bezahlung eines Maurers bei.7

Ben Siegert entwickelte sich zu einem Multitalent, das höchste Anerkennung, eben von „Hohen und Niedrigen“ für seine außerordentliche Expertise und seine vielseitige und umfassende Kompetenz erfahren durfte. Nebenbei erwiesen sich die qualitätvollen Tätigkeiten auch noch als lukrativ, und der Rang eines Obrist-Leutnants brachte ihm neben der privaten Wertschätzung auch öffentlichen Rang und Namen in gesellschaftlicher und pekuniärer Hinsicht. Er wurde als umfassend gebildet und jederzeit hilfsbereit angesehen und sein Leistungsvermögen genoss bald die allgemeine und weitreichende Bewunderung der Zeitgenossen. Damit erschien er geradezu prädestiniert für Posten und Ämter in der Community. So begleitete er nicht nur das Amt des Stadt-Physikus, sondern zeichnete für den Aufbau einer Klinik in Angostura mit verantwortlich, in der er ab 1842 auch die Position des Direktors des Stadtkrankenhauses von Angostura wahrnahm 60.

Amargo de Angostura oder „Angostura (Aromatic) Bitters“: Ben Siegerts kreative Schöpfung von 1824

Angostura Bitters. Oder Angostura Aromatic Bitters – so sollte die von ihm entwickelte Marke später heißen. Spanisch: Amargo de Angostura.

Da Ben bekannt war, dass viele der dort heimischen Kräuter von den Einheimischen als Hausmittel verwendet wurden, verlegte er sich mit aller Energie auf das Studium der Tropenflora, um ein geeignetes Mittel gegen die durch das kraftzehrende Klima verursachten Krankheiten zu finden. Unterstützt wurde er dabei zweifelsohne durch die Expertise und dem botanischen Wissen seiner „besseren Hälften“, die als kenntnisreiche Kreolinen von Kindesbeinen an mit der einheimischen Flora und Fauna vertraut waren.

Im Jahre 1824 gelang es ihm nach langen Versuchen, aus den verschiedensten Kräutern ein Tonikum herzustellen, das aufgrund seiner hervorragenden Wirkung gegen Magen- und Darmbeschwerden aller Art, gegen Appetitlosigkeit, Blutarmut, Neurasthenie und allgemeine Schwäche und überdies durch sein wunderbares Aroma sofort überall den glänzendsten Anklang fand. War anfangs diese aromatische Bitter-Essenz nur den Freunden und Bekannten Dr. Siegerts bekannt, so gewann das unschätzbare Mittel bald unter den Bewohnern Venezuelas und durch die Besatzungen fremder Schiffe und das Land besuchende Reisende immer weitere Verbreitung. Voller Enthusiasmus rief ein Engländer nach dem ersten Versuch aus: „Pack my box with five dozen liquor jugs!“ und stellte damit gleichzeitig den Rekord des kürzesten, alle Buchstaben des Alphabets enthaltenden Satzes auf.

1830 konnte Siegert bereits die erste Sendung seiner Innovation nach Deutschland und England schicken, d.h. über den permanenten Bedarf in seiner Arztpraxis hinaus für größere Märkte produzieren, und bald darauf trat der Angostura Bitters nicht durch Reklame, sondern vorzüglich durch Empfehlung von Mund zu Mund, seinen Siegeszug über die ganze Welt an.

Das wahrhaftig stärkende Mittel hatte durch die medizinische Profession seines Schöpfers von vorneherein einen erstklassigen Leumund. Was konnte überzeugender sein, als ein Medium, das auf das Wohl des Menschen Gesundheit gerichtet ist und zudem die ideale Mixtur für die allerorts auf der Welt lebenden Feinschmecker; Wobei die sprachliche Kreativität im Falle des Angostura Bitters wohl auch nicht fehlginge, noch mehr die Feintrinker anzusprechen. Jedenfalls steht der feine Gaumen im Zentrum des globalen Konsuminteresses.

Ben selbst beschrieb sein Tonikum mit folgenden gewinnenden Worten: „Des Morgens, nüchtern, und vor dem Mittagessen genommen, ruft dieser Bitter den vortrefflichsten Effekt [hervor]: Er belebt die Esslust als auch die Verdauungskräfte, besonders bei hypochondrischen und hysterischen Personen auf eine sehr auffallende Weise. Gegen Blähungen, Magenerkältungen und Diarrhoen leistet er ebenfalls die ausgezeichnetsten Dienste.“61

Gründung der Fa. Amargo de Angostura (Angostura Bitters)

Die aus ersten bescheidenen Versuchen im Jahr 1824 in seiner „Apotheke“ entstandenen Extrakte wurden also zu einem wohltuenden, durchaus auch medizinischen Medikament vervollkommnet, dem Angostura Bitters, der aufgrund seiner heilsamen Wirkung bald solche Nachfrage fand, dass er die Herstellung bedeutend erweitern musste. Seine Tinktur, die er ursprünglich als Medizin aus mehreren pflanzlichen Stoffen und alkoholischen Auszügen herstellte, wurde von Seeleuten, Offizieren und Kaufleuten in alle Welt getragen, erhielt bei zwölf Weltausstellungen die Goldmedaille und wurde an nahezu allen europäischen Königshöfen eingeführt.


Der weltberühmte aromatische Angostura wird seit 1824 nach demselben geheimen Rezept hergestellt – auf der Verpackung stehen heute lediglich Wasser, Alkohol, Gewürze, natürliche Aromastoffe, Zucker und als Farbstoff Karamel; versehen mit dem Hinweis, dass keine Angosturarinde enthalten sei, da der Name lediglich auf die Ursprungsstadt Angostura verweise. Der Absinth enthält nach heutigen Kenntnissen Enzianwurzel, Bitterorange – eine orangenähnliche Zitrusfrucht mit bittererem Geschmack, Gewürznelken, Kardamom, Zimt, Sarrapia-Samen und Chinarinde, die vor allem in Venezuela reichlich wächst und gedeiht. Zudem zieren das Etikett jeder Flasche als Echtheitssiegel das Konterfei und das Faksimile der Unterschrift Dr. J.G.B. Siegerts.

Ben Siegert – kreativ, innovativ und produktiv – gründete 1824 die Fa. Amargo de Angostura (Angostura Bitters) – dies sollte eines Tages als Geburtsstunde einer Weltmarke gelten, was sicher in den 1820er Jahren noch niemand zu prognostizieren gewagt hätte. Die steile Karriere des stärkenden Mittels machte es dann tatsächlich erforderlich, dass Ben, der mit der Leitung seiner Apotheke und des Stadt-Hospitals und seiner eigenen Praxis als Chirurg und Allgemeinarzt auch hier auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn war, 1856 sowohl die Praxis als auch die Leitung des Stadt-Hospitals aufgeben musste, um sich komplett diesem prosperierenden Unternehmen zu widmen. Später nahm er seine Söhne in die Firma auf, die wiederum ihren Nachwuchs für das Geschäft rekrutierten.


6 BS an Carl vom 22.12.1834. Seidenbaum ist eigentlichen „Árbol de seda“. Ceiba hingegen ist eine Pflanzengattung aus der Familie der Malvengewächse in der Unterfamilie der Wollbaumgewächse.

7 Tavera-Acosta, Anales, S. 402-403. 1 fanega (G) = 137,27 l; 1 fanega = 55,488 l; 1 aroba = 15,91 l.

Angostura

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