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Deutsches Leben in der Ferne

Landsleute in Angostura

Der Schlesier Ben Siegert war Anfang August 1820 nach Angostura gekommen und sollte zeitlebens dort verharren. Georg Blohm aus Lübeck, der seit 1824/25 in Westindien und dann in Venezuela lebte, war eine Zeitlang zusammen mit Siegert der einzige Deutsche in der Stadt am Orinoco. Blohm war bezeichnenderweise über das dänische St. Thomas, wo er sich auch verheiratet hatte, nach Venezuela gelangt. Die beiden Männer verstanden sich auf Anhieb ausgezeichnet und verbrachten die freie Zeit, so sie über dieselbe verfügten, mit kulturellen Vergnügungen und anderen geeigneten Formen der Entspannung vom anstrengenden Alltag. Es waren vornehmlich Sonaten, die die beiden intonierten. Siegert spielte jedoch nicht nur das Piano, sondern komponierte auch eigene Tanzstücke und sonstige Weisen, die er am 3. März 1847 mit Übersee-Post an seinen Bruder Carl in Begleitung eines Korbs Tabak nach Schlesien schickte.62 Ben notierte unter dem Brief als Post Scriptum: „Ich übersende Dir nebenbei zwei kleine Hefte fürs Fortepiano, ein Heft enthält die Compositionen eines Freundes von mir, worin ein sehr hübscher Walzer steht, welchen er mir dediziert hat, und das andere sind leichte Tanzstücke und eine kleine Probe meiner eigenen Composition. Zum Spasse schicke ich Dir diese Musikstücke, und wenn dieselben Dir und den Deinigen sowie auch Deinen Musikfreunden gefallen sollten, wird es mir ausserordentlich lieb sein. Dein Korb Taback führt die Bezeichnung S.H.Nr.7.“

In den 1830er Jahren, also mit der Unabhängigkeit Venezuelas, gelangten eine Reihe deutscher Kaufleute in das ostvenezolanische Gebiet. Einer der ersten mit bekanntem Namen über das Wesergebiet hinaus war Hermann Wätjen aus Bremen. Er war der Spross einer angesehenen Kaufmannsfamilie und lebte ab 1832 in Angostura. Weiterhin hielt sich seit Mitte 1833 auch Adolf Wuppermann aus Frankfurt/Main hier auf. Beide sollten später Schwiegersöhne von Ben Siegert werden. Heinrich Frick aus Frankfurt am Main, der sich vor dem 9. Juni 1834 am Orinoco etablierte, war ein Vetter von Wuppermann. Mit Hermann Lorenzen (†1889) ließ sich ein weiterer hanseatischer Kaufmann in Ost-Venzuela nieder. Auch er nahm später eine Siegert-Tochter, Carmelita, zur Ehefrau. Ben Siegert war also recht früh sehr eng verwandtschaftlich mit der Kaufmannschaft Angosturas bzw. der Hansestädte verbunden und es versteht sich von selbst, dass die Schwiegersöhne und ihre Familien die medizinisch-pharmakologischen Dienste ihres Schwiegervaters dankbar in Anspruch nahmen. Und freilich nicht nur sie, denn es kamen auch einige Mediziner hinzu.

Ben sah die Entwicklung vor der Mitte des 19. Jh. durchaus nicht unkritisch, eher abwägend, quasi ambivalent, im Grundton gleichwohl positiv. 1847 schrieb er an Bruder Carl: „Die Zeiten sind hier auch schlechter geworden. Der Luxus nimmt jeden Tag mehr zu, die Industrien vervielfältigen sich: Statt einem Kaufmann, wie früher, sind jetzt zehn. Statt einem Schuster zwanzig und statt einem Arzt viere, und dabei dieselbe Anzahl von Einwohnern. Besonders befinden sich jetzt viele deutsche, meistenteils Kaufleute, welche alle mich ausschließlich zum alleinigen Hausarzte haben, welcher Umstand mir viel Vorteil gewährt, und so bringe ich häufig nur in deutscher Gesellschaft zu, was vor 15 bis 20 Jahren gar nicht der Fall war.“63

Man kann sich vorstellen, dass angesichts der Verdichtung des Freundes-, Bekannten- und Verwandtenkreises die Versorgung und Ausstattung des Siegertschen Haushalts mit Gütern aller Art auf das Beste bestellt war. Die sozialen Verflechtungsbeziehungen sind wichtige Grundmauern der Vertrauenskultur, die nicht nur dem sogenannten „ehrbaren Kaufmann“ der Hanseregion elementar erscheint. Viele helfende Hände konnte er bei seinem Aktionsradius wahrlich gut gebrauchen. Außerdem bot der rege Schiffsverkehr jederzeit die Möglichkeit, Briefe und mündliche Nachrichten auszutauschen. Unter seinen späteren hanseatischen Schwiegersöhnen befanden sich schließlich namhafte Reeder, Spediteure, Logistiker und nicht nur Dienstleister bzw. Kaufleute im Handel en gros und en détail. Neben der kaufmännischen Expertise war im Übrigen eine sehr wesentliche gefragt: Sprachkompetenz. Wer professionell und erfolgreich im Markt agieren wollte, musste seine Kundschaft sehr gut verstehen. Dies galt freilich gerade für einen Arzt. In dessen Praxis konnte die Kommunikationsfähigkeit zuweilen lebenswichtig sein. Motive, Bedürfnisse, Präferenzen, Mentalitäten, Schmerzherde und Glücksnester frühzeitig und präzise identifizieren zu können, muss die Befähigung von Ärzten und Kaufleuten gleichermaßen sein. Auch diesbezüglich war Ben ein Vorbild. Seine beiden Ehefrauen sprachen anfänglich kein Wort deutsch und er 1820 noch kaum Spanisch. Allerdings beherrschte er als Mediziner Latein und spätestens seit seiner turbulenten Zeit in Frankreich und Waterloo beachtlich Französisch und größere Brocken anderer europäischer Sprachen. Es kam nicht von ungefähr, dass er bei seinen Nachkommen darauf größten Wert legte und zu beträchtlichen mentalen und Bildungsinvestitionen bereit war. Sein Lebensweg, seine Erfahrungen hatten ihn schon relativ jung mit unterschiedlichsten Weltanschauungen, Geisteshaltungen, Denkweisen, Zeremonien, Ritualen, Festen, Spielregeln und Traditionen innerfamiliär und außerhalb begegnen lassen, so dass seine Sinn- und Wahrnehmungswelt bereits früh sensibel und reich ausgestattet waren. Genau dies wollte er seinen Liebsten weitergeben. Solcherlei sozialen und ökonomischen Schlüsselvariablen sah er, der Humanist, Arzt und leidenschaftlicher Anthroposoph, als ebenso wichtig wie keinesfalls selbstverständlich an. Seine Töchter und Söhne konnten ein schönes Lied davon singen. Vision und Wahrheit sollten sich kraftvoll und dynamisch annähern.

Europäische Kaufleute: Pioniere im tropischen Angostura und auf Trinidad

Westindien und die Orinoco-Regionen zeichneten sich bereits in der Frühen Neuzeit als multikulturelle Begegnungszentren aus. Günstige Witterungsbedingungen, fehlende Eiseskälte, üppige Wasserläufe und die faszinierend vielseitige, wunderschöne Fauna und Flora versprachen ein paradiesisches Dasein. Die tropische Welt war schon immer verführerisch und brandgefährlich zugleich. Die Dialektik aus Wildheit und Leichtigkeit entfaltete über Generationen hinweg Anziehungskräfte, denen sich Menschen aller Schattierungen permanent wissentlich oder ahnungslos aussetzten. Früher noch als die Deutschen waren Engländer (z. B. Robert Dick) und Italiener in Angostura präsent. Unter letzteren befanden sich Namen mit beachtlichem Renommee wie beispielsweise Juan Bautista Dalla Costa und später dessen Sohn Antonio.64 Juan, der aus dem italienischen Verona stammte, war ein Schwager des Generals Carlos Soublette und arbeitete eng mit dem in Lübeck geborenen Georg Blohm zusammen. Der „Caballero verones“ war 1814 von der Insel St. Thomas nach Angostura gekommen und hatte dort 1818 Isabel Soublette Jerez de Aristeguieta geheiratet.65 Man kann sagen, die Italiener und die Deutschen in Angostura etablierten sich zügig in der venezolanischen bürgerlichen Oberschicht und legten damit eine nachhaltige Grundlage für einen fruchtbaren internationalen Gesellschafts- und Handelsaustausch. Hinzu kamen etliche Engländer, Niederländer, Dänen und Franzosen. Neben den Nationen mit Eigentümern in der Karibik und den sprachlichen Einfärbungen durch die Mutterländer fanden sich immer auch einige Kaufleute mit asiatischer Prägung auf der pazifischen Seite des südamerikanischen Nordens sowie jüdische Kaufleute und freilich Seeleute aus aller Welt.


Hafenstraße und das Haus der Deutschen in Ciudad Bolívar

Die deutschen Gerolds waren auf relativ abenteuerliche Weise von Hessen-Darmstadt nach Trinidad gekommen. Die Geschichte beginnt mit dem aus Bordeaux stammenden Franzosen Charles Hugon. Er hatte – dem Rat des jungen Franzosen Jean Boissière folgend – in der Queen Street von Trinidad ein kleines Haus gekauft und einige Jahre später ein hübsches Mädchen mit einem aristokratisch klingenden Namen geheiratet. Charles Hugon eröffnete einen Laden für Schiffszubehör und Eisen- bzw. Metallkurzwaren. 1812 unternahm seine Frau eine Europareise und kam in diesem Zusammenhang in die ländliche Gegend von Hessen-Darmstadt um den Ort Eschau. Dort verunglückte ihre Kutsche im Schnee und Madame Hugon trug einige Verletzungen davon. Ihr zu Hilfe kam der Ratsherr von Eschau namens Gerold und nahm Madame Hugon in seinem Haus auf, wo seine Frau die Verletzte umsorgte und ihr drei Monate lang Gastfreundschaft gewährte. Es war die Zeit, in der sich Napoleon Bonaparte auf Expansionskurs befand. Jedenfalls kämpfte der älteste Sohn der Gerolds gerade in Russland. Madame Hugon machte die Bekanntschaft mit den beiden anderen Söhnen, Christian und Anselm, denen sie anbot, sie mit nach Westindien zu nehmen und so die französische Wehrpflicht zu umgehen. Die beiden Brüder nahmen das Angebot an, reisten mit nach Trinidad und begannen, bei Charles Hugon in Port of Spain zu arbeiten. 1815 starb der älteste Sohn der Familie Gerold auf dem Schlachtfeld. Gerold Senior fiel irgendwelchen Plünderern zum Opfer. Da die Hugons selbst keine Kinder hatten und 1828 in den Ruhestand gingen, übergaben sie das Geschäft den beiden jungen Herren, welches beide unter dem Namen C. & A. Gerold weiterführten.66 Im Laufe der Jahre veranlassten sie ihre Neffen aus Hessen-Darmstadt zur Mitarbeit. So gelangten die Familien Wuppermann, Feez, Urich und Zürcher in die Karibik.

Die Urichs gehörten zu jenen Geschäftsleuten, die im 19. Jh. von Trinidad aus – aber mit starken Bezügen zu Venezuela – Geschäfte betrieben. Ihr unternehmerisches Wirken umfasste auch Spezialbereiche wie beispielsweise die Wal-Industrie oder die Kokosnussöl-Herstellung. Der Walfang wurde im nahegelegenen Golf von Paria bereits seit den 1820er Jahren betrieben, da die Wale zum Kalben dorthin kamen. Einige Wale waren bis zu 80 feet lang, also über 24 Meter.8 Es wurden drei Wal-Stationen errichtet, zwei davon in Gasparee. Zu den Wal-Fabrikanten gehörten neben den Urichs die Tardieu und auf der Insel Mono die Gerolds.67

Letztere eröffneten eine Filiale in Ciudad Bolívar zusammen mit dem Engländer Henry Dick unter dem Firmennamen „Dick & Wuppermann“. Adolph Wuppermann heiratete eine „Ganteaume woman from Mayaro.“ Dort lernten sie Ben Siegert und seine flüssige Innovation kennen. Nicht zuletzt auf diese Weise fand jener vorzügliche Angostura Bitters regere Verbreitung in der Welt. Der Sohn Adolphs, George Wuppermann, zog 1839 nach Trinidad. 1870 heiratete er Josephine Hancox in New York. 1872 ging die Firma von Gerold und Urich bankrott. Das Geschäft wurde jedoch von Joseph Hancox, dem Vater Josephines, reaktiviert. Er war in demselben Jahr wie seine zweite Tochter mit ihrem Mann John Neilson Harriman nach Trinidad gekommen, um seiner Tochter zu helfen. Man kam überein, das Geschäft unter dem Namen seines Schwiegersohns, J.N. Harriman & Co. zu treuen Händen seiner Tochter Josephine Wuppermann, weiterzuführen.

Leider verstarb Josephines Schwester, Elisabeth Harriman, in Trinidad, und Harriman zog bald darauf in die Vereinigten Staaten zurück. So führten George und Josephine Wuppermann das Geschäft unter dem Namen J.N. Harriman & Co. fort.68

8 1 foot (Fuß) = 12 inches = 30.479947 cm (Hans-Joachim von Alberti, Maß und Gewicht. Geschichtliche und tabellarische Darstellungen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin (Ost) 1957, S. 255).

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