Читать книгу Rollin Becker - Leben in Bewegung & Stille des Lebens - Rollin Becker - Страница 13
1. STUDIUM UND PRAXIS DER OSTEOPATHIE 1.1. EIN TIEFER OZEAN DES STUDIUMS
ОглавлениеÜberarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten 1982 in einem Grundkurs der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Alexandria, Virginia.
Um das, was ihr bislang in eurer Praxis getan habt, mit dem zu verbinden, was ihr während dieser Woche lernen werdet, muss nun ein gewaltiger Übergang stattfinden. Unsere Hauptaufgabe als Lehrer ist es, euch dabei zu helfen, diese Brücke so bequem wie möglich zu überqueren. Gleichzeitig muss ich euch jedoch auch darauf hinweisen, dass das, was wir diese Woche tun werden, vor allem harte Arbeit ist.
Als einen Teil der Brücke, die wir benutzen, um diesen Übergang zu vollziehen, habe ich an die Tafel die vier grundlegenden osteopathischen Prinzipien notiert, die euch am College beigebracht wurden:
1.Der Körper ist eine Einheit.
2.Der Körper besitzt selbstregulierende Mechanismen.
3.Struktur und Funktion stehen in reziproker Beziehung zueinander.
4.Eine vernünftige Behandlung basiert auf dem Verstehen der selbstregulierenden Körpermechanismen und der wechselseitigen Beziehung von Struktur und Funktion im Körper.
Das sind Grundprinzipien, die ihr schon euer gesamtes Praxisleben lang kennt; zuerst habt ihr sie in eurem ersten Jahr an einem osteopathischen College gehört. Wir sind uns alle einig, dass das schöne Aussagen sind. Aber wie viele von euch realisieren, während ihr diese Behauptungen hört und lest, dass wir hier über einen lebendigen Mechanismus sprechen? Aus unserer Ausbildung, in der wir nur gesehen haben, wie sich die Dinge bei einem toten, auf dem Seziertisch liegenden Körper verhalten, bringen die meisten von uns das Gefühl mit, dass wir mit ihm machen können, was wir wollen.
In der kommenden Arbeitswoche sprechen wir jedoch über einen lebendigen Körper als eine Einheit, einen lebendigen selbstregulierenden Mechanismus, eine lebendige Struktur und Funktion, die in reziproker Beziehung zueinander stehen, sowie über eine auf diesem Verstehen basierende, lebendige Behandlung. Diese Mechanismen sind bereits belebt, sie sind gesund. Das ist der Grund, warum wir heute hier sind. Wir finden es nun notwendig, eine zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, nämlich mit einem lebendigen Mechanismus zu arbeiten. Und wir lassen ihn die Arbeit für uns tun, anstatt etwas mit ihm zu machen. Wir sind hier, um zu lernen, wie dieser Mechanismus für uns arbeitet, und dass es Regeln und Gesetze gibt, die es uns ermöglichen, ihn für uns arbeiten zu lassen. Es gibt Wege, ihn zu ermuntern, in eine aktive Zusammenarbeit zu gehen – mit der wir dann wiederum kooperieren. Wir machen nicht etwas mit ihm, wir kooperieren; denn er arbeitet bereits für uns.
Deshalb ist das Ziel dieses Kurses, zu zeigen, wie Gesundheit und Funktion sich durch anatomisch-physiologisch funktionierende Mechanismen ausdrücken. Wir sind hier, um zu lernen, wie unser Körper und unser Geist, all unsere verschiedenen Funktionseinheiten, für uns arbeiten, wenn sie gesund sind. Wir sind nicht hier, um die Anatomie und Physiologie eines Kraniosakralen Mechanismus zu unterrichten – das sind lediglich die Werkzeuge, mit denen wir spielen werden, die uns etwas zeigen und von denen wir lernen. Wir sind nicht nur hier, um zu lernen, wie wir Krankheit und Traumen in diesem Mechanismus diagnostizieren und behandeln, sondern um zu erfahren, wie Gesundheit aus dem Inneren eines lebendigen Mechanismus heraus geliefert wird. Das erfordert von uns, allmählich zu begreifen, dass wir alle einen primären inneren Arzt haben, zu dem der Kraniosakralen Mechanismus dazugehört – man kann sie nicht trennen – es ist alles eine Einheit. Wir verstehen also allmählich, dass es diesen inneren Arzt in uns gibt, der genau weiß, was Gesundheit ist, und diese Gesundheit ununterbrochen zum Vorschein bringt – vorausgesetzt, wir hören diesem inneren Arzt zu.
Dieser lebendige Arzt in unserem Inneren manifestiert ständig Gesundheit. Von der Empfängnis bis zum Tod manifestiert er ohne Unterlass Gesundheit. In jedem Lebensjahrzehnt habt ihr ein Lebensmuster, das für euch stimmt. Wenn ihr zwischen 20 und 30 seid, habt ihr ein Gesundheitsmuster, das im wahrsten Sinne des Wortes ein Ausdruck dieses Jahrzehnts ist. Es reift, so wie wir reifen, und wechselt allmählich den Gang, aber es manifestiert beständig Gesundheit.
Patienten kommen zu uns, weil ihr Gesundheitsmuster wie von einer Wolke bedeckt worden ist, und es sozusagen auf sie regnet; aber das ändert nichts an der Tatsache, dass über der Wolke immer noch eine Sonne scheint und Gesundheit vorhanden ist. Es ist unsere Aufgabe, das Gesundheitsmuster aus dem traumatischen oder kranken Zustand heraus zu entwickeln, bis die Gesundheit als einziges Muster bleibt. In diesem Sinne ist unsere Rolle als Behandler sekundär. Es ist unsere Verantwortung, als sekundärer Behandler mit dem primären Arzt in uns selbst und in unseren Patienten zu arbeiten, um es der inneren physiologischen Funktion zu ermöglichen, ihre eigene unfehlbare Potency zu offenbaren – dieses Gesundheitsmuster zum Vorschein zu bringen.
Um auf diese Art und Weise zu arbeiten, müssen wir tief in ein anderes Meer des Verstehens eintauchen und es der physiologischen Funktion im Patienten erlauben, uns im wahrsten Sinn des Wortes auszubilden. Wir wollen Folgendes lernen: Wo ist in diesem Patienten Gesundheit? Wie bringe ich sie zum Vorschein? Die Körperphysiologie des Patienten unterweist uns buchstäblich. Der Arzt, der in meinen Patienten lebt, hat mich in den letzten achtundvierzig Jahren ausgebildet, und immer noch bin ich ein Student. Dies ist ein Teil des Übergangs, den wir vollbringen müssen.
Wir wollen lernen, diese Mechanismen, die sowohl in uns als auch in unseren Patienten arbeiten, zu spüren und uns ihrer bewusst zu sein. Erlaubt euch während dieser Woche, wenn ihr der Patient seid, diesen Mechanismus bei der Arbeit zu fühlen, während gleichzeitig der behandelnde Student versucht zu spüren, wie dieselben Mechanismen in euch arbeiten. So kann man beginnen, Funktion zu spüren.
Um die hier dargelegten Ziele zu erreichen, muss man drei Lernschritte durchlaufen, wobei der erste am schwierigsten ist. Zunächst musst du die Tatsache akzeptieren, dass die anatomisch-physiologische Funktion in dir und in deinem Patienten lebendig ist, bereits in Bewegung, verfügbar für deinen Befund und Gebrauch. Du musst diese Tatsache akzeptieren – schließe deine Augen, überschreite diese Grenze und hoffe, dass es immer noch einen Boden unter deinen Füßen gibt, wenn du auf der anderen Seite der Grenze aufsetzt. Plötzlich bist du zweitrangig in Bezug auf diese Sache, an der du arbeitest. Der Boss ist innen. Er ist sowohl in dir als auch in deinem Patienten. Als Behandler bist du dabei, diese Tatsache zu verstehen und zu nutzen.
Zweitens müssen wir die Details des anatomisch-physiologischen Mechanismus im lebendigen Körper studieren. Wir müssen verstehen, dass die lebendigen anatomisch-physiologischen Details des Primär Respiratorischen Mechanismus, des Kraniosakralen Mechanismus, keine abgetrennten Funktionseinheiten sind, die separat studiert werden müssen. Wir fügen diese Details zu der Anatomie und Physiologie hinzu, die wir in der Schule gelernt haben. In meiner ersten Unterrichtsstunde bei Dr. William Garner Sutherland sagte ich zu ihm, ich sei nicht gekommen, um seine Art zu arbeiten zu lernen, sondern um mein Wissen von Anatomie und Physiologie um den Kraniosakralen Mechanismus zu erweitern, über den wir am College nichts gelernt hatten. Dr. Sutherland war es, der das unserem Berufsstand schenkte, und nun geben wir es euch weiter. Ihr seid hier, um euer Studium der Anatomie und Physiologie des lebendigen Körpers fortzuführen, und dazu gehört der Primäre Atemmechanismus. Der dritte Schritt besteht darin, lebendige palpatorische Fähigkeiten zu entwickeln. Um mit lebendigen Mechanismen in einem lebendigen Körper zu arbeiten, sind wir auf lebendige palpatorische Fähigkeiten angewiesen. Diese Fähigkeiten werden uns die Chance geben, die arbeitenden Einheiten des Körpers zu befunden und einzusetzen, damit sie selbst den Patienten behandeln können. Unsere Patienten behandeln sich jedes Mal selbst, wenn wir sie mit unseren Hände berühren – vorausgesetzt, wir kooperieren mit den Mechanismen, die in ihnen schon am Arbeiten sind.