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2. DEN MECHANISMUS VERSTEHEN 2.1. DER UNWILLKÜRLICHE MECHANISMUS

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Überarbeitete Auszüge aus Vorlesungen, gehalten 1976 während eines Grundkurses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Milwaukee, Wisconsin.

Wir wollen über das Wesen des primären respiratorischen Mechanismus sprechen, der eine einfache, grundlegende, primäre rhythmische Funktionseinheit darstellt. Er ist ganz und gar unwillkürlich, umfasst die gesamte Anatomie und Physiologie und kann von einem ausgebildeten Behandler in jedem Körperbereich palpiert werden. Ebenso wie er das Indiz für Gesundheit innerhalb der gesamten Körperphysiologie liefert, weist er auch auf eine Verringerung der Gesundheit in jedem Dysfunktionsgebiet hin. Man kann ihn für Diagnose und Behandlung gleichermaßen als Werkzeug nutzen. Der Primäre Respiratorische Mechanismus ist eine Manifestation des Lebens im Patienten und der Behandler kann bei seinem Dienst, Gesundheit im Patienten wiederherzustellen, seine Hilfe in Anspruch nehmen.

Er ist und bleibt eine Funktionseinheit, dieser Primäre Respiratorische Mechanismus, auch wenn er zu Unterrichtszwecken in fünf Komponenten aufgeteilt wurde, von denen also jeder einen Teil dieser einfachen, rhythmischen, primären Funktionseinheit innerhalb der Körperphysiologie bildet. Ihr seht, dass ich nicht einfach gesagt habe: Innerhalb des Primären Atemmechanismus , sondern ‚innerhalb der Körperphysiologie‘ . Die gesamte Einheit hat diesen Faktor. Alles folgt den Gesetzen von Flexion/Außenrotation und Extension/Innenrotation des anatomisch-physiologischen Mechanismus. Wir sind vollständig abhängig von diesem simplen, rhythmischen, mobilen, motilen Fluid-Drive-Mechanismus.

Der gesamte Körper besitzt einen unwillkürlichen Mechanismus. Auch wenn euer Psoasmuskel krank ist, ist er dazu bestimmt, in Außen- und Innenrotation zu gehen. Euer Fuß ist so gestaltet, dass er zehn- bis zwölfmal pro Minute in Außen- und Innenrotation geht – nicht aufgrund des Primär Respiratorischen Mechanismus, sondern weil der Primäre Respiratorische Mechanismus nur auf diese Weise funktionieren kann. Deshalb müssen wir seine Regeln und Gesetze lernen.

Lasst mich euch einen Text vorlesen, in dem es um das geht, was ich hier ausdrücken möchte. Er stammt aus einem Buch mit Essays des amerikanischen Anthropologen Loren Eiseley. Wenn ihr Loren Eiseley noch nicht gelesen habt, solltet ihr das tun – vor allem, wenn ihr lernen wollt, wie man palpiert. Durch seine Bücher taucht man in seine Erfahrung als Fossiliensucher ein. Mit ihm reist ihr in der Zeit zurück und habt teil an dem, was er so lebendig beschreibt. Man kann es förmlich ertasten und gleichzeitig mit dem ganzen Sein wahrnehmen. Für mich war es sehr nützlich. Das Zitat lautet folgendermaßen:

„Stell dir für einen Moment vor, dass du aus dem Kelch eines Zauberers getrunken hast. Du drehst den unumkehrbaren Strom der Zeit um. Gehst die lange dunkle Treppe hinunter, aus der das Menschengeschlecht emporgestiegen ist. Bist schließlich auf der untersten Stufe der Zeit, gleitest, rutschst und wälzt dich mit Schuppen und Finnen hinunter in den Schleim und Modder, aus dem du hervorgekrochen kamst. Kommst unter Grunzen und stimmlosem Zischen unter den letzten baumhohen Farnen vorbei. Treibst ohne Augen und Ohren im ursprünglichen Wasser – Sonnenlicht kannst du nicht sehen. Du streckst absorbierende Tentakel hin zu verschwommenen Geschmäckern, die im Wasser zu finden sind. Doch in deinem formlosen Sichverschieben bleibt der Anblick der gleiche. Sich ständig verschiebende Teilchen, Säfte, Transformationen arbeiten in einem exquisit gestalteten Rhythmus, der kein anderes Ziel hat, als dich am Leben zu erhalten – dich, dieses amöbenhafte Wesen, dessen Substanz die unergründliche Zukunft in sich trägt. Dennoch kommt jeder Mensch aus den Geburtswassern nach oben. Doch sollte sich in irgendeinem Moment der Zauberer über dich beugen und rufen: ‚Sprich, erzähle uns von der Reise‘ , könntest du nicht antworten. Deine Empfindungen gehören dir, nicht aber, und das ist eines der großen Geheimnisse, die Macht über den Körper. Du bist außerstande zu beschreiben, wie der Körper in seiner Beschaffenheit funktioniert, dir das wilde Drehen der tanzenden Moleküle vorzustellen oder es zu steuern oder zu wissen, warum sie in diesem besonderen Muster tanzen, dass dich ausmacht, oder warum sie auf dieser langen Treppe der Ewigkeiten von einer Form in die nächste tanzen. Aus diesem Grund interessiere ich mich nicht mehr für die allerkleinsten Teilchen. Man kann ihnen nach Belieben folgen, sie verfolgen, bis sie namenlos werden, Proteinkristalle, die sich am Rande des Lebens vermehren. Man kann mit der größten Geisteskraft rückwärts schreiten, bis man mit den entsetzlichen Gesichtern der Eroberer in den Wasserstoffwolken hängt, in denen die Sonne geboren wurde. Dann hat man die größte Täuschung vollbracht, die unser analytisches Zeitalter verlangt. Aber noch immer wird die Wolke das Geheimnis verhüllen, und wenn es nicht die Wolke ist, dann das Nichts, in der sie jetzt erscheint. Die Wolke mag sich auflösen. Das Geheimnis liegt, wenn man es so umschreiben will, im Zeitalter der Dunkelheit.“ 8

Jetzt, nach ewig langer Entwicklung, ist der Körper zu dem geworden, was er heute ist. Den Geboten seines Ursprungs folgend braucht er einen unwillkürlichen Mechanismus, um sich zu bewegen und lebendig zu bleiben, um das zu sein, was er ist: eine Körper-Geist-Struktur, ein anatomisch-physiologischer, funktionierender Mechanismus. Wir haben viele unwillkürliche Systeme in unserem Körper – Kreislauf, Verdauung usw. Aber die Schlüsselrolle im menschlichen Körper hat ein ganz spezieller unwillkürlichen Mechanismus: Jede einzelne Körperzelle, jede einzelne individuelle Zelle, die innerhalb der Flüssigkeiten lebt, in denen sie entsteht, wird 10–12 Mal pro Minute in Flexion und Extension, in Außen- und Innenrotation bewegt.

Wenn wir also einen gesunden Patienten haben – egal ob er ruhig sitzt, umher geht, tief schläft, läuft, ganz aktiv ist oder sich in völliger Ruhe befindet – vollzieht sich überall in ihm diese unwillkürliche physiologische Funktionsbewegung. Wir konzentrieren uns auf den neurokranialen und den sakralen Mechanismus als die Teile, die diesen Mechanismus, diese unwillkürliche Bewegung offenbaren. Aber die neurokraniale und die sakrale Aktivitätsachse, ihre physiologische Funktion, ist, wenn man so sagen will, mehr oder weniger die Antriebswelle des Systems, mit deren Hilfe alle Räder und Flaschenzüge sowie alles, was da so direkt aus der Fabrik kommt, zum Verrichten ihrer Arbeit gebracht werden – Flexion/ Außenrotation und Extension/Innenrotation. Also kann man den neurokranialen und sakralen Mechanismus auf keinen Fall als eine von der gesamten Körperphysiologie abgetrennte Einheit verstehen. Jedes Mal, wenn wir unsere Hände an einen Patienten legen, haben wir es mit dem größten und wichtigsten unwillkürlichen System im menschlichen Körper zu tun. Jedes Mal, wenn wir diesen Patienten berühren, ganz egal ob wir uns dabei auf ein winziges Fingergelenk oder ein ganzes Bein beziehen, müssen wir uns auf diesen unwillkürlichen, physiologischen Mechanismus einstimmen.

Willkürliche Mechanismen entsprechen all dem, was der Entscheidungen fällende Anteil unseres Gehirns mit diesem unwillkürlichen Ding zu tun beschließt. Ich entscheide mich zu gehen, zu stehen oder zu sitzen; ich entscheide mich zu reden, zu essen und zu denken (oder zu denken, dass ich denke); ich kann eine Million Entscheidungen treffen. Ich entscheide mich, Emotionen zu haben oder Gedanken – das alles ist willkürlich. Dies sind Aktivitäten, die wir auf intelligente Art und Weise nutzen können, indem wir versuchen, sie weder zu beleidigen noch sie verhungern zu lassen oder auf übermäßige Weise zu beanspruchen. Wir benutzen sie einfach im normalen täglichen Leben, und sobald wir aufhören, sie zu einzusetzen, sinken sie einfach dorthin zurück, wo sie herkamen, und unser unwillkürlicher Mechanismus fährt fort, uns zu unterstützen, bis wir wieder die Anweisung geben, dass das Willkürliche etwas anderes tun soll. Es ist die willkürliche Seite im Leben, die uns in schwierige Situationen bringt, nicht die unwillkürliche. Wenn ein Patient mit einem Stress- oder Dysfunktionsmuster kommt, egal auf welcher Ebene – mentale Erschöpfung, emotionaler Schock oder körperliche Folgen von Krankheit oder Traumen: Wenn ich dann ganz still dasitze und mit dem Problem arbeite, wenn meine Hände sich ruhig hinein und heraus und durch die zellulären Strukturen bewegend die Faszien, die Flüssigkeiten und die Mechanik dieses menschlichen Körpers suchen, erkenne ich, dass dieser Mechanismus sogar schon bevor ich mit ihm in Kontakt kam, automatisch versucht hat, dieses Problem mit Hilfe des unwillkürlichen Mechanismus hinaus zu spülen. Wenn ich dann still in Kontakt mit ihm komme, stimme ich mich ein auf diesen unwillkürlichen Mechanismus, die unwillkürliche physiologische Bewegung unter diesem Trauma. Ich versuche, hindurch zu fühlen in den unwillkürlichen Mechanismus, innerhalb dessen dieses Trauma geschehen ist. Dann versuche ich, mit meiner Arbeit eine Balance auf der Mikroebene zu finden, die notwendig ist, um an den Punkt heranzukommen, wo dieser unwillkürliche Mechanismus sich aus den Fesseln, die ihn hemmen, lösen kann. An diesem Punkt kann ich fühlen, wie diese kleine Veränderung im Patienten stattfindet, die gleichsam sagt: ‚Ja, jetzt kann ich etwas für dieses Problem tun‘ ; und während er durch seinen Fulkrum-Punkt, seinen Stillpunkt, seinen Balancepunkt hindurchgeht, vollzieht sich ein Wechsel hin zu einem Zustandsmuster, in dem der unwillkürliche Mechanismus in diesem Bereich des Körpers nicht länger beeinträchtigt wird. Wenn er seinen Kopf reckt und sagt: ‚Gut, jetzt kann ich anfangen zu arbeiten‘ , ist es, als ob ein Steinchen in einen stillen Teich fällt: Man sieht, wie die Wellen dieser unwillkürlichen Aktivität sich ausbreiten, nicht nur von der Stelle wo man arbeitet, sondern im ganzen unwillkürlichen System überall im Körper. Man kann spüren, wie es sich ausbreitet und ausbreitet und ausbreitet.

Wenn ich, nachdem diese Veränderung stattgefunden hat, zurückgehe und überprüfe, wie sich das willkürlich induzierte Trauma bzw. der Prozess verhält, entdecke ich, dass es – falls es ursprünglich nicht zu schlimm war – nicht mehr da ist. In diesem gesamten Prozess beachte ich niemals die Dysfunktion selbst, bis ich nicht den unwillkürlichen Mechanismus aufgeweckt habe. Das, was dann noch korrigiert werden muss, ist normalerweise so geringfügig, dass es praktisch gar nicht existiert. Man muss sich kaum anstrengen, um es zu korrigieren.

Nun, was für eine Veränderung ist das, die in diesem unwillkürlichen Mechanismus geschieht? Wie lange dauert es, bis sie stattfindet? Eine gute Illustration liefert hier das bekannte Treppen-Bild von Escher. Führt es treppauf oder treppab? Beobachtet es, bis ihr seht, wie sich die Stufen bewegen. In einer Nanosekunde verändern sie sich in eurer Wahrnehmung und werden von hinaufführenden zu hinunterführenden Stufen. Das ist die Veränderung, von der Eiseley spricht, die unendliche Vielfalt an Mustern, von einem Funktionszustand zum andern, in dem unwillkürlichen Mechanismus, mit dem ihr arbeitet. So lang dauert es. Das ist der Zeitraum, den die Veränderung braucht. Unser Job als Behandler ist es, uns still von innen heraus einzustimmen, um dieses Geschehen zu begreifen. Unser Verständnis entsteht aus etwas heraus, das wir spüren, wenn auch nicht erklären können. Was wir, weil es für uns wahrnehmbar ist, fühlen, ist eine Folge. Und doch können wir beobachten, dass in dieser Nanosekunde tatsächlich etwas geschieht. Wir können beobachten, welches Muster zuvor da war und welches danach, und sind – weil wir die Details der physiologischen Bewegung eines jeden Teils dieses unwillkürlichen Mechanismus nicht nur in den kraniosakralen Achsen, sondern im gesamten System studiert haben – mit unserem intelligenten Verstehen in der Lage, dies für klinische Zwecke nutzbar zu machen.

Rollin Becker - Leben in Bewegung & Stille des Lebens

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