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1.4. HILFE IST IMMER ZUR STELLE

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Überarbeitete Niederschrift von Vorträgen, gehalten 1988 im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Tulsa, Oklahoma.

Ich las neulich einen Zeitungsartikel mit der Überschrift Hilfe, die immer zur Stelle ist. Es ging darin um eine internationale Organisation, die einen Telefondienst für Hilfesuchende, aufgebaut hat. Aus der Funktionsweise dieser Organisation gibt es für uns einiges zu lernen, denn sie ist in mancher Hinsicht analog zu der Art, wie wir als Ärzte behandeln. Die von diesen Leuten angewandten Prinzipien können von allen, die andern helfen wollen, adaptiert werden.

Die Notfall-Telefone sind 24 Stunden täglich von ausgebildeten ehrenamtlichen Helfern besetzt, die mit jedem sprechen, der anruft: Junge und Alte, Reiche und Arme, Kranke, Hoffnungslose, Suizidgefährdete oder einfach einsame Menschen. Das Geheimnis der Methode liegt nicht in dem, was die Ehrenamtlichen am Telefon sagen, sondern in der Art, wie sie den Anrufern zuhören.

Wer in dieser Hilfsorganisation mitarbeitet, lernt, dass Zuhören – das heißt wirkliches Hinhören auf das, was jemand, der in Not ist, sagt – an sich schon eine Antwort ist, wenn die Hilfe suchende Person dann wiederum versuchen kann, sich selbst zu helfen. Die Ehrenamtlichen geben keine Anweisungen oder Instruktionen, sie predigen oder lehren nichts. Sie sagen dem Anrufer nicht, mach dies oder das, und tun auch nicht so, als wüssten sie, was sein wahres Problem ist. Stattdessen lernen sie, dem, was diese Leute sagen, vorurteilsfrei zuzuhören, ohne den Versuch, sie oder ihre Probleme zu analysieren. Wenn sie mit einem Anrufer sprechen, dann geschieht das in einer nicht bewertenden Weise. Ihr Ziel ist es, eine einfache Reaktion auszulösen, etwas, was dem Anrufer helfen mag, in sich hineinzuschauen.

In dieser ‚Hilfsmethode‘ lehren sie auch, dass man, um Hilfe gebeten, versuchen soll, das Problem noch einmal so zu verbalisieren, wie es der Hilfesuchende ausgedrückt hat, so dass er oder sie hören kann, wie es für andere klingt. Nehmt dabei nicht an, dass ihr das Problem versteht. Lasst die hilfesuchende Person ihre Gefühle selbst ausdrücken. Lasst sie ihre eigene Lösung vorschlagen und angehen. Es ist zum Beispiel besser, zu fragen: „Wie werden Sie damit umgehen?“, als jemandem zu sagen, wie man selbst diese Situation lösen würde. Ihr möchtet sie darin unterstützen, herauszufinden, dass ihre eigene Stärke gut ist, egal wie begrenzt sie erscheinen mag. Auf diese Weise unterstützen die ehrenamtlichen Helfer die Anrufer darin, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen und ihre Gefühle auf eine konstruktivere Art und Weise auszudrücken. Schlussendlich lehrt die ‚Hilfsmethode‘ , dass es gut ist, sich einzufühlen und klarzustellen, dass es dir wichtig ist, was mit dem Hilfesuchenden passiert. Der Kontakt und die Person selber sind dir wichtig.

Das sind die Grundsätze und Fähigkeiten, die diese ‚Hilfsmethode‘ so effektiv machen. Diese Art des verbalen Kontaktes erfordert eine Ausbildung, aber die Grundprinzipien sind einfach zu erlernen und wir alle können sie in unserem Leben anwenden.

Während ich jetzt hier so spreche, möchte ich gerne, dass ihr auf das lauscht, was in eurem Kopf vorgeht, wenn euch jemand um Hilfe bittet. Ein wichtiger Punkt, den man dabei beachten muss, ist die Notwendigkeit, eure eigenen Gefühle bezüglich der Person, mit der ihr sprecht, genau zu kennen, diesen Menschen wirklich als den, der er ist, zu akzeptieren – jemand, der genauso Respekt verdient wie ihr selbst. Hört ihm zu und antwortet, ohne zu bewerten. Menschen fühlen sich sehr viel freier in der Gegenwart eines anderen Menschen, der sie still so akzeptiert, wie sie sind. Es ist eure Aufgabe, einfach entspannt zu bleiben, wenn eigentlich nichts geschieht. Einfach nur anwesend zu sein in so einer Atmosphäre, ist heilsam. Eigentlich ist es diese zugewandte, zuhörende Resonanz, und nicht eine aktive, zur Schau stellende Reaktion, die eine osteopathische Behandlung funktionieren lässt.

Der Psychotherapeut Carl Rogers drückt in seinem Buch Entwicklung der Persönlichkeit etwas Ähnliches aus. Er schreibt, dass Helfen im Grunde nicht aus Geben, sondern aus Teilen besteht. Er zeigt uns, dass wir anderen helfen können, wenn wir verstehen, unsere wirklichen Gefühle zu zeigen, ohne zu bewerten, und indem wir Hilfebedürftigen warmherzig begegnen als Menschen, die genauso wertvoll sind wie wir, die wir uns für gesund halten. Andere reagieren auf die Wertschätzung, die wir ihnen geben, indem sie Selbstvertrauen gewinnen und beginnen, sich selbst zu helfen.

Wir haben nun eine Brücke geschlagen von einem ehrenamtlichen Helfer, der mit Hilfe von Gesprächen arbeitet, zu einem Arzt, der in der osteopathischen Wissenschaft tätig ist. Denkt daran: Wenn eine Patientin in eure Praxis kommt, bringt sie eine Körperphysiologie mit, die eure Hilfe sucht. Anstatt dem Patienten diese Hilfe verbal zu vermitteln, werden wir lernen zu palpieren und schweigend die Körperphysiologie zu untersuchen. Lernt still mit dieser Patientin zu arbeiten, indem ihr euren geschulten Tastsinn benutzt, um der Gesundheit zu erlauben, sich wiederherzustellen. Statt nur auf Worte zu hören, hören wir still der Körperphysiologie zu und verstehen sie. Anstatt die Situation verbal zu erörtern, werden wir es am Körper praktizierend lernen, diese Dinge zu fühlen und auf das zu lauschen, was im Körper der Patientin geschieht. Die Patientin braucht kein Wort zu sagen und ich auch nicht. Ich muss nicht sprechen, denn meine Kunst ist es, den Geweben zuzuhören.

In dieser Analogie zwischen einem Behandler und einem ehrenamtlichen Helfer besteht das Erfolgsgeheimnis des Behandlers darin, seine palpatorischen Fähigkeiten so zu trainieren und zu schulen, dass es ihm gelingt, insgesamt sowie spezifisch den unwillkürlichen Mechanismen der anatomisch-physiologischen Struktur des hilfesuchenden Patienten zuzuhören. Entwickelt eure palpatorischen Fähigkeiten, bis ihr die Fragen, mit denen der Patient hereinkommt, buchstäblich spüren könnt. Der Hilfe, die der Patient sucht, kann entsprochen werden durch die lauschende Resonanz, die der Behandler mit seinen palpatorischen Fähigkeiten entwickelt. Der Patient sucht Hilfe, seine Körperphysiologie sucht Hilfe, und statt darüber zu reden, legen wir unsere Hände sehr behutsam an unseren Patienten, um etwas zu finden, damit zu arbeiten, es ein bisschen zu reizen, bis wir spüren, dass die Körperphysiologie des Patienten irgendeine Reaktion in Richtung Gesundheit zeigt. Der Behandler muss lernen, die Vorgänge in der Körperphysiologie zu lesen und deren Probleme zu erfahren und an ihnen teilzuhaben, wobei es nicht notwendig ist, dies dem Patienten verbal zu erklären. Der Patient wird diesen Kontakt, den wir mit seinem Körper aufgenommen haben, spüren. Und er wird wahrnehmen, dass ihm Gesundheit zuteil wird. Wenn wir ein ehrenamtlicher Helfer sind, der zuhört und es der Körperphysiologie des Patienten erlaubt, der Lehrer zu sein, wird diese Physiologie das Sprechen übernehmen. Veränderungen werden tief in der Physiologie des Patienten geschaffen; der Patient erfährt diese Veränderungen, und ich als Behandler lerne, indem ich an der Erfahrung teilhabe.

Es ist sehr schwierig zu beschreiben, was wir tun, aber es ist nicht so wichtig, was wir sagen, sondern was wir tun. Während der Behandlung sage ich normalerweise nichts zum Patienten. Ich erfahre meine Patienten, höre ihnen zu und arbeite mit ihnen – nicht mit Techniken, sondern aus einem Verstehen der Körperphysiologie heraus. Je tiefer der Behandler in sich selbst hineingeht, um mittels seines palpatorischen Kontaktes der Aktivität der Körperphysiologie des Patienten zuzuhören, desto vielfältiger wird die Information sein, die sich ihm in seiner Untersuchung offenbart. Nehmt es an, was die Körperphysiologie des Patienten euch lehrt. Aktives Zuhören von Seiten des Behandlers weckt die Körperphysiologie auf und sie beginnt zuarbeiten. Sie wird anfangen, dem Patienten zu helfen, und ihr müsst nicht darüber nachdenken oder darüber sprechen. Ihr müsst sie nur beachten, indem ihr ihr zuhört und sie mit Hilfe eurer palpatorischen Kunstfertigkeit buchstäblich fühlt. Arbeitet sehr ruhig mit dem Patienten, seid stille Partner, aktive Zuhörer.

Rollin Becker - Leben in Bewegung & Stille des Lebens

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