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DER REICHSTE DER REICHEN
ОглавлениеGanz an der Spitze der Einkommenspyramide stand Baron Albert Salomon Rothschild aus der dritten Generation der österreichischen Rothschild, familienintern meist „Salbert“ genannt. Er versteuerte 1910 ein Jahreseinkommen von 25,7 Millionen Kronen. Dass er das Ranking anführt, wird keinen Wirtschaftshistoriker wirklich überraschen. Überraschend sind nur der Abstand zu den Nächstfolgenden und die schiere Höhe seines Einkommens. Die exzeptionelle Stellung von Albert Rothschild ist zwar immer wieder betont, in ihren konkreten Dimensionen aber dennoch gewaltig unterschätzt worden.13 Denn Rothschild als Einzelperson verdiente etwa 1 Prozent aller Einkommen in Wien und immerhin 0,25 Prozent aller Einkommen Cisleithaniens (0,58 Prozent aller versteuerten Einkommen). Rothschild versteuerte mehr als die fast hundert Wiener Einkommensmillionäre aus altem Adel zusammen und auch mehr, als Österreich-Ungarn dem habsburgischen Herrscherhaus für die Hofhaltung und alle Apanagen jährlich aus dem Staatshaushalt beider Reichshälften zukommen ließ.
Albert Baron Rothschild war zweifellos der reichste Mann Europas, reicher als die englischen Rothschilds, viel reicher als die deutschen Rothschilds, reicher auch als die damals reichste Deutsche, Bertha Krupp, und wohl nicht viel ärmer als die berühmtesten amerikanischen Millionäre.14 Von Dr. Hermann Eissler, Gesellschafter von „Josias Eissler & Brüder“, selbst mit einem Jahreseinkommen von 162.676 Kronen, aber mit weniger als einem Hunderstel des Rothschildschen Wertes an 445. Stelle der Rangliste der reichsten Wiener, ist der Lieblingssatz überliefert: „Wann i der Pierpont Morgan wär … “15 Mit sehr viel mehr Recht hätte er statt Morgan Rothschild sagen können. Als der New Yorker Bankier Pierpont Morgan 1913 starb, betrug der geschätzte Nettowert seines Vermögens, ohne Berücksichtigung seiner Kunstsammlung, 68,3 Millionen Dollar (= 14 Mio. Pfund oder 336 Mio. Kronen), inklusive Kunstgegenstände 24 Mio. Pfund oder 576,5 Mio. Kronen.16 Für Baron Salomon Albert Rothschild wird sein 1911 hinterlassenes Vermögen auf etwa 700 Millionen bis eine Milliarde Kronen geschätzt.
Die 15 höchsten Jahreseinkommen in Preußen und Wien im Jahr 1910
Rang | Preußen | Mio. K | Wien/Niederösterreich | Mio. K |
1 | Bertha Krupp v. Bohlen und Halbach | 20,0 | Rothschild, Albert Frh. von | 25,7 |
2 | Fürst Henckel v. Donnersmarck | 14,1 | Taussig, Theodor Ritter von | 4,9 |
3 | Christian Kraft Fürst z. Hohenlohe-Oehringen | 8,2 | Gutmann, Maximilian Rit. von | 4,5 |
4 | KR Ing. Ziese, Schichau-Werft | 6,5 | Springer, Gustav Frh. von | 4,1 |
5 | Hans-Ulrich Graf v. Schaffgotsch | 5,3 | Gutmann, David Rit. von | 3,5 |
6 | Frh. Max v. Goldschmidt-Rothschild | 4,1 | Gutmann, Rudolf Rit. von | 3,4 |
7 | Carl Henschel | 41 | Dreher, Anton sen. | 2,6 |
8 | August Thyssen | 3,1 | Gutmann, Wilhelm Hermann | 1,8 |
9 | Engelbert Herzog v. Arenberg | 3,1 | Gutmann, Hans Emil | 1,8 |
10 | KR Franz Haniel | 2,9 | Schoeller, Paul Rit. von | 1,8) |
11 | Freifrau Mathilde verw. Rothschild | 2,9 | Benedikt, Moriz | 1,8 |
12 | KR Eduard Beit v. Speyer | 2,9 | Reitzes, Hans von Marienwerth | 1,6 |
13 | Graf Franz v. Ballestrem auf Plawniowitz | 2,9 | Drasche-Wartinberg, Richard Frh. von | 1,6 |
14 | Franz-Hubert Graf Tiele-Winckler | 2,9 | Mautner v. Markhof Viktor Rit. | 1,5 |
15 | Hans-Heinrich XV. Fürst v. Pleß | 2,2 | Böhler, Friedrich | 1,5 |
Quelle: Manfred Rasch, Adelige Unternehmer, 22; nach Rudolf Martin: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Bayern, Berlin 1914; Rudolf Martin: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre im Königreich Preußen, Berlin 1913; Rudolf Martin: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Württemberg und Hohenzollern, Berlin 1914
Drei Einkommensmillionäre aus den Top 15 (von links): Theodor Ritter von Taussig, um 1902; David Ritter von Gutmann, um 1902; Hans Freiherr von Reitzes. Foto aus dem Atelier Madame d’Ora, 1910.
Albert Rothschilds Einkommen im Jahr 1910 von mehr als 25 Millionen Kronen war kein einmaliger Ausreißer. Es hatte sich in den Jahren von 1898 bis 1913, von der Einführung der Einkommenssteuer bis zur Abwicklung des Nachlasses, immer in diesen Höhen bewegt und war von 12,5 Millionen im Jahr 1898 auf um die 25 Millionen in den letzten Vorkriegsjahren angestiegen. In den Jahren seit der Einführung der Einkommenssteuer bis zum Kriegsausbruch war es im Durchschnitt jedes Jahr um etwa eine Million Kronen angewachsen, mit wesentlich höherer Zuwachsrate als die Einkommen allgemein. Zwischen 1898 und 1913 versteuerte Rothschild in summa ein Einkommen von 311 Mio. Kronen. Seit der Übernahme der Geschäfte im Jahr 1874 hat Albert Rothschild mit Sicherheit nahezu eine Milliarde Kronen verdient. Es gab keine konjunkturellen Dellen und in keinem einzigen Jahr negative Veränderungsraten. Albert Rothschild schien tatsächlich im Zeitalter der Sicherheit zu leben.
Drei weitere Top-Verdiener: Anton Dreher, Paul Eduard Ritter von Schoeller und Friedrich Böhler (von links).
Die Jahreseinkommen Albert Rothschilds 1898 bis 1913 (in Mio. K)
in Mio. K | Zunahme Mio. K | Zunahme in % | |
1898 | 12,50 | ||
1899 | 12,50 | 0,00 | 0,0 |
1900 | 13,00 | 0,50 | 4,0 |
1901 | 13,00 | 0,00 | 0,0 |
1902 | 15,50 | 2,50 | 19,2 |
1903 | 16,50 | 1,00 | 6,5 |
1904 | 17,50 | 1,00 | 6,1 |
1905 | 19,25 | 1,75 | 10,0 |
1906 | 21,00 | 1,75 | 9,1 |
1907 | 21,10 | 0,10 | 0,5 |
1908 | 21,10 | 0,00 | 0,0 |
1909 | 23,10 | 2,00 | 9,5 |
1910 | 25,70 | 2,60 | 11,3 |
1911 | 27,10 | 1,40 | 5,4 |
1912 | 27,10 | 0,00 | 0,0 |
1913 | 25,10 | -2,00 | -7,4 |
Quelle: Steuerstatistik, das Jahr 1905 interpoliert.
Die Grundlage des Rothschildschen Vermögens war schon ein Jahrhundert früher von Mayer Amschel Rothschild gelegt worden. Er hatte das Frankfurter Stammhaus gegründet, das nach seinem Tod 1812 sein gleichnamiger ältester Sohn weiterführte. Die übrigen vier Söhne ließen sich in den vier damals größten Städten Europas nieder: Nathan ging nach London, James nach Paris und Carl nach Neapel. Der zweitälteste der Brüder, Salomon Mayer Rothschild, war 1816 nach Wien übersiedelt. Bis 1843 wohnte er, weil Juden der Grund- und Hausbesitz in Wien verboten war, im Hotel zum Römischen Kaiser in der Renngasse 1, dessen einziger Mieter er allmählich wurde. Erst 1843 durfte er Grundbesitz erwerben und das Hotel kaufen. Die 1822 gewährte Erhebung in den Freiherrnstand brachte ihm das blau-gelbe Wappen mit den fünf Pfeilen und der Devise Concordia, Integritas, Industria. Er hatte nur zwei Kinder: Anselm heiratete seine Cousine Charlotte aus der Londoner Linie, Betty ihren Onkel aus der Pariser Linie. Anselm, der nach Salomons Tod die Wiener Geschäfte weiterführte, hatte drei Söhne: Nathaniel, der unverheiratet in Wien lebte, Ferdinand James, der seine Cousine Evelina aus der Londoner Linie heiratete und nach England übersiedelte, und Salomon Albert, der mit Bettina Carolina de Rothschild aus der Pariser Linie verheiratet war, die 1892 im Alter von 34 Jahren starb. Ferdinands Ehe endete schon 18 Monate nach der glamourösen Hochzeit mit dem Tod Evelinas. Der unglückliche junge Witwer verwirklichte sich in Buckinghamshire mit Waddesdon Manor seinen Traum von einem englischen Landhaus: ein Loireschloss von riesenhafter Dimension inmitten Südenglands mit 222 Zimmern und 50 Gewächshäusern, wo er die High Society Englands bewirtete und seine Spleens auslebte. Familienoberhaupt am Wiener Platz wurde Salomon Albert. Von ihm stammten fünf Söhne und zwei Töchter: Georg, der nie geheiratet hatte und in einem psychiatrischen Sanatorium endete, Alphonse, der für die Weiterführung der Geschäfte gedacht war und eine Ausbildung zum Rechtsanwalt erhalten hatte, jedoch das Leben bevorzugte, Louis, der das Bankhaus und die Beteiligungen von 1911 bis zur Vertreibung und Enteignung im Jahr 1938 leitete, dann der feinnervige Eugène, der als bedeutendste Leistung eine Monographie über Tizian schrieb, und der jüngste der Brüder, Oscar Ruben, der 1909 Selbstmord beging. Charlotte war früh verstorben. Und die jüngste und taubstumme Tochter Valentine Noémi heiratete 1911 Sigismund Baron Springer.
Am Anfang vermittelten die Rothschilds Staatsanleihen und Privatanleihen, u. a. für die Esterházy und für Metternich. 1835 erhielt Salomon Rothschild die Konzession für den Bau der „Kaiser Ferdinands-Nordbahn“, mit der er eine fast monopolartige Stellung in der Wiener Kohlenversorgung erreichte und auch eine feste Verankerung in der Industrie begründete. Er erwarb die Eisenwerke Witkowitz und gründete zahlreiche andere Unternehmen. 1855 gelang seinem Nachfolger Anselm mit der „Kaiserlich-königlichen Österreichischen Creditanstalt für Handel und Gewerbe“ die Gründung der größten Aktien- und Investmentbank Österreichs mit einem Gesamtkapital von 60 Millionen Gulden.17
Baron Anselm Rothschild hatte das Image eines Asketen: Sein Hauptlaster soll Schnupftabak gewesen sein. Er führte das Leben eines Einsiedlers und Sparmeisters, sprach, um sich von den Angestellten abzuheben, nur Französisch, und sein Begräbnis sei so anspruchslos gewesen wie das eines armen Juden.18 Bei seinem Tod im Jahr 1874 hinterließ er ein Vermögen von ca. 94 Millionen Gulden, die Hälfte davon als Privatvermögen.19 Die nächstgrößten Vermögen in diesem Jahrzehnt lagen bei 19, 18 und 14 Millionen Gulden, das fünftgrößte Vermögen bereits bei unter fünf Millionen.
Albert als jüngster übernahm die Wiener Geschäfte, Ferdinand ging nach England und Nathaniel, der den größten Teil der Kunstschätze erbte, lebte in Wien, betätigte sich als Kunstsammler und Philanthrop und führte das sorglose Leben eines Rentiers. Zwischen 1871 und 1878 hatte er sich in der Theresianumstraße ein Palais errichten lassen, das zu den prachtvollsten Neubauten des Wiener Historismus zählte. Ab 1884 begann er in Reichenau an der Rax mit dem Bau einer Sommervilla im Stil der Loire-Schlösser. Die Bezeichnung Villa war leicht untertrieben, bei 200 Zimmern und Baukosten von 2 Mio. Gulden, dem Zehnfachen der benachbarten Villa Wartholz für den Kaiserbruder Erzherzog Carl Ludwig und dem Hundertfachen der nahe gelegenen, auch nicht gerade kleinen Villa Hebra. Das Projekt blieb halbfertig. Nicht weil Nathaniel das Geld ausgegangen wäre, sondern weil er 1889 plötzlich das Interesse verloren hatte und das Gebäude zum Ärger der Fremdenverkehrsgemeinde und des benachbarten Erzherzogs in eine Stiftung für Tuberkulosekranke umwandeln wollte. Weil ihm das wegen des Widerstands der Anrainer und des Kaiserbruders nicht gelang, machte er ein Militärinvalidenhaus daraus.
Nathaniel wird meist als schrulliger Hypochonder beschrieben, der in seinem Schloss Enzesfeld nur eine einzige Nacht verbrachte, weil er gehört hatte, dass es für Epidemien anfällig sei, und der sich eine Jacht um vier Millionen Gulden zulegte, mit der er sich aus Angst vor dem Ertrinken nicht von der Küste wegwagte.20 Wenn Nathaniel reiste, dann mit eigenem Salonwagen, eigenem Leibarzt, Sekretär und Kammerdiener. Wie sein englischer Cousin Alfred, der sein eigenes Orchester dirigierte und sich einen privaten Zirkus hielt, in dem er als Direktor auftrat, hatte auch Nathaniel sein Privatorchester, das ihn überallhin begleitete und das er selber leitete, er hatte seine Gewächshäuser und seinen Fußballclub, den „First Vienna Football Club“ auf der Hohen Warte, der noch immer die blau-gelben Farben der Rothschilds trägt.21
Die wirtschaftliche Leitung des Hauses hatte Albert Salomon, genannt „Salbert“. Seine Geschäfte liefen wie geschmiert: Seine Einkünfte kamen aus der Privatbank und aus der Creditanstalt und ihrem Industriekonzern, von den Anteilen an der Nordbahn, vom Stahlwerk Witkowitz und von den großen Grundbesitzungen. Wie stark sich Albert im operativen Geschäft engagierte, ist kaum erforscht. Der Generaldirektor der Credit-Anstalt Alexander Spitzmüller charakterisierte ihn als „eigentümliche Mischung aus Gentleman und brutalem Machthaber“, der sich über seine Mittelsleute und Vertrauten im Hintergrund hielt, ohne den aber keine Entscheidung ablief. Paul Kupelwieser, sein Generaldirektor in Witkowitz, beschuldigte ihn, nicht das geringste Interesse am Industriegeschäft gehabt zu haben. Statt in neue Produktionsfelder zu investieren, habe er lieber Grundbesitz angehäuft.22 Seinen größten Coup hatte Albert 1881 mit der Konvertierung von 592 Mio. Gulden ungarischer Goldrente von bisher sechs auf vier Prozent gemacht und dabei angeblich 150 bis 160 Mio. Gulden verdient.
Der Eintritt der Rothschilds in die Adelsgesellschaft verlief langsam, schwierig und unvollkommen. Auch die Rothschilds der vierten Generation, die sich ihren vergoldeten Palästen und gepflegten Gärten widmeten, waren immer noch stolz auf ihre jüdische Identität. Auch ihre formale Aufnahme in den Adelsstand und die ihnen schließlich gewährte Hoffähigkeit, für einen Baron jüdischer Konfession ein singuläres Ereignis, bedeuteten keinen uneingeschränkten Zutritt in diese Gesellschaft.23 Fürstin Pauline Metternich soll Nora Fugger zufolge zu Rothschild gesagt haben: „Warum lassen sie sich denn nicht endlich einmal taufen?“ Der Baron gab ihr zur Antwort: „Aber Fürstin, was würde das an der Sache ändern? Ich wäre dann doch nur ein getaufter Jude.“24
Albert ließ sich in der Heugasse, heute Prinz-Eugen-Straße, ein riesiges Palais im Louis-Seize-Stil errichten, mit silbernem Speisesaal und goldenem Ballsaal. Rothschild-Schlösser gab es unter anderem in Langau, Enzesfeld, Schillersdorf und Beneschau, riesigen Grundbesitz im Erlauf- und Ybbstal.25 Das Waidhofener Schloss wurde großzügig regotisiert und ausgestaltet. Selbstverständlich waren nicht nur eigene Jagdreviere und Reitställe, sondern auch eine eigene Radfahrhalle, ein Tennisplatz, ein Eislaufplatz, eine riesige, aber antiquierte Kunstsammlung und ein botanischer Garten. Albert war Pferdezüchter und Rennstallbesitzer und neben dem Pferdenarren Baron Springer, dem viertreichsten Wiener, das einzige jüdische Mitglied des exklusiven Jockeyclubs.26
Eine „eigentümliche Mischung aus Gentleman und brutalem Machthaber“: Albert Salomon Freiherr von Rothschild mit seiner Frau Bettina Caroline, um 1880.
„Er hat Liebhabereien wie ein Schnorrer“, meinte der Berliner Bankier Carl Fürstenberg in einer auf den ersten Blick recht unpassenden Art über Albert Rothschild: Schlittschuhlaufen, Radfahren und schwierige Bergtouren bildeten sein Hauptvergnügen.27 Er war ein hervorragender Fotograf und anerkannter Schachspieler, er besaß eines der ersten elektrischen Automobile in Wien, bevorzugte aber den Fiaker, war ein begeisterter Alpinist, der als siebenter am Matterhorn war, und ein Hobbyastronom von Rang. Die meiste Zeit seines Lebensabends verbrachte er in seinem Photoatelier, wohin er sich auch die Finanz- und Börsenachrichten bringen ließ. Angesichts seiner riesigen Einkommen mussten seine vielen Schlösser und Sammlungen, ja selbst die kolportierte Summe von etwa 35 Millionen Kronen oder vielleicht sogar Gulden oder etwa 3,5 bis 7 Prozent seines Lebensverdiensts für Sozial- und Kulturförderungen dennoch wie Schnorrerei erscheinen. Albert Rothschilds Sparsamkeit war stadtbekannt. Die folgende Anekdote mag gut erfunden sein: Im Pariser Ritz habe er sich nach dem billigsten Zimmer erkundigt. Auf den Hinweis des Portiers, sein Sohn nehme immer die Fürstensuite, erwiderte er trocken: Der hat ja auch einen reichen Vater. Den Großteil seiner Einkommen jedenfalls hat Rotschild nicht konsumiert, sondern für Wertpapiere und sonstige Veranlagungen ausgegeben, um sein Einkommen weiter zu vermehren.
Es ist keine Eigenart der österreichischen Rothschilds, dass sie mehr quantitativ als qualitativ bauten und recht antiquiert Kunst sammelten, mit wenig Blick für das Neue: Louis Quinze und Louis Seize. Der „goût Rothschild“ war sprichwörtlich. Anselm Rothschild war von seinen Kindern als Sammler von Schnupftabaksdosen verspottet worden. Aber diese seine Kinder Nathaniel und Albert sammelten zwar Tizian, Tintoretto, Tiepolo und die Niederländer, aber keine Impressionisten, keine Sezessionisten und auch keinen Klimt oder Schiele.
Das Vermögen des 1905 kinderlos verstorbenen Nathaniel erbte sein Neffe, Alberts ältester Sohn Adolphe. Dieser versteuerte 1910 ein Jahreseinkommen von 1,001.101 Kronen. Damit lag er an 24. Stelle des Rankings. Für die Geschäfte eignete er sich wenig. Er hatte zwar Jura studiert, interessierte sich aber für Kunstgeschichte, Philologie und Philatelie. Er besaß eine philatelistische Sammlung von Weltruf und die hervorragende Kunstsammlung, die er von seinem Onkel Nathaniel Rothschild geerbt hatte, dazu die berühmten Gärten auf der Hohen Warte.
Die letzten Jahre Albert Rothschilds waren unglücklich verlaufen. Nachdem er 1892 so früh seine Frau verloren hatte, versetzte ihm der Freitod seines jüngsten Sohns im Jahr 1909 den letzten Schlag. Die Leitung der Geschäfte ging nach seinem Tod 1911 an seinen zweiten Sohn Louis über, der noch keine 30 Jahre alt war.28 Dieser, stoisch und unnahbar, war ein Grandseigneur, aber kein Arbeitstier. Er verkörperte den ledigen Playboy, der erst in seinen Sechzigern heiratete, war ein phänomenaler Reiter, Jäger und Polospieler und interessierte sich für Anatomie, Botanik und Kunst. Während die englischen Rothschilds nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr außergewöhnlich reich waren, blieb Louis Rothschild, der letzte Chef der österreichischen Linie, auch nach 1918 der weitaus reichste Österreicher.29 Aber auch sein Vermögen war schon stark geschmolzen und bewegte sich nach dem Zusammenbruch der Credit-Anstalt im Jahr 1931 in steilem Fall. Die Nationalsozialisten raubten den immer noch riesigen Rest. Die Rückstellungen nach 1945 wickelte er in der Art eines Grandseigneurs ab, zugunsten seiner ehemaligen Beschäftigten und zugunsten des österreichischen Staates. Für einen Rothschild im sowjetisch besetzten Teil Österreichs standen die Perspektiven nicht gut. Von Witkowitz, dem größten Stahlwerk der Tschechoslowakei, erhielt er immerhin eine Ablöse von einer Million Dollar. Als Louis am 15. Jänner 1955 in Montego Bay auf Jamaika ertrank, war sein Tod den Zeitungen keine großen Nachrufe mehr wert. Mit dem Tod von Eugène Rothschild im Jahr 1976 waren die österreichischen Rothschilds in männlicher Linie endgültig ausgestorben.
Die Branchenstruktur der Millionäre
Anmerkung: Die Zuordnungen sind wegen der Mischerwerbe der meisten Einkommensbezieher unscharf. Zur Frage und Definition des jüdischen Anteils vgl. den entsprechenden Abschnitt.