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Die Macht der Bankdirektoren
ОглавлениеAn erster Stelle der Einkommensliste von 1910 steht Rothschild. An zweiter Stelle, wenn auch weit abgeschlagen, liegt – durchaus vergleichbar mit heute – mit Theodor Taussig bereits ein Bankmanager. Während die Privatbankiers eine führende Rolle im Wiener Geistes- und Kulturleben einnahmen, auch Zeit und Interesse für Wissenschaft und Kunst fanden, in ihren Palais große Gesellschaften geben konnten und über ihre Frauen eine berühmte Salonkultur pflegten, war die Welt der Manager zwar nicht viel weniger exklusiv, aber viel nüchterner. Die Bankdirektoren besetzten die Spitze der Einkommenshierarchie. Gefürchtet war ihre Macht. Ihr Arm war lang. In ihren Banken waren sie Gott. Sie herrschten als Autokraten. Der Führungsstil glich dem von Privatbankiers. Sie waren voller Pläne, die sie in der Regel im Alleingang durchzogen, ohne Vorstandskollegen zu informieren oder mit ihnen zu beraten. Nahezu die gesamte Wirtschaft war von ihnen abhängig. Sie waren nicht nur Bankleute. Sie saßen in unzähligen Verwaltungsräten der Industrie und regierten die größten Konzerne und Kartelle des Landes, Taussig in der Bodencredit oder Morawitz in der Anglobank. Auch das Kaiserhaus, der hohe Adel und die christlichsozialen, antisemitischen Politiker waren auf ihre Hilfe angewiesen. Das Lob der Bankiers steht in den Nachrufen und Festschriften. In der öffentlichen Meinung waren sie Feindbilder: jüdisch, unermesslich reich, menschenverachtend. Hinsichtlich des Einkommens machte es kaum einen Unterschied, ob es sich um Selbständige oder um Angestellte handelte, um Manager von Aktienbanken oder Privatbankiers. Von der Machtfülle, der Zahl der Mandate in Verwaltungsräten, auch der Bekanntheit in der Öffentlichkeit lagen die Direktoren der großen Wiener Aktienbanken an der Spitze. Für die Privatbankiers hingegen hatte Diskretion Vorrang.
Von den 68 Aktienbanken der österreichischen Reichshälfte im Jahr 1911 hatten 21 ihren Sitz in Wien. Auf diese 21 Banken entfielen mehr als zwei Drittel des gesamten Bankaktienkapitals der österreichischen Reichshälfte. Wien zählte vor dem Ersten Weltkrieg acht große Aktienbanken, man würde heute sagen, systemrelevante Banken. Die weitaus größte davon, die 1855 nach dem Vorbild der Crédit Mobilier gegründete Credit-Anstalt, stand immer noch im Einflussbereich der Rothschilds. Die 1863 unter maßgeblicher Beteiligung der Crédit Foncier de France entstandene Boden-Credit-Anstalt galt als Bank des Kaiserhauses und des Hochadels und betrachtete sich als die vornehmste Bank der Stadt. Dazu kamen noch die ebenfalls 1863 gegründete Anglo-Bank, ferner die Union-Bank, die Verkehrsbank, die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft und der 1869 gegründete Bankverein, der in der Gründerzeit eine recht dubiose Rolle gespielt hatte, nach der Jahrhundertwende aber eine sehr erfolgreiche Entwicklung startete, und als letzte der großen Bankgründungen 1880 die Länderbank, die als christlich-konservative Gegengründung zu den jüdisch dominierten Banken intendiert war, aber nichtsdestotrotz fast ausschließlich von jüdischen Managern geleitet war. Dazu kam eine Reihe mittlerer Aktienbanken, von der Merkurbank bis zur Depositenbank, deren spektakulärste Zeit erst in der Hyperinflation unter ihrem Präsidenten Josef Kranz beginnen sollte. Im Schatten Wiens stand der Provinzbankensektor, der in sehr rascher Bewegung war, mit zahlreichen Neugründungen, aber mit ebenso vielen Krisenfällen. Unbedeutend hingegen waren der Sparkassen- und der Genossenschaftssektor, sowohl nach System Schulze-Delitzsch wie Raiffeisen. Die Mitwirkung als Sparkassenrat oder in Genossenschaften brachte über die damit vertretenen sozialen Anliegen vielleicht symbolische Reputation. Wirkliche Finanzmacht oder große Marktanteile waren damit noch nicht verbunden.
Woher kamen die Bankmillionäre? Nicht alle aus begütertem Milieu. Einige schafften den Aufstieg von ganz unten. Nur vier waren nicht jüdisch. Der Geburtsadel war nur auf Ehrenposten zu finden, Montecuccoli als Präsident und Aushängeschild der Länderbank und Kasimir Freiherr von Pfaffenhofen, der die Repräsentationsfunktion eines Präsidenten der Anglobank innehatte. Anders als vor 1850 kam der typische Wiener Bankier nicht mehr aus dem Deutschen Reich, sondern, wenn er nicht ohnehin bereits in Wien geboren war, aus den Sudetenländern. Max Feilchenfeld war in seiner Verbindung von norddeutscher Präzision und Wiener Melange fast schon eine Ausnahme. Auslandserfahrung war nahezu Bedingung, mehrere Sprachen waren Pflicht. Obligatorisch war auch, wissenschaftlich oder publizistisch tätig zu sein, in der Neuen Freien Presse zu schreiben oder als Buchautor hervorzutreten.
Völlig an der Realität vorbei gehen die Angaben und Schätzungen, die bislang über die Einkommen der Wiener Bankiers und Bankdirektoren der Jahrhundertwende angeführt wurden.50 Als Neurath 1906 von der Credit-Anstalt engagiert wurde, seien ihm 15.000 Kronen angeboten und Gesamteinkünfte von mindestens 45.000 Kronen garantiert worden. Auch Taussig, so heißt es, habe bis 1905 die 24.000 erreicht, dann 40.000 Kronen, Sieghart, sein Nachfolger, 50.000, Spitzmüller 56.000.51 Die Wahrheit sieht anders aus. Theodor Ritter von Taussig versteuerte 1910 mit über vier Millionen das zweithöchste Einkommen der Habsburgermonarchie, Morawitz 1,4 Millionen, Feilchenfeld mehr als 500.000 Kronen, Lohnstein mehr als 200.000, Mikosch 141.000 Kronen. Josef Redlich, immer gut informiert, rechnete, dass sein Intimfeind Sieghart 1911 als neu bestellter Gouverneur der Boden-Credit-Anstalt die fantastische Summe von 200.000 Kronen tangieren würde, und da dürfte er weit unter der Wahrheit geblieben sein.52 Morawitz hinterließ ein Vermögen von 30 Mio. Kronen. Auch Taussig, obwohl von recht armer Herkunft, brachte es mit 10 Mio. Kronen im Laufe seiner Karriere zu einem sehr bedeutenden Vermögen.
Man muss bei den Einkommen der Bankmanager neben dem Grundgehalt in der Bank auf zwei weitere Einkommensquellen Bedacht nehmen, die Tantiemen aus den Verwaltungsratssitzen und die Erträge von Börsenspekulationen. Die meisten Direktoren spekulierten an der Börse.53 Die Grundgehälter lagen zwar unter der 100.000er-Schwelle. Aber den größten Teil des Einkommens machten die gewinnabhängigen Boni und die Einkünfte aus Verwaltungsratssitzen aus. Damit und mit spekulativen Börsegeschäften erreichten die Spitzenverdiener unter den Bankdirektoren ein Einkommen von mehreren 100.000 Kronen jährlich. Mitunter ging das schief. Maximilian Krassny hat an der Börse in Paris das Vermögen seiner Frau, einer Ehrenzweig, verloren und lag daher einkommensmäßig recht niedrig, aber immer noch bei 138.150 Kronen.54 Taussig hingegen muss in seinem letzten Lebensjahr mit Spekulationen mehrere Millionen extra verdient haben. Denn 1910 versteuerte er ein Einkommen von 4,8 Millionen Kronen. 1909 hatte er nur 748.000 Kronen deklariert.
Dieser Theodor Ritter von Taussig, der Lieblingsfeind von Karl Kraus, der Gouverneur der Österreichischen Boden-Credit-Anstalt, galt als der „hervorragendste Bankier des Landes“, wie Ludwig von Mises in seiner „Geldtheorie“ vermerkte.55 Spitzmüller lobte ihn als die stärkste Persönlichkeit der damaligen Bankenwelt: „Seine Konzeption auf dem Gebiet der Industriefinanzierung war eine ganz ungewöhnliche, oft auch überraschende und wohl auch bei der Wahl der Mittel zur Ausschaltung der Konkurrenz eine rücksichtslose.“56 In den Worten des Bankiers Richard Kola war er „der allmächtige Direktor“.57 Josef Redlich charakterisierte ihn als „frostig wie immer“.58 Er schrieb ihm in seinem Tagebuch einen privaten Nachruf, der, weil nicht zur Publikation gedacht, wohl ehrlich war: „Mit Theodor Taussig ist einer der stärksten und bedeutendsten Männer gestorben, die ich je gekannt habe. In den letzten Jahren standen wir uns näher: soweit das bei dem der Freundschaft wenig fähigen Naturell Taussigs möglich war. Er war aus einem königlichen Stoffe von der Natur geschnitzt: einer der wenigen Beweise dafür, dass das Echte, Große und Starke in der jüdischen Rasse, das zur Herrschaft befähigt, nicht ganz ausgestorben ist …. Im Abgeordnetenhaus aufrichtiges Bedauern bei den Klugen und Starken über Taussigs Tod, so bei Lueger und Liechtenstein!“59 Auch von Sieghart wird Taussig als „stärkste Persönlichkeit der Wiener Finanzwelt“ charakterisiert, die damals „an gescheiten und erfahrenen Bankleuten nicht arm gewesen“ sei.60 Er sei nicht sehr beliebt gewesen, habe sein Judentum sehr hervorgekehrt, was ihn nicht hinderte, Lueger Kredite zur Verfügung zu stellen, als die Liberalen noch hoffen konnten, die Herrschaft der Christlichsozialen durch eine Kreditsperre zu brechen, wie Sieghart meinte. Ähnlich habe er sich angesichts der Pogrome in Russland verhalten. „Die Wiener Börse fürchtet Gott, Taussig, Wittgenstein und sonst nichts“, meinte Karl Kraus61, und schrieb von den „eisenfressenden Bestien Taussig und Wittgenstein“.62 Ging es Taussig um persönlichen Reichtum, ging es ihm um das Ansehen seines Instituts, ging es ihm um die Macht? Er kam von sehr niedriger Herkunft: Der Vater, ein Industriearbeiter mit wechselnder Beschäftigung, arbeitete sich langsam empor, vom Gelegenheitsarbeiter über den Handlungskommis zum Kohlenhändler. Taussig war vergleichsweise wenig assimiliert. Er wurde als gläubiger Jude beschrieben, der, genährt von der Bibel, im Erfolg seiner Bank die Erneuerung des biblischen Mysteriums erblickte.63 Von 1901 bis 1906 war er Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Die Erbschaftssachen im Hause Taussig, der zehn bis 20 Millionen Kronen hinterlassen hatte, merkt Redlich noch an, seien „nicht sehr freundschaftlich verlaufen!“.64
Symbol des wirtschaftlichen Aufstiegs der Monarchie: Max Ritter von Gomperz.
Julius Herz stand in der Boden-Credit-Anstalt im Schatten Taussigs, des allmächtigen Gouverneurs. Nach dessen Tod wurde er Vizegouverneur, als Gouverneur wurde ihm Rudolf Sieghart vorgezogen. Sein internationales Standing hatte sich Herz in Paris und London erworben. Er glänzte mit brillanten Sprachkenntnissen, ökonomischem Sachverstand und herausragenden Fähigkeiten zur Repräsentation. Als Übersetzer der Werke des britischen Ökonomen G. J. Goschens genoss er auch wissenschaftliches Ansehen. Sein großer Rivale Sieghart, der ihn bei der Nachfolgefrage ausgetrickst hatte, sagte zu seinem Ableben: ein Bankier und Finanzmann in allen Fasern seines Lebens, ein Bankier der guten alten Schule … ein außerordentlicher Kenner der Tradition … ein lebendes Buch … ein reicher Tresor an Erfahrungen …65 Ob er es ehrlich meinte, ist zu bezweifeln, obwohl er zweifellos recht hatte.
Mehr als ein halbes Jahrhundert war Max von Gomperz eng mit der Credit-Anstalt verbunden, zunächst als Mitglied des Verwaltungsrats, zuletzt als Präsident. Als er 1913 im Alter von 91 Jahren starb, galt er als deren verkörperte Tradition und als Symbol des wirtschaftlichen Aufstiegs Österreichs im letzten Jahrhundert.66 Der Sektionschef Richard Schüller bezeichnete ihn nicht nur als den erfahrensten, sondern auch als den besterzogenen der Wiener Bankiers. Von ihm wie von Taussig und Sándor Hatvan habe er manches gelernt.67 Seine vorsichtig abwägende Klugheit war sprichwörtlich: „Als die Regierung und die Direktoren der Credit-Anstalt sich an einer chinesischen Anleihe beteiligen wollten, sagten sie: Österreich muss auch einen Platz an der Sonne haben. Gomperz dazu: Mir genügt ein guter Platz im Schatten.“68 Er wohnte im Palais Todesco, wo seine Schwester Sophie, verheiratet mit dem Bankier und Baron Eduard Todesco, den berühmten Salon führte, in welchem die bekanntesten Wirtschaftsführer, Politiker und Künstler verkehrten. Sein Vermögen wurde bei seinem Ableben im Jahr 1913 auf 11,2 Millionen Kronen geschätzt.69 1857 hatte ihm Philipp Gomperz ein Vermögen von 309.265 fl CM vererbt, nur 7 Prozent dessen, was Max 1913 hinterließ.
Gleich zwei Brüder Blum besetzten Leitungspositionen bei der Credit-Anstalt und bei der Rothschild-Bank. Julius Blum, auch „Blum-Pascha“ genannt, war im Jahr 1910 Vizepräsident der Anstalt. Mit einem Einkommen von 312.747 Kronen hatte der konfessionslose Weltmann eine bewegte Karriere hinter sich: Nach Lehrjahren in der Triester Filiale der Creditanstalt, dann als Direktor der neugegründeten Austro-Egyptian Bank, wechselte er von 1879 bis 1890 in den ägyptischen Staatsdienst als Unterstaatssekretär für Finanzen, von wo sein Pascha-Titel herrührte. 1890 kehrte er in die Direktion der CA zurück. 1913, nach dem Tode von Gomperz, übernahm er die Funktion des Anstaltspräsidenten.70 James Joyce führt ihn im Ulysses als Cousin seiner gleichnamigen Hauptfigur, des Zahnarztes Dr. Bloom, ein. Dieser benutzt den berühmten Namen, um sich Zutritt in die elitären Geldkreise zu verschaffen, und trägt dabei ordentlich dick auf: „Dr. Bloom, Leopold, dental surgeon. You have heard of von Blum Pasha. Umpteen millions. Donnerwetter! Owns half Austria. Egypt. Cousin.“71 Blum auf gleiche Ebene mit Rothschild, Guggenheim, Hirsch, Montefiore, Morgan oder Rockefeller zu stellen, die Vermögen in sechsstelliger Höhe besaßen, ist natürlich nur im Roman möglich, belegt aber seine Bekanntheit im angelsächsischen Raum. Blums Bruder Moriz (Maurice) war ebenfalls im Ägyptischen Finanzministerium tätig gewesen, arbeitete lang am Pariser Bankplatz, bereiste den Fernen Osten, war 1891 vom Haus Rothschild mit der Liquidation seiner Triestiner Interessen beauftragt worden und war seit 1907 Prokurist des Wiener Hauses Rothschild.
Julius Nossal, ein weiterer CA-Manager, hatte ebenfalls eine spektakuläre Karriere durchlaufen, die durch seinen frühen Tod im Alter von 47 Jahren jäh beendet wurde. Er entstammte einer aus Moldauthein (Týn na Vltavou/Böhmen) nach Linz zugewanderten jüdischen Kaufmannsfamilie. Sein Vater, der Kaufmann Simon Nossal, seine Mutter Marie, eine geborene Koschierer, und mehrere Geschwister und Verwandte liegen auf dem Linzer jüdischen Friedhof begraben. Nossal versteuerte zuletzt ein Jahreseinkommen von 198.496 Kronen. Neunzehn Jahre war er im Dienst der CA gestanden, nachdem er im Dienst des Bankhauses Thorsch und der Anglo-Österreichischen Bank seine Lehrerfahrungen gesammelt hatte. Von der Leitung der Triester Filiale der Anglo-Bank wechselte er in die Wiener Zentrale der Credit-Anstalt, war 1893 Direktorstellvertreter und 1902, nach dem Tod von Gustav v. Mauthner, Direktor. Seine spektakuläre Karriere und seinen Einstieg in den Geldadel Wiens verdankte er neben seiner fraglosen Tüchtigkeit auch seiner 1892 erfolgten Heirat mit Lori Koritschoner, der Tochter des ehemaligen Direktors der Österreichischen Länderbank Moritz Koritschoner. Diese Verbindung katapultierte ihn nicht nur in die höchsten Bankenkreise Wiens, sondern verschaffte ihm auch Zutritt in die Wiener Kulturelite. Koritschoners drei Töchter Stefanie, Lili und Lori verkehrten mit den künstlerischen Eliten des Landes. Stefanie, verheiratet mit dem Chefadministrator und Redakteur der Neuen Freien Presse Dr. Heinrich Glogau, war eine bekannte Kochbuchautorin. Lili, verheiratet mit dem Sohn des berühmten Schauspielers Sonnenthal, war ihrerseits die Schwiegermutter des Komponisten Erich Wolfgang Korngold und mit Arthur Schnitzler eng verbunden. Nossal hinterließ bei seinem frühen Tod neben der jungen Witwe zwei minderjährige Söhne, die 1939 nach Australien emigrieren konnten. Lori Nossal-Koritschoner hingegen wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 5. Dezember 1942.72
Der umstrittene Gouverneur der Boden-Credit-Anstalt: Rudolf Sieghart. Foto von Ferdinand Schmutzer, 1918.
Der Präsident der Anglobank Karl Morawitz gehörte ebenfalls zu den prägendsten Persönlichkeiten des österreichischen Bankwesens: Als Kettenraucher (sein 1904 von Philipp de Lászlo gemaltes Porträt zeigt ihn mit Zigarette), Workaholic und scharfzüngiger Kritiker gefürchtet, hatte auch er eine bemerkenswerte internationale Karriere hinter sich, bevor er an die Spitze der Anglobank aufrückte. Nach der Handelsschule war er nach Dresden gegangen, dann weiter nach Paris, zur Banque Imperiale Ottomane, war Sekretär bei Maurice Hirsch, dem „Türkenhirsch“, und später dessen Direktor der Orientbahnen. 1885 übersiedelte er endgültig nach Wien, wurde 1893 Generalrat und 1906 Präsident der Anglobank. 1913 folgte die Nobilitierung. Er hatte Wohnsitze in Wien, London, Paris und Brüssel und unterhielt enge Beziehungen zu englischen und französischen Banken und zu den Mächtigen des Osmanischen Reichs.73
Wilhelm Kux war Präsident, Max Feilchenfeld Vizepräsident und Felix Stransky Direktor der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft. Kux, dem Freundeskreis von Karl Wittgenstein zurechenbar, hat seinen Namen aufs Innigste mit dem Aufstieg des von ihm geleiteten Instituts von der gediegenen Mittelbank zur Großbank verknüpft. Noch stärker mit Wittgenstein verbunden war Feilchenfeld. Aus Frankfurt an der Oder gebürtig, war er zum typischen Österreicher geworden und zum Katholizismus übergetreten. Carl Fürstenberg stellte ihn in seinen Erinnerungen als das Musterbeispiel der Verschmelzung norddeutscher Schärfe und Gründlichkeit mit dem weicheren und phantasievolleren Wiener Temperament zu einer Melange ganz besonderer Art hin. „Er trug einen Spitzbart, war klein von Figur und wurde mit dem Alter noch etwas kleiner. Er und sein Busenfreund, der Hüne Kestranek, bildeten ein merkwürdiges Paar … Don Quichotte und Sancho Pansa konnten keine würdigere Verkörperung finden.“74 Seine zwischen 1906 und 1909 in St. Gilgen errichtete Villa Feilchenfeld, aus Haupthaus, Pförtnerhaus, Glashaus, Boots- und Badehaus, Gartenpavillon, Kegelbahn, Eiskelleranlage und Tennisplatz bestehend, beeindruckt noch heute als Hotel Billroth durch die riesigen Dimensionen. Die im nahen Brunnwinkel seit mehreren Jahrzehnten in schlichten Bauernhäusern urlaubenden, der Wissenschaft verbundenen Familien Exner und Frisch, der auch der Nobelpreisträger Karl von Frisch zugehörte, waren entsetzt über solch neureiches Protzertum. Auch Feilchenfeld galt wie alle diese Manager als rastlos tätig, bis zum abrupten Ende. Im Juni 1922 stürzte er als Siebzigjähriger auf dem Heimweg von der Bank in einen nicht ordnungsgemäß abgesicherten Schacht zu Tode.
Maximilian Krassny Edler von Krassien, Direktor der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft, begann seine Karriere beim Bankhaus Finali & Co in Florenz, später in Paris bei Horace Landau, bis er zum stellvertretenden Generaldirektor der Escomptegesellschaft aufrückte. 1911 in den erblichen Adelsstand erhoben, war er einer der großen Gegenspieler des Hauses Rothschild. Von seinem Branchenkollegen Richard Kola wird er als „persönlich von ausgesuchter Eleganz und großer Liebenswürdigkeit“ beschrieben, „geschäftlich aber von rücksichtsloser Energie und jedem Kompromiss abhold … “75 Laut Compass 1911 hatte er insgesamt 23 Verwaltungsratsposten.
Die Länderbank, die als Exponent katholisch-konservativer Interessen galt und mit den Christlichsozialen eng vernetzt war, war 1898 von Bürgermeister Karl Lueger zur Hausbank der Gemeinde Wien gemacht geworden und finanzierte deren Kommunalprogramm. Nichtsdestotrotz hatte sie nahezu ausschließlich jüdische Direktoren: Der in Ungarisch Ostrau in ärmlichsten Verhältnissen geborene Samuel Hahn war um die Jahrhundertmitte in die Haupt- und Residenzstadt Wien gekommen, wo er zuerst in der Leopoldstadt wohnte und es mit Zähigkeit und Fleiß zum Oberinspektor der Südbahn brachte. Dort lernte er Paul-Eugène Bontoux kennen. Bei der Gründung der Länderbank machte ihn dieser zum Generaldirektor, ein Amt, das er siebzehn Jahre bis zu seiner Demissionierung im Jahre 1897 innehaben sollte.76 Hahn zog – dies verdeutlicht seinen sozialen Aufstieg – von der Leopoldstadt in die Innere Stadt, wo er zunächst in der Elisabethstraße, später in der Walfischgasse wohnte. Seine von Otto Wagner 1885 in Baden errichtete Villa beeindruckt bis heute durch ihre überbordende Monumentalität. Hahn, der 1881 gleich nach seiner Konversion in den Ritterstand erhoben worden war, galt in der Öffentlichkeit als rücksichtsloser Geldverdiener: Die Menschen hätten ihm nach Kolas Meinung nicht verziehen, dass er aus kleinen Anfängen heraus eine so hervorragende Position erlangt habe. „Hahn war sehr reich und hatte sein Vermögen in den mannigfaltigsten Papieren angelegt, hauptsächlich in englischen, französischen und amerikanischen … “77 Das brachte ihm auch noch 1910, mehr als ein Jahrzehnt nach seiner unfreiwilligen Pensionierung, ein Jahreseinkommen von mehr als einer halben Million. Kraus schrieb über ihn in Abwandlung eines auf den Stahlmanager Vilmos Kestranek gemünzten Bonmots: „Er war aus Stein und stahl.“78
Eduard Palmer, ab 1898 als Nachfolger Hahns Generaldirektor der Österreichischen Länderbank, war der Finanzratgeber des Kaisers und regelte auch dessen Finanzangelegenheiten mit Katharina Schratt. Die Fürstin Nora Fugger erzählt: „Bei Frau Schratt lernte ich auch den Generaldirektor der Länderbank Eduard Palmer kennen, einen selten lieben, alten Herrn. Er war der beste Freund und bewährte Ratgeber der Frau Schratt. Auch der Kaiser schätzte ihn sehr und empfing ihn oft in Ischl und in Schönbrunn in Privataudienz … “79 Er war wohl mehr lieb als tüchtig. Sein Standardsatz, Kola zufolge: „Hm, hm, die Situation ist nicht so einfach … “80 1907 musste er wegen großer Verluste in England als Generaldirektor zurücktreten. Sein Abschied wurde ihm mehr als versüßt. Die Ernennung zum zweiten Vizepräsidenten (neben Otto Seybel), die Beibehaltung aller Verwaltungsratsstellen (mit einer Garantie auf jährliche Tantiemen von zumindest einer Viertelmillion Kronen) und eine Palmer vorbehaltene Präsidentenstelle in der Trifailer Kohlenwerks-Gesellschaft erleichterten ihm die Demission. Kola zufolge erhielt Palmer bei seiner Demission als Länderbank-Generaldirektor aus verschiedenen Positionen ein jährliches Mindesteinkommen von einer Viertelmillion Kronen zugesichert.81 Damit lag er nicht falsch: 1910 versteuerte er 169.826 Kronen. Palmer gab öfters kleine, elegante Feste in seiner schönen, am Ring gelegenen Wohnung. Er besaß besonders schöne, sehr wertvolle Bilder und überhaupt viele Kunstschätze.
Als Generaldirektor folgte ihm von 1908 bis 1916 Ludwig Lohnstein. Er galt als ein enger Freund Karl Luegers und war dessen Finanzberater in Gemeindeangelegenheiten. Lohnstein lobte Lueger trotz dessen antisemitischer Ausfälle als „einen immer außerordentlich wohlmeinenden Freund und Beschützer, der, solange er lebe, in warmem, dankbarem Gedächtnis bleiben werde.82 Lohnstein war 1908 in fünfzehn Industrieaktiengesellschaften vertreten, in fünf als Präsident. Er galt als einer der großen big linker der Vorkriegszeit.
Auch Bernhard Popper, der Direktor des Wiener Bankvereines und 1915 als „von Artberg“ geadelt, entsprach dem Typus des Multifunktionärs. In seiner Machtfülle, was leitende Positionen betraf, war Popper mit 21 Verwaltungsratssitzen unerreicht: In neun Industrieaktiengesellschaften stand er an der Spitze des Verwaltungsrats, in fünf Papierindustrieunternehmen, in sechs Berg- und Hüttenwerken.83 Später wechselte er vom Direktor zum Präsidenten des Bankvereins, zuletzt zu dessen Ehrenpräsidenten. Durch viele Jahrzehnte war er auch Präsident der Wiener Börsekammer.
Karl Stögermayer, einer der ganz wenigen Nichtjuden unter den Spitzenbankern, verzeichnete eine spektakuläre Karriere beim Bankverein. Als Sohn eines Gerichtsaktuars in Enns geboren, war er nach der Realschule als 17-Jähriger in die Boden-Credit-Anstalt eingetreten und 1875 als Disponent und Prokurist in den Wiener Bankverein gewechselt. Nach Jahren als Direktorstellvertreter und Direktor des Bankvereins, dann Vizepräsident, beendete er seine Karriere 1924 bis 1929 als Präsident und dann noch ein Jahr bis zu seinem Tod als Ehrenpräsident. Sein Aufstieg war mit dem des Bankvereins eng verbunden, war doch der Bankverein eine der ganz wenigen Wiener Banken, die die Bankenkrise der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts einigermaßen unbehelligt überstehen sollten. Stögermayer gehörte auch dem Verwaltungsrat zahlreicher Konzernunternehmungen dieses Instituts an. Er war Präsident des Wiener Frauenvereins Settlement, der sich um Straßenkinder und alleinstehende Mütter kümmerte, und er war Vorstandsmitglied der Wiener Geographischen Gesellschaft.84
Auch nüchterne Bankdirektoren konnten sich literarisch ambitioniert geben. Adolf Dessauer, der stellvertretende Präsident des Verwaltungsrats der Depositenbank, brachte es mit seinen Romanen „Großstadtjuden“ und „Götzendienst“ nicht nur zu zeitgenössischer Bekanntheit. Sie werden von Germanisten auch noch heute erforscht und wieder aufgelegt, wahrscheinlich aber mehr wegen des zeithistorischen Kolorits als wegen der künstlerischen Qualität. Auch Guido Elbogen, der als Direktor und Generalrat der Anglo-Österreichischen Bank zu großem Vermögen gekommen war, betätigte sich dichterisch, ist aber offensichtlich ganz vergessen.
Ob man jene Angehörigen des Hochadels, die an der Spitze des Verwaltungsrats einer Großbank standen, den Bankiers zurechnen kann, sei dahingestellt: Kasimir Freiherr von Pfaffenhofen, verheiratet mit Elisabeth, geborene Kinsky von Wchinitz und Tettau, war Präsident, hernach Generalrat der Anglobank. Reichsgraf Maximilian Montecuccoli-Laderchi, der langjährige Gouverneur der Österreichischen Länderbank und Präsident der Alpine Montangesellschaft, stand politisch der christlichsozialen Partei nahe. Er war kaiserlicher Kämmerer, wirklicher geheimer Rat des Kaisers und eine „in Kreisen der Diplomatie, des Adels und der Finanz hochangesehene Persönlichkeit“, obwohl er von Finanzangelegenheiten recht wenig verstanden habe.85 Diese und andere hohe Adelige, die in den Verwaltungsräten der Banken vertreten waren, waren in Wahrheit nur dazu da, das Prestige der Banken nach außen abzusichern.
Die leitenden Bankiers und Manager standen in erbitterter Konkurrenz. Man begegnete sich in unterkühlter Freundschaft, sprich Feindschaft. Der Berliner Bankier Carl Fürstenberg, dem Eugen Minkus, der Direktor der Unionbank, den Wechsel der Geschäftsbeziehungen zur Niederösterreichischen Escompte Gesellschaft verübelte, wollte sich mit diesem bei einem Besuch versöhnen. Der Portier begrüßte ihn freundlich. Fürstenberg fuhr nach oben und erzählte Minkus, wie herzlich ihn der Portier in Empfang genommen habe. Minkus erwiderte trocken: „Da sehen Sie wieder, was man heutzutage für ein unzuverlässiges Personal hat. Der Mann ist nicht à jour.“86
Zeichnet ein kritisches Bild der Wiener Gesellschaft: das Umschlagbild des Romans des Bankiers Adolf Dessauer „Götzendienst“, Wien 1899.
Sie sind Urgesteine des Kapitalismus. Sie arbeiten sprichwörtlich bis zum Umfallen. Sie sterben in der Arbeit. Das unterschied sie zwar nicht von ihren vielen kleinen Bediensteten, Arbeitern und Gehilfen, für die eine Altersruhe ebenso undenkbar war. Eugen Minkus war 1923 nach 63-jähriger Tätigkeit in der Unionbank, wenige Tage nach seinem mit großen Ehrungen vollzogenen Rücktritt, verstorben. Die Zeitungen kritisierten die „hartnäckige Herrschsucht eines an Verdiensten sicherlich reichen, aber der dahinrasenden Zeit fremd gewordenen Mannes“.87 Feilchenfeld stürzte als Siebzigjähriger auf dem Heimweg von der Bank in einen ungesicherten Schacht zu Tode. Stögermayer trat 1929 im Alter von 81 Jahren nach mehr als 35 Jahren an der Spitze des Bankvereins zurück. Ein Jahr darauf starb er. Der Direktor der Deutschen Bank Hugo Mankiewitz, vielleicht besser bekannt als Großvater von Marcel Prawy, starb an nervlicher Erschöpfung. Sein Bankierskollege Fürstenberg kommentierte das trocken: „Der arme Mankiewitz, Direktor der Deutschen Bank, hat sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode gearbeitet … er arbeitete bis tief in die Nacht … Die Folge war ein völliger Nervenzusammenbruch … so dass der einige Zeit darauf eintretende Tod eher als eine Erlösung empfunden werden musste.“88
Der völlige Verzicht auf Freizeit wird in den Biographien gerne betont, weil das diese Kapitalisten von der Leisure-Class so sehr unterschied: Bernhard Popper hat nie Urlaub gemacht, besaß auch keinen Landsitz. Im Sommer logierte er im Wiener 17. Bezirk, im Winter im 1. Bezirk. Auch Julius Herz, Vizegouverneur der Boden-Credit-Anstalt, habe in den letzten Jahren seiner Tätigkeit nicht mehr als zwei Wochen Urlaub genommen. Für Morawitz existierte nichts neben der Bank: Von Jugend auf gewöhnt, mit wenigen Stunden Schlaf auszulangen, sei er schon bei Morgengrauen am Schreibtisch zu finden gewesen, schon vor acht Uhr morgens, gewöhnlich als Erster, vor allen übrigen Beamten und Direktoren. Bis in die späten Abendstunden habe er gearbeitet und an allen Werktagen als Mittagessen wenn halbwegs möglich das nämliche Menu genommen.89 Ein Rhythmus wie ein Uhrwerk. Für den Austausch von Floskeln und Höflichkeiten war keine Zeit. In verschiedenen Wiener Bankdirektionen sei die Tafel angebracht gewesen: „Zeit ist Geld!“ „Die Besuche wollen kurz sein.“90 Selbst die Aufforderung, noch zu bleiben, darf nicht ernst genommen werden! Man stilisierte sich als Geldmaschine: Karl Morawitz hatte in seinem Büro die Inschrift: „Ich habe die heutigen Zeitungen gelesen, ich weiß, was für Wetter wir haben; mir und meiner Familie geht es gut. Ich befasse mich nur mit Geschäften.“91
Die Bankiers des Fin de Siècle besetzten die oberste Spitze der Einkommenshierarchie. Aber sie besetzten bei weitem nicht die Spitze der sozialen Skala, die weiter sehr viel mehr auf den traditionellen aristokratischen Werten basierte als auf den Werten des Geldes. Robert Musil brachte den geringen sozialen Rang des Bankiers im Mann ohne Eigenschaften auf den Punkt: Der Bankdirektor Léon Fischel beeindruckt den Professor Schwung kaum. Auch Morawitz sah das so: Der Respekt gelte nicht den jüngst erworbenen Reichtümern, sondern den ererbten Vermögen und staatlichen und adeligen Titeln.
Taussig hatte sich 1894 von dem bekannten Architekten Karl König eine riesige, schlossartige Sommervilla in Hietzing mit allen technischen Raffinessen der Zeit errichten lassen, mit eigener Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Gärtner- und Portiershaus, Kutscher- und Stallgebäude, Manege und Wettersäule. Die künstlerische Ausgestaltung des Speisesaals stammte von Josef Engelhart. Die Villa wurde 1931 abgerissen. Auch Krassny führte einen sehr aufwendigen Lebensstil, Max Feilchenfeld lebte angeblich eher bescheiden, obwohl sein Landsitz in St. Gilgen zu den „großartigsten Anlagen zählt, die nach der Jahrhundertwende im Salzkammergut errichtet wurden“.92 Doch anders als die Privatbankiers sind die Manager durch keine Salons, durch kein großartiges kulturelles Engagement und durch kein die Breite der Gesellschaft überspannendes Netzwerk bekannt geworden.
Weniger als 10 Prozent der Bankiers auf der Liste waren nichtjüdischer Herkunft: Damit nimmt Wien zweifellos eine Sonderstellung ein. Jüdische Bankiers spielten in vielen Ländern eine substanzielle Rolle, aber nirgendwo so total wie in Wien.93 In London, wo bereits eine Gruppe von Quäker-Bankern existierte, in Amsterdam mit seinem starken Anteil von Mennoniten oder in Hamburg, wo traditionell protestantische Händler stärker im Bankgeschäft engagiert waren, war der Anteil jüdischer Banker viel geringer.94 Auf der obersten Ebene der Bankenhierarchie gab es demnach auch keine Front christlich gegen jüdisch oder katholisch gegen jüdisch, sondern zwischen Juden und Juden, zwischen Sieghart und Rothschild, zwischen Taussig und Blum, zwischen Minkus und Fürstenberg, zwischen Morawitz und Lohnstein.
Wenn der Katholik Spitzmüller, der 1910 zum Direktor der Credit-Anstalt bestellt wurde, in seiner Autobiographie behauptete, es habe in seinen Kreisen keine rassisch-religiösen Vorurteile gegeben, mag das schon zutreffen. „Daraus, dass meine drei beziehungsweise vier Kollegen Juden waren, ergab sich nicht die geringste Reibungsfläche.“95 Man muss allerdings berücksichtigen, dass diese Passage 1955 geschrieben wurde. Aus seinem Tagebuch zitierte Spitzmüller hingegen eine 1911 verfasste Notiz, die ganz anders klingt: „Die Boden-Credit-Anstalt als Werk Taussigs bildet den Gegenstand einer Götzenanbetung seitens der Juden, auch der besten wie Hammerschlag. Wie soll ich, der einzige Christ, noch dazu geschäftlich ohne Routine, obtenieren?“96 Es seien die Direktoren der anderen Wiener Großbanken, schreibt er im Tagebuch weiter, fast ausschließlich Juden: „So paradox es klingt, so ist es doch eine Tatsache, dass auch unter den eigentlichen sogenannten Erwerbsmenschen ethisch hochqualifizierte Persönlichkeiten zu finden waren.“97 Daraus kann man durchaus antisemitische Ressentiments herauslesen.
Für die antisemitische Propaganda eigneten sich die großen Banken und ihre alles übergreifende Macht natürlich bestens. Im Tagesgeschäft hingegen war man auf sie und ihre Kompetenz angewiesen. Der Kaiser verlieh den Bankiers Adelstitel, höchste Auszeichnungen und Nominierungen ins Herrenhaus. Im privaten Kreis kritisierte er sie eher abfällig, was zum Beispiel die Beziehungen seines Sohnes, des Kronprinzen Rudolf, zu Moriz Hirsch betraf („Er ist sicher wieder bei seinem Juden“), und er hätte ihnen wohl sicher nie die Hand gegeben. Der Großteil der reicheren Juden war monarchistisch gesinnt. Es gab eine schweigende Koalition zwischen Kaisertum und Judentum, die allerdings auch bei Kaiserhaus und Adel antisemitische Haltungen und Bemerkungen nicht ausschloss. Dieser schweigende, unterschwellige Antisemitismus der Oberschicht war vielmehr Teil des Systems. Auch Lueger schwang antisemitische Hasstiraden und arbeitete gleichzeitig mit Juden auch zusammen, denn diese konnten in der Konkurrenz um die Macht im Staat mit der Keule des Antisemitismus immerzu in Schach gehalten und im geeigneten Augenblick ausgegrenzt werden. Gleichzeitig wurde damit von eigenen Privilegien abgelenkt.