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Kapitel 3

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Paul Gallo erfuhr von dem Monster, als er gerade bei einem Glas Johnnie Walker im Telluride saß und Essays über Conrads Herz der Finsternis korrigierte.

Die Bar Telluride stach mit ihrer Après-Ski-Aufmachung unter den rustikalen, maritim angehauchten Kneipen von Annapolis’ Innenstadt vollkommen deplatziert heraus. Ein Paar gekreuzte Skis hingen über der Theke und eingerahmte Fotos von diversen Pisten in Colorado an den holzgetäfelten Wänden. An einem Ende der Bar befand sich ein einladender Kamin aus Naturstein mit einer abgenutzten Couch im Navajo-Muster davor. Lackierte Holzschilder stellten ausgestopfte Antilopenköpfe zur Schau, deren tote Augen grau mit Staub bepelzt waren.

Der Wirt war ein ehemaliger Kriminalkommissar namens Luther Parnell. Luther war noch nie im Leben Ski gefahren und hatte Paul gegenüber mehr als einmal zugegeben, dass er eine Skipiste nicht von einer Rodelbahn unterscheiden konnte. Er hatte das Lokal gekauft, als er in den Ruhestand gegangen war, und da das Telluride sich reger Kundschaft erfreute und keinerlei Renovierungen bedurfte, hatte er es unverändert gelassen. Selbst den Namen.

Paul mochte die Atmosphäre der Kneipe im Allgemeinen und Lou im Besonderen, aber er kam hauptsächlich her, weil sie vom College Campus zu Fuß zu erreichen war. Seine Dienstags- und Donnerstagsseminare fanden spätnachmittags statt, was bedeutete, dass er um die Abendessenszeit herum fertig war. Da ihn Mikrowellendinner vor dem Fernseher nicht zurück in sein Haus in der Conduit Street lockten, hatte er sich im Laufe der Zeit unvermeidlich angewöhnt, an diesen Tagen im Telluride zu essen, wo er nebenbei Essays korrigierte und sich mit Lou unterhielt.

An diesem Abend hatte Paul seinen Burger schon aufgegessen und arbeitete an seinem zweiten Glas Scotch, als Luther Parnell hinter der Theke vorbeiging und beiläufig die Worte »Dread’s Hand« fallen ließ.

Paul sah von der Abhandlung auf, an der er gerade saß, und starrte Lou an. »Was hast du gesagt?«

Luther zeigte auf den Fernsehschirm, der über der Theke hing. Eine Luftaufnahme von einer trostlosen, mit spärlichen Schösslingen bewachsenen Lichtung war zu sehen, die von großen, grauen Bäumen umringt war. Zwischen zwei Bäumen stand ein diagonal geparkter einsamer Streifenwagen, und mehrere Menschen gingen hin und her. Ein gelber Bagger, der blaue Abgaswolken ausstieß, schaufelte einen Graben. Der Text unten auf dem Bildschirm wies den Ort der Aufnahmen als Dread’s Hand, Alaska aus.

»Das ist mal ein origineller Name für eine Stadt, was?«, sagte Luther. »Hand des Schreckens?«

Aber Paul hörte ihm jetzt kaum noch zu. »Worum geht’s? Kann man das nicht lauter stellen?«

Luther zuckte die Achseln und gab ein Geräusch von sich, das fast wie ein Grunzen klang. Er wandte seine Aufmerksamkeit einem Mann mittleren Alters mit werdender Halbglatze und Krawatte am anderen Ende des Tresens zu. Der Mann mittleren Alters sagte irgendetwas und Luther Parnell lachte sein lautes, tiefes Lachen.

»Lou«, rief Paul ihm zu. »Kannst du das lauter machen? Kannst du den Ton aufdrehen?«

In diesem Moment wurde unten auf dem Bildschirm ein Stück Text eingeblendet: UNBEKANNTER TOTER AUS FLACHEM GRAB GEBORGEN.

Paul stand von seinem Barhocker auf. Der rote Stift, mit dem er die Essays der Studenten korrigierte, rollte vom Tresen und fiel klappernd zu Boden. Daraufhin drehten sich ein paar Köpfe in seine Richtung, doch er bemerkte es kaum. Er konnte sich auf nichts anderes als den Fernsehschirm konzentrieren.

Luther drückte sich hinter die Theke und fing an, nach der Fernbedienung zu suchen.

»Na komm, mach schon«, sagte Paul und wedelte mit der Hand.

»Herrje, Junge, krieg dich wieder ein«, sagte Lou, der immer noch hinter der Theke nach der Fernbedienung fahndete.

Auf dem Bildschirm wurde der Text von einem neuen Abschnitt ersetzt, dessen Anblick Paul wie ein eiskalter Finger über das Rückgrat strich: EINWOHNER VON ABGELEGENEM DORF IN ALASKA BEKENNT, IN DER GEGEND EINE UNBEKANNTE ANZAHL VON OPFERN ERMORDET ZU HABEN.

Paul Gallos Ohren füllten sich mit hämmernden Herzschlägen.

»Lou«, sagte er.

»Ja doch, eine Sekunde noch.« Endlich fand Lou die Fernbedienung und zeigte damit auf den Bildschirm.

Aus den Lautsprechern gellte die Stimme einer Reporterin, die mitten im Satz war: »… als ein Mann am Dienstagnachmittag ein örtliches Café betrat und gestand, eine unbekannte Anzahl von Opfern ermordet zu haben, sagt die Polizei. Quellen zufolge behauptet der Tatverdächtige, diese Opfer in einer bewaldeten Gegend ein paar Meilen außerhalb des abgelegenen alaskanischen Dorfs Dread’s Hand, einer früheren Bergbaustadt um die hundert Meilen nordwestlich von Fairbanks, begraben zu haben. Wie unser SkyCrew-Video zeigt, ist die Polizei vor Ort und seit achtundvierzig Stunden rund um die Uhr im Einsatz. Die Polizei hat die Identität des Mannes noch nicht bekanntgegeben. Bisher gibt es nur wenige Informationen, außer, dass er sich momentan unter ärztlicher Aufsicht in Untersuchungshaft befindet. Ein Zeuge gibt an, dass der Mann ein Einwohner des Orts ist oder war, aber die zuständige Kriminalabteilung von Alaskas Bureau of Investigation hat noch keine offizielle Erklärung abgegeben.«

»Eine wirklich beunruhigende Situation, Sandra«, sagte ein anderer Reporter, während das Fernsehbild ins Studio überwechselte, in dem zwei Journalisten hinter einem hohen Tresen saßen und angemessen betroffene, aber gleichzeitig muntere Gesichter machten. »Um es noch einmal zusammenzufassen: Eine noch nicht identifizierte Leiche ist an ungefähr der Stelle geborgen worden, die ein Tatverdächtiger der Polizei gezeigt hat. Er behauptet, in diesem entlegenen Dorf in Alaska mehrere Menschen ermordet zu haben.«

Paul schien ewig lange dazustehen und den Fernseher anzustarren, bis die Nachrichten schließlich von Werbung unterbrochen wurden. Sein Herz trommelte gegen seinen Brustkorb und seine Hände zitterten. Schließlich merkte er, dass Lou ihm etwas zurief.

»He, alles okay, Paul?«

Paul sah sich um und merkte, dass einige andere Gäste von ihren Tischen zu ihm hinübersahen. Sie wandten sich ab, als sein Blick sie traf.

»Mann, was ist denn los mit dir?«, fragte Lou. Er zeigte mit dem Kinn auf Pauls Barhocker und schlug ihm vor, sich hinzusetzen, ehe er zu Boden fiel.

Paul setzte sich und starrte seinen Drink an. Dann kippte er ihn sich die Kehle hinunter.

Lou stellte den Fernseher stumm und legte die Fernbedienung unter den Tresen. Er lehnte sich über die Bar zu Paul hinüber. Der Diamantohrstecker in seinem linken Ohrläppchen funkelte. »Was zum Teufel ist mit dir los, Mann?«

Paul räusperte sich. »Dread’s Hand ist, wo Danny verschwunden ist.«

»Danny«, sagte Lou. Er sprach den Namen aus, als sei er ihm nicht geläufig. Doch dann dämmerte es ihm anscheinend – Paul sah, wie Luther Parnells Gesicht eine vollkommene Veränderung durchlief –, und der Mordkommissar im Ruhestand sagte mit mehr Mitgefühl: »Danny. Dein Bruder. Scheiße, Paul. Bist du dir sicher?«

»Ganz sicher«, sagte er und dachte, wer würde einen Ortsnamen wie Dread’s Hand jemals wieder vergessen?

Lou warf einen Blick auf den Fernseher, in dem jetzt Werbung für Hypotheken lief. Luther Parnell kannte die Geschichte von Pauls Bruder. Als Danny vorübergehend bei Paul gewohnt hatte, war er sogar ein paarmal mit Paul ins Lokal gekommen. Als Danny spurlos verschwand, war es Lou gewesen, der Paul mit einem seiner alten Kollegen in Verbindung gesetzt hatte, einem Ermittler namens Richard Ridgley in Baltimore City. Ridgley hatte einige von Dannys persönlichen Konten einsehen können – Kreditkartenauszüge und Handydaten – und hatte Paul schließlich an Jill Ryerson weitergeleitet, einer Kriminalkommissarin von Alaskas Bureau of Investigations – Abteilung für Kapitalverbrechen in Fairbanks. Es waren Ryersons Kollegen gewesen, die schließlich den an irgendeiner namenlosen Schotterstraße außerhalb von Dread’s Hand stehengelassenen Mietwagen von Danny gefunden hatten.

»Das ist verrückt«, sagte Paul. In seinem Kopf drehte sich alles.

»Beruhig dich«, sagte Lou. »Bleib hier ein paar Minuten still sitzen und beruhige dich, Paul, okay?«

»Mir geht’s gut«, sagte er – was nicht ganz stimmte, das wusste er, denn ihm war innerhalb von dreißig Sekunden erst eiskalt und dann unangenehm heiß geworden. Er lockerte seine Krawatte und knöpfte die beiden obersten Knöpfe seines Hemds auf.

»Möchtest du, dass ich Ridge anrufe?«

Paul schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das jetzt bringen sollte«, sagte er. Er sah zum Bildschirm hoch, aber es lief immer noch irgendwelche Werbung. »Wie funktioniert das bei so was, Lou? Diese Leiche wurde gefunden … und was kommt nun?«

Lou zog die Augenbrauen hoch und verschränkte seine Arme. Das auf seinen Bizeps tätowierte Hula-Hula-Mädchen dehnte sich. Zuerst nahm Paul an, dass Lou selbst nachdenken musste, doch als Lou zu sprechen begann, wurde Paul klar, dass der ehemalige Mordkommissar lediglich nach den einfühlsamsten Worten gesucht hatte, mit denen er die Frage beantworten konnte.

»Ich schätze, es kommt alles auf … na ja, den Zustand der Leiche an«, sagte Lou. »Wenn die Verwesung noch nicht allzu weit fortgeschritten ist, können sie Fingerabdrücke nehmen und sie durch den Computer jagen. Man kann auch nach dem Zahnschema suchen, aber das wird meist erst gemacht, wenn man eine Vermutung hat, um wen es sich handelt, und das bestätigen will. Es gibt … außerdem weitere Anzeichen am Körper …« Lous Stimme verlor sich. Er runzelte die Stirn. »Diese ganze Scheiße willst du wirklich nicht hören.«

»Ich will nur wissen, wie es jetzt weitergeht«, sagte Paul.

»Es geht damit weiter, dass du jetzt nicht sofort voreilige Schlüsse ziehst«, sagte Lou. »Sagtest du nicht, dass du eine Kontaktperson in Alaska hast? Jemanden, mit dem Ridge dich in Verbindung gesetzt hatte?«

»Ryerson. Sie ist Kommissarin der Mordkommission.«

»Ruf sie an.«

»Wie spät ist es denn jetzt in Alaska?«

»Keine Ahnung.« Lou griff unter den Tresen und zog die Flasche Johnnie Walker heraus. Er füllte Pauls Glas zum dritten Mal an diesem Abend. »Den gebe ich dir aus. Trink.«

Paul wollte trinken, wagte es aber plötzlich nicht, das Glas anzuheben. Seine Hände zitterten zu sehr.

»Halb fünf«, sagte der Mann mit der Krawatte am anderen Ende des Tresens.

Paul drehte sich zu ihm um. »Was?«

»In Alaska ist es jetzt sechzehn Uhr dreißig«, sagte der Mann. Er erhob sich von seinem Hocker und kam mit seinem großen Glas pissefarbenem Bier herüber und setzte sich neben ihn. Er tippte sich auf seine teuer aussehende Uhr und sagte dann: »Sechzehn Uhr achtunddreißig, um ganz genau zu sein. Da ist es vier Stunden früher. Ich hab mal in Anchorage gewohnt.«

»Danke«, sagte Paul.

»Entschuldigung, dass ich mitgehört habe.«

»Schon gut.«

Der Mann lächelte, was Paul annehmen ließ, dass er vielleicht den Großteil des Gesprächs doch nicht mitbekommen hatte. Er war zu gut gelaunt. Entweder das oder er war betrunken.

»Dieses Dorf Dread’s Hand«, sagte Paul und schwenkte die Hand in Richtung Bildschirm. »Kennen Sie das?«

»Nein, kenne ich nicht. Aber in der Gegend gibt es viele ehemalige Bergbaudörfer, manche davon so winzig, dass man sie kaum zur Zivilisation dazuzählen kann. Und manche sind völlig unzivilisiert.«

Betrunken, entschied Paul.

Der Mann lächelte und nippte dann fast geziert an seinem Bier. »Ich kann Ihnen sagen, das ist eine völlig andere Welt da oben«, fuhr er fort, nachdem er sein Bier wieder auf einen Papieruntersatz gestellt hatte.

»Glaub ich gern«, sagte Paul. In diesem Moment musste er an den Karton auf dem Regalbrett in seinem Schlafzimmerschrank denken.

»Auf Yahoo!News steht ein Artikel von der Associated Press«, sagte Lou, der auf sein iPhone starrte. »Ist gerade vor fünf Minuten aktualisiert worden, aber viel mehr Einzelheiten, als das, was du gerade gehört hast, sind nicht dabei.«

»Wissen Sie, die haben einen an der Pfanne da oben«, sagte der Mann mit der Krawatte.

»Wer?«

»Alle«, sagte der Mann. »Jeder Einzelne. Selbst in den Großstädten. Und je weiter man in die Wildnis fährt, desto verrückter sind sie. Vollkommen durchgedreht. Hohe Selbstmordraten, viel Alkoholismus. Häusliche Gewalt. Und jede Menge Vergewaltigungen gibt’s da oben, wissen Sie, wobei man davon nie in den Nachrichten hört. Jedenfalls nicht hier unten in den Lower 48s.« Der Mann nickte in Richtung Bildschirm, der ein weiches, bläuliches Licht auf seine große Halbglatze warf. »Von dem, was da oben vor sich geht, hört man nichts, bis dann so was wie das hier passiert. Dann kümmert sich die amerikanische Presse darum, zumindest eine Weile lang.«

Die Reporter waren jetzt wieder auf dem Bildschirm zu sehen, berichteten inzwischen jedoch über etwas anderes. Angesichts der aktuellen Zustände mit wöchentlichen Amokläufen in den USA und ständig neuen Terroristenangriffen auf der ganzen Welt – wie viel Aufmerksamkeit konnten die Medien da ein paar Leichen in Alaska schenken?

»Wissen Sie, ich hab da oben Mitte der 80er gearbeitet«, sagte der Mann. »Bin zwischen Anchorage und Fairbanks hin und her gependelt und hab Schadensersatzanträge für eine Versicherung bearbeitet, die auf die Öl- und Erdgasindustrie spezialisiert war. Meistens hatte ich in großen Unternehmen in einer von den beiden Großstädten zu tun und habe in Anchorage gewohnt, aber ab und zu, wenn ein uraltes Maschinenteil kaputtging oder sich auf irgendeiner Eisstraße ein Tanklaster überschlagen hatte, haben sie mich in abgelegene Dörfer geschickt, wo man sonst nie hinkommt. So was passiert da öfter, als man denkt.«

»Ich hab die Fernsehsendung gesehen«, kommentierte Lou. »Die mit den Lkw-Fahrern, die auf dem gefrorenen Meer unterwegs sind.«

»Viele der Straßen durch die Berge sind nicht asphaltiert und gefährlich. Manchmal stürzen Bäume auf die Straße und auf Autofahrer, wenn die’s nicht sehen, bevor es zu spät ist.«

Lou nickte.

»Damals war ich Anfang zwanzig, von daher war das für mich ein bisschen Abenteuer«, fuhr der Mann fort. »83 oder 84 war es, dass sie mich nach Manley Hot Springs schickten, was um die hundertfünfzig Meilen westlich von Fairbanks am Tanana River liegt. Außer diesen gottverlassenen Bergbaudörfern ist da nichts, wie ich ja schon sagte. Ich glaube, damals haben in Manley vielleicht siebzig Leute gewohnt, und davon waren vermutlich viele nur vorübergehend dort.

Es gibt eine Straße, den Elliott Highway, die von Fairbanks nach Manley Hot Springs führt. Außerhalb von Fairbanks ist die ganz normal geteert, aber die letzten achtzig Meilen oder so nach Manley ist es nur noch eine Schotterpiste. Kurz vor Manley war ein Tanklaster von der Straße abgekommen und sie hatten mich hingeschickt, um Fotos zu machen und einen Unfallbericht auszufüllen. Dieser Highway war berüchtigt für Unfälle, besonders im Winter, aber dieser Unfall war im Mai passiert und es war schönes Wetter.

Na ja, ich war jedenfalls damit zugange, Fotos zu machen und meine Formulare auszufüllen und hab mich um nichts anderes gekümmert, bis ich hinter mir einen alten, klapperigen Wagen an den Straßenrand fahren hörte. Den ganzen Morgen über waren nur ein paar vereinzelte Autos vorbeigefahren, deshalb fand ich es komisch, wissen Sie? Ich dreh mich um und sehe diesen großen braun-weißen Dodge Monaco mit einem großen Aluminiumkanu auf dem Dach. Steht mit laufendem Motor da, nur ein, zwei Meter hinter meinem Wagen. Ich sehe weiter hin und warte, dass der Fahrer aussteigt, denn mal ehrlich, es gibt keinen Grund, an dem Teil der Strecke anzuhalten, besonders nicht hinter einem anderen Auto. Es sei denn, man braucht Hilfe oder so, verstehen Sie? Vielleicht hatte er einen Platten oder vielleicht … ich weiß nicht … einen Herzinfarkt oder so. Hätte alles Mögliche sein können.«

»Wie lange ist er da so stehen geblieben?«, fragte Lou.

»Vielleicht fünfzehn, zwanzig Minuten. Ach ja, ich weiß nicht, ob Ihnen der Dodge Monaco was sagt, aber das war sozusagen der Cadillac der armen Leute und nicht gerade die Art von Auto, mit der man ein Kanu durch die Gegend fährt. Der Monaco steht weiter mit laufendem Motor da und ich kann hinter der Windschutzscheibe, an der die Sonne reflektiert, nur eine einzige Person sehen, die irgendwas macht. Aber dieser Typ steigt nicht aus. Hupt nicht, rollt nicht das Fenster runter oder winkt, um mir was zu sagen. Er macht nichts weiter, als da drinnen zu sitzen.

Ich mache meine Arbeit fertig und verstaue dann meine Kamera und meinen Unfallbericht wieder in meinem Auto. Und am liebsten wäre ich einfach losgefahren … aber dann sehe ich noch mal zu dem Wagen von diesem Typen rüber und denk mir, ach, komm, vielleicht braucht dieser Esel irgendwas von mir. Also gehe ich rüber, an die Fahrerseite. Der Fahrer rollt sein Fenster runter und dieses große, haarige Holzfällergesicht grinst mich an.

Brauchen Sie Hilfe?, frage ich ihn.

Nein, Sir, sagt er ganz höflich. Er scheint ungefähr in meinem Alter zu sein, wobei das wegen seines struppigen Barts schwer zu schätzen ist. Und er grinst mich an, irgendwie verkrampft, und ich weiß nicht, ob er sich über mich lustig macht oder einfach durchgeknallt ist.

Haben Sie sich verfahren?, frage ich ihn.

Nein, Sir. Ich hab mich nicht verirrt, sagt er und grinst immer noch wie eine Schnitzfigur. Im Gegenteil, man hat mich gefunden.

Genau das waren seine Worte – Man hat mich gefunden.

In dem Moment fällt mir auf, dass er ein Gewehr an den Beifahrersitz gelehnt hat, den Lauf an der Kopfstütze und nach oben zum Autodach hoch. Bei mir im Kopf schrillen die Alarmglocken los, und mir wird plötzlich klar, dass man meine Leiche vielleicht nie finden wird, wenn dieser Typ sein Gewehr nimmt und mich hier draußen erschießt. Und als ich ihn mir so betrachte, wird mir klar, dass dieser Typ vielleicht genau so einer ist, der das tun würde. Dieses komische Grinsen saß ihm immer noch im Gesicht und seine Augen sahen … ich weiß nicht … zu intensiv aus oder so. Als ob er sich zu sehr abmühte, fröhlich auszusehen und mich davon zu überzeugen, dass er, na ja, bloß ein ganz normaler Mann war. Und das fuhr mir nicht bloß durch den Kopf, weil ich das Gewehr sah – ich war schließlich in Alaska und ganz schön weit draußen in der Pampa und da hatte jeder Gewehre, wobei ich sagen muss, dass ich noch nie jemanden gesehen hatte, der mit dem Gewehr an den Beifahrersitz gelehnt herumfuhr. Also, mir begann diese ganze Situation Angst zu machen.

Und was machen Sie hier?, frage ich ihn.

Ich schaue nur, ob Sie bleich sind, sagt er zu mir.

Na, da hatte ich genug. Schönen Tag noch, wünsche ich ihm, steige in mein Auto und fahre weg.

Tja, und etwa eine Woche später sehe ich sein großes, haariges Holzfällergesicht wieder, aber diesmal in den Fernsehnachrichten. Der Typ hieß Michael Silka und hatte in und um Manley Hot Springs herum neun Menschen ermordet, darunter einen State Trooper und eine schwangere Frau und ihre Familie. Es kam zu einer Schießerei und die Polizei hat ihn nur ein paar Tage, nachdem ich ihm auf dem Elliott Highway begegnet war, erschossen.«

»Ach herrje«, sagte Paul.

Der Mann mit der Krawatte trank sein Bier aus und stellte das leere Glas auf den Papieruntersatz.

»Ich frag mich heute noch«, sagte der Mann, »ob Silka nur in dem Auto saß, um den Mut zu sammeln, mir mit dem Gewehr den Kopf von den Schultern zu schießen. Und vielleicht meine Leiche irgendwo verschwinden zu lassen und mein Auto zu stehlen. Aus mir sein zehntes Opfer zu machen, verstehen Sie? Eine schöne runde Zahl. Falls er das vorhatte – falls das der Grund war, dass er an dem Tag seinen klapperigen Wagen hinter meinem parkte und einfach fünfzehn, zwanzig Minuten dasaß und mich beobachtete –, dann weiß nur Gott, was ihn davon abgehalten hat, das zu tun.«

»Das ist das verdammt noch mal Unheimlichste, was ich je gehört habe«, sagte Lou. Er starrte den Mann mit fast lachhaft weit aufgerissenen Augen an. »Und ich hab im Laufe meines Lebens viele abgedrehte Sachen miterlebt.«

»Ab und zu denke ich noch daran«, sagte der Mann. Manche Menschen wären stolz darauf, eine solche Geschichte zu erzählen, dachte Paul, aber dieser Mann sah aus, als hätte ihm gerade jemand in den Magen geschlagen.

Der Mann zog einen 50-Dollar-Schein aus der Tasche und legte ihn sorgfältig neben sein leeres Bierglas auf die Theke. »Es war mir ein Vergnügen, Gentlemen. Einen angenehmen Abend noch. Und passen Sie auf sich auf.« Er hielt seinen Daumen und Zeigefinger wie eine Pistole und schoss auf Paul.

Paul sah ihm nach, wie er aus dem Lokal wankte.

»Das ist Tom Justice«, erklärte Lou. »Er wohnt nur ein paar Straßen weiter. Ab und zu kommt er her und besäuft sich und geht dann zu Fuß nach Hause.« Er sah Paul an. »Alles okay? Diese Gruselgeschichte hast du jetzt wahrscheinlich nicht gerade gebraucht.«

»Alles okay«, sagte er und wusste ganz genau, dass das nicht stimmte.

Es war Viertel nach zehn, als er sein Haus betrat, benommen von zu viel Scotch und verstört von dieser neuen, schrecklichen Möglichkeit. Um die fünftausend Meilen weit entfernt wurde eine Leiche aus der arktischen Tundra gegraben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um Danny handelte, war vermutlich äußerst gering, auch wenn er sich nicht überzeugen konnte, dass es eine Unmöglichkeit war. Er merkte auch, dass sich bis an diesem Abend und obwohl er seit Dannys Verschwinden vor über einem Jahr nichts mehr von ihm gehört hatte, ein Teil von ihm – ein immer schwächer werdender Kerzenschimmer – an die Hoffnung geklammert hatte, Danny könnte irgendwo immer noch am Leben sein. Dass Danny einfach ausgestiegen war und sich in die Wälder geschlagen hatte und sich da draußen wie der Mann in den Bergen von der Wildnis ernährte. Oder dass er vielleicht losgewandert war und ins Yukon Territory oder quer durch Kanada oder sonst wo hin marschiert war. Es war sogar möglich, dass Danny wieder Probleme mit der Polizei bekommen hatte und sein Verschwinden von Anfang an geplant hatte …

Es waren optimistische, wenn auch weit hergeholte Vorstellungen, aber ein Teil von Paul hatte daran immer wieder Halt finden können. Sie gaben ihm Hoffnung. Denn wäre es nicht typisch Danny, so was Verrücktes zu tun?

Doch die Abendnachrichten hatten das alles zu Fall gebracht. Er spürte seine Hoffnung dahinschwinden, und dieser Verlust höhlte ihn aus. Mit einem Mal fühlte er sich vor Trauer fast schwerelos.

Paul Gallo hatte weder Frau, Kinder, noch Haustiere und wurde nur vom dunklen Eingang seines Bungalows in der Conduit Street begrüßt, als er in die Tür trat. Er warf seine Aktentasche auf den Boden und ging ins Wohnzimmer, wo er zwischen zwei Sofakissen die Fernbedienung hervorkramte. Er stellte den Fernseher an und ging dann in die Küche, wo er sich eine Kanne starken Kaffees machte.

Als die Elf-Uhr-Nachrichten anfingen, saß er mit beiden Händen die Kaffeetasse umklammernd auf dem Sofa und wartete, während über nie versiegende Gewalttaten in Baltimore, korrupte Politiker in Washington und Sportveranstaltungen berichtet wurde, die ihm so gut wie nichts bedeuteten.

Der Beitrag über Dread’s Hand kam fast am Ende der Sendung.

»Des Weiteren führt die Polizei an diesem Abend in einem abgelegenen Dorf in Alaska immer noch eine Suche nach menschlichen Überresten durch«, berichtete der Nachrichtensprecher und betonte den Namen des Bundesstaats, als überraschte es ihn, dass es Alaska überhaupt gab. »Dienstagabend wurde in einem flachen Grab eine bisher nicht identifizierte Leiche entdeckt. Die Suche begann, nachdem ein örtlicher Einwohner angeblich gestanden hatte, eine ungewisse Anzahl von Personen in und um das Dorf Dread’s Hand herum ermordet zu haben. Er führte daraufhin die Polizei an die bewaldete Stelle, an der er behauptet, die Leichen vergraben zu haben.«

Auf dem Fernsehschirm wurde das Schwarzweißporträt eines Mannes um die Mitte fünfzig eingeblendet, dessen starres Gesicht nicht lächelte. Er trug eine karierte Jägerjacke und hatte einen perfekten Seitenscheitel, der ahnen ließ, dass er eine Halbglatze versteckte. Unter dem Foto stand der Name JOSEPH ALLEN MALLORY und der Text darunter erklärte: NAME VON MORDVERDÄCHTIGEM IN ALASKA BEKANNTGEGEBEN.

»Die Polizei hat den Tatverdächtigen heute Abend als Joseph Mallory identifiziert«, sagte der Sprecher, »der ein Einwohner von Dread’s Hand ist. Laut Polizeiaussagen wurde Mallory in ein Krankenhaus in Anchorage gebracht, wo er wegen Unterkühlung und Dehydrierung behandelt wird. Die Polizei hat keinerlei Angaben zur Anzahl der Opfer gemacht, und obwohl Mallory laut Aussagen des Polizeisprechers mit der Untersuchung kooperiert, hat er bislang kein Motiv für diese Verbrechen bekanntgegeben und nicht gesagt, um wen es sich bei seinen Opfern handelt.«

Das Schwarz-Weiß-Foto von Mallory verschwand und das unbewegte Gesicht des Reporters wurde wieder eingeblendet. »Und gerade eben wurde uns mitgeteilt, dass an derselben Stelle eine zweite Leiche gefunden wurde. Es wird davon ausgegangen, dass die Polizei ihre Suche die Nacht hindurch fortsetzt.«

Paul machte den Fernseher aus, stellte seinen Kaffee auf einen Beistelltisch und ging dann in sein Schlafzimmer hoch, wo er die Wandschranktür öffnete. Auf dem obersten Regalbrett standen Ringbücher mit Steuerunterlagen und Arbeitspapieren sowie ein paar Schuhkartons voller Kassenbons und Briefe. Zwischen den Schuhkartons und Aktenordnern stand ein flacher, etikettenloser Karton. Paul nahm den Karton aus dem Regal, setzte sich aufs Bett und öffnete die Schachtel auf seinem Schoß.

Die Kreditkartenauszüge und Telefondaten von Danny befanden sich darin, die Detective Richard Ridgely ihm geschickt hatte, sowie mehrere Postkarten, die Danny ihm zu Anfang seiner Alaska-Reise geschickt hatte, und der Ausdruck eines großen Hochglanzporträts von Danny, das Paul der Staatspolizei in Fairbanks gemailt hatte: Danny in seiner Skijacke, die Sonnenbrille in die dunklen Haare hochgeschoben. Danny lächelte in die Kamera und sah aus wie Zahncremewerbung. Außerdem waren die Ausdrucke der letzten zwei SMS dabei, die Danny ihm geschickt hatte, bevor er nichts mehr von sich hören ließ. Die erste war: KOMME GERADE NACH DREAD’S HAND – DIE HAND DES SCHRECKENS, WIE GRUSELIG! Die zweite war ein leicht verschwommenes Selfie von Dannys Gesicht vor dem Hintergrund eines verfallenen Blockhauses. Paul hatte beide Nachrichten an die Polizei weitergeleitet.

In dem Karton befanden sich außerdem Kopien der Vermisstenanzeige, die Paul beim Alaska Bureau of Investigation gestellt hatte. Oben an die Formulare war Investigator Jill Ryersons Visitenkarte geklammert, die sie ihm mit den Kopien per Post geschickt hatte.

Eine Handynummer stand nicht auf der Karte. Er musste die Büronummer wählen. Es klingelte mehrmals, bis eine Aufnahme von Ryersons kühler, professioneller Stimme ihn bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Piep.

Paul saß mit dem Telefon am Ohr auf der Bettkante, außerstande, ein Wort herauszubringen. Sein Kopf war voller verwirrter Gedanken, unkontrolliert hindurchbrausender Gedankenzüge, aber er fühlte sich machtlos, auch nur ein einziges Wort ins Telefon zu sprechen.

Daran liegt es aber nicht allein, dachte er, während das Telefon an seinem Ohr immer wärmer wurde. Du bist immer noch so blöd, dich an Hoffnung zu klammern, Du willst es gar nicht wirklich wissen, oder? Das ist doch besser, oder?

Schließlich legte er auf, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben.

KNOCHENBLEICH

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