Читать книгу KNOCHENBLEICH - Рональд Малфи - Страница 11
Kapitel 4
ОглавлениеAls Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Sie hatten sich den Bauch ihrer Mutter geteilt, teilten dieselbe Abstammung: Paul Gallo wurde sieben Minuten vor seinem Zwillingsbruder Danny geboren. Paul kam schnell zur Welt, ein rosa, schreiendes Bündel mit zitternden Beinchen und Ärmchen, den zahnlosen Mund weit aufgerissen, die Augen wie ein Ferkel zusammengekniffen und verklebt. Er wurde sauber gewischt und schnell ans andere Ende des Kreißsaals gebracht, wo zwei Krankenschwestern seine Vitalwerte maßen. Alles schien in Ordnung zu sein. Aber während Dannys Geburt gab es Komplikationen.
»Dann wollen wir mal den zweiten holen«, sagte der Arzt, und Pauls Mutter presste. Dann sagte er: »Warten Sie, warten Sie. Moment mal.«
Eine andere Krankenschwester sah auf den Monitor. »Der Blutdruck des Babys ist gesunken«, sagte sie.
»Was bedeutet das?«, fragte Michael Gallo, Pauls Vater. »Was ist los?«
Die Nabelschnur hatte sich in der Gebärmutter um den Hals des Säuglings geschlungen, erklärte der Arzt. Jedes Mal, wenn die Mutter presste, zog sich die Schnur wie eine Schlaufe zusammen.
»Versuchen wir es mit einer anderen Position«, schlug der Arzt vor. Er wies die neben ihm stehende Krankenpflegerin an: »Holen Sie uns Hilfe.«
Sie halfen Melinda Gallo in eine andere Stellung, aber beim nächsten Pressen fiel Dannys Blutdruck erneut. Eine der Krankenpflegerinnen befahl Michael Gallo, Platz zu machen.
»Doktor!«, rief eine der Schwestern am anderen Ende des Zimmers. »Der Blutdruck fällt.«
»Wir kümmern uns darum«, versicherte der Arzt ihr.
»Nein«, rief sie. »Bei diesem Baby. Hier. Hier.«
Paul Gallos winziger Körper war auf der Waage unter den Wärmelampen schlaff geworden. Eine der Krankenschwestern hob seine Beine und schlug ihn fest auf seinen schmalen, roten Hintern. Das Baby weinte nicht.
»Doktor …«
»Holen Sie Hilfe«, wiederholte der Arzt. »Sofort.«
»Was ist denn?«, verlangte Michael Gallo zu wissen. Er ging zu der Waage hinüber, auf der der kleine Paul bewusstlos mit allen Vieren von sich gestreckt auf einer gestreiften Babydecke lag. Ein Auge stand offen und starrte ins Nichts. Und in dem Moment, als Michael seinen Sohn ansah, erschauderte Paul und begann wieder zu schreien.
»Gott sei Dank«, flüsterte die Pflegerin neben Michael Gallo.
Auf der anderen Seite des Zimmers stöhnte Melinda Gallo, schrie auf, presste erneut.
»Nein«, sagte der Arzt ruhig zu ihr.
Auf dem Monitor verlangsamte sich Dannys Herzschlag.
Auf der Waage wurde Pauls winziger Körper wieder schlaff.
Letztendlich machten sie einen Notkaiserschnitt und brachten Danny unverletzt zur Welt. Er schrie, als er einen Klaps auf den Hintern bekam, und sein etwas älterer Bruder fiel auf der anderen Seite des Zimmers in sein Geschrei ein. Der Arzt, ein Mann um die sechzig mit einem feuerroten Bart, sagte später mit einem verwunderten Lächeln auf den Lippen, wie seltsam das alles war, aber den jungen Eltern gegenüber erwähnte er es nicht mehr. Niemand sprach mehr davon.
Sie waren eineiige Zwillinge und sahen sich als Kinder auch tatsächlich sehr ähnlich – so sehr, dass Melinda Gallo sich einen Spaß daraus machte, ihre Ähnlichkeit zu betonen, und ihnen oft dieselbe Kleidung anzog, sodass ihre Nachbarn, Mitschüler und selbst Verwandte sie nicht auseinanderhalten konnten. Zu der Zeit hatten die Jungs denselben Haarschnitt, identisch von links nach rechts gescheitelt, und freuten sich, damit zur allgemeinen Verwirrung beizutragen. Damals, bevor die brüderlichen Bande unter dem Gewicht des nahenden Erwachsenwerdens zu schwächeln begannen, bestand eine geheime Magie zwischen ihnen. Seht ihr diese Jungs? Könnt ihr sie sehen? In den Sommern rannten sie barfuß und ohne T-Shirts an den schlammigen Ufern des Magothy entlang. An kühlen Sommerabenden schliefen sie draußen im Garten hinter dem Haus, sahen zum Himmel mit seinen glänzenden Sternen hoch, und ihre Zehen glitten durch das taufeuchte Gras, während sie sich zuflüsterten und kicherten und glücklich waren. Es war die Magie von Kindheit und Brüdern, und dies waren die stärksten Kräfte des Universums. Zumindest eine Weile lang.
Als Teenager begann Paul und Danny Gallos Ähnlichkeit dahinzuschwinden. Es war offensichtlich, dass sie Brüder waren, aber sie konnten anderen nicht mehr glaubhaft vortäuschen, dass einer der andere war. Und sie wollten es auch gar nicht mehr, sondern hatten es darauf abgesehen, sich jeder eine eigene Identität zu schaffen. Paul behielt die Haare kurz, während Danny seine in langen, widerspenstigen Strähnen über den Hemdkragen hängen ließ. Paul verbrachte seine gesamte High-School-Zeit glattrasiert und sauber geschrubbt, während Danny sich oft einen drahtigen schwarzen Ziegenbart und Koteletten stehen ließ, die buschig wie Fuchsschwänze waren. Sie waren beide durchschnittlich groß und hatten eine durchschnittliche Figur, aber Paul bewegte sich meistens schnell und zielgerichtet – wie ein Kolibri, sagte ihre Mutter manchmal –, während Danny sich mit der Zeit einen schlendernden Gang angewöhnte, der ihren Vater reizte und nach einem Grad von Frechheit aussah, dem Danny nur allzu gern gerecht wurde.
Und diese neu entdeckten Unterschiede beschränkten sich auch nicht auf ihr Äußeres. Ihre gesamte Schulzeit hindurch war Paul ein fleißiges, belesenes Kind. Er bekam gute Noten, und das mit Leichtigkeit. Auch im Sport war er nicht schlecht, wobei ihn niemand je für einen talentierten Athleten hielt. Danny dagegen tat sich im Unterricht schwer und war stets kurz davor, in irgendeinem Fach zu versagen. Er interessierte sich überhaupt nicht für Bücher. Im Gegensatz zu Paul war Danny allerdings ein athletisches Naturtalent, auch wenn er am Sportunterricht kein Interesse hatte und bei den Fußball- oder Baseballspielen der Nachbarschaftskinder selten mitmachte. Weil ihr Vater darauf bestand (der vielleicht glaubte, dass ein Sportstipendium Dannys beste Chance sei, an ein vernünftiges College zu kommen), versuchte Danny ins Ringkampfteam der Schule aufgenommen zu werden. Er nahm nur an zwei Kämpfen teil – die er beide gewann –, bis er aus der Mannschaft gestoßen wurde, weil er im Umkleideraum Zigaretten rauchte. Ihr Vater explodierte, aber Danny tat es gleichgültig ab. »Konnte diese bescheuerten Vereinsmeier eh nicht ausstehen«, sagte Danny später zu Paul, was ihr gesamter Austausch zu diesem Thema war.
Als sie in der neunten Klasse waren, stritt ihr Vater sich mit Danny darüber, dass er sich einen Sommerjob besorgen sollte. Dannys Vorstellungen von Sommerferien bestanden zu diesem Zeitpunkt aus Kiffen und Van Halen hören, aber er wusste, dass ihr Vater nicht nachgeben würde, und beschaffte sich daher einen Job an der Kasse von Caldor, einem Kaufhaus. Er verließ das Haus jeden Morgen um acht und kam nachmittags gegen fünf zurück, und ihr Vater ließ ihn in Ruhe. Aber irgendwann Anfang August entdeckte Paul, der auf Mittagspause von seinem Sommerjob im Baumarkt war, Danny auf dem Parkplatz von Taco Bell. Danny lag auf der Autokühlerhaube eines Freundes in Jeans-Shorts und T-Shirt auf dem Rücken, hatte eine verspiegelte Sonnenbrille auf und ein Leck-mich-am-Arsch-Grinsen im Gesicht, und rauchte eine Marlboro. Als Paul seinen Namen rief, setzte Danny sich abrupt auf, und seine nichtsnutzigen Freunde, die sich um ihn herum im Gras lümmelten oder wie Geier auf dem Kantstein hockten, setzten sich ebenfalls auf. Doch als Danny sah, dass es nur Paul war, sein älterer Bruder (wenn auch nur eine Handvoll Minuten älter), verbreiterte sich das Leck-mich-am-Arsch-Grinsen zu einem richtigen Lächeln. Er sagte Paul, dass er mit seinen Freunden für den Rest des Tages an den Strand fahren würde. Ob Paul mitkommen wollte? Paul erwiderte, dass er zurück auf die Arbeit musste und Danny doch auch, dachte er. Das Lächeln wurde lediglich noch breiter – was wie ein Ding der Unmöglichkeit schien –, und Danny musste nichts weiter erklären. Er hatte gar keinen Sommerjob gehabt und ihren Vater – und Paul – den ganzen Sommer lang angelogen.
Allerdings hatte Paul es vielleicht gewusst. Zumindest ein Teil seines Unterbewusstseins. Denn Paul ging während seiner Mittagspause nur selten zu dem kleinen Einkaufszentrum hinüber; er sparte sich lieber das Geld und nahm sich von zuhause etwas zu essen mit. Und bei Taco Bell aß er nie etwas. Trotzdem war er dort an diesem Nachmittag gerade rechtzeitig vorbeigekommen, um Danny zu erwischen, bevor der mit seinen Freunden an den Strand fuhr. Er war dort ohne jegliche Absicht hingegangen, vielleicht wie vom Schicksal geführt. Oder doch absichtlich dorthin geführt worden, wie von … irgendeiner anderen Kraft. Es war seltsam, aber als sie erwachsen wurden, entwickelte sich trotz ihrer schrumpfenden brüderlichen Bande irgendeine andere Art von Verbindung – eine Verbindung, die vielleicht sachter und doch genauso stark wie ihre Blutsverwandtschaft war.
Mit sechzehn bestand Paul seine Führerscheinprüfung im ersten Anlauf. Ihr Vater war stolz, und als das Wochenende kam, überreichte er Paul den Schlüssel zum Plymouth der Familie, ohne dass Paul darum gebeten hatte. Da Paul die Großzügigkeit ihres Vaters nicht zurückweisen wollte, nahm er den Schlüssel, ließ den Motor des alten Plymouth aufheulen … und tuckerte dann mit 10 km/h ihre Straße hinunter, während seine Eltern ihm begeistert von der Einfahrt nachwinkten.
So langsam, wie er fuhr, hätte er auch genauso gut am Lenkrad eines Traktors sitzen können. Was Paul seinem Vater gegenüber nicht zugeben konnte, als der ihm den glänzenden Messingschlüssel hinhielt und er sich seinen frisch gedruckten Führerschein in die Brieftasche steckte, war, dass er mit seinen sechzehn Jahren eine Heidenangst davor hatte, zu weit von zuhause wegzufahren. An jenem Nachmittag fuhr er drei Straßen weiter zum Park, wo er auf den Parkplatz abbog und eine dreiviertel Stunde lang Radio hörte, bevor er wieder heimfuhr. Es dauerte über einen Monat, bis er sich sicher genug fühlte, um sich auf den Highway zu wagen.
Auf typische Danny-Gallo-Art rasselte Pauls jüngerer Bruder (wenn auch nur eine Handvoll von Minuten jünger) so oft durch die Fahrprüfung, dass die Zulassungsstelle ihn mehrere Monate lang sperrte, bis er den Test erneut versuchen durfte. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, an einem Wochenende den Plymouth zu stehlen, das Auto mit seinen Freunden vollzuladen und nach Baltimore hineinzufahren. Später am Abend schlenderte Danny ungerührt, gleichgültig und vielleicht ein bisschen high zurück ins Haus und in den orkanartigen Wutanfall seines Vaters hinein. Danny verzog keine Miene, während ihr Vater sich schreiend empörte.
Nachdem ihr Vater einige Tage lang Zeit gehabt hatte, sich wieder zu beruhigen, schlug er ihnen vor, dass Danny einfach Paul fragen sollte, wenn er irgendwo hinmusste. Dieses Gespräch fand während des Abendessens statt, und als ihr Vater den Vorschlag machte, zuckten Dannys Augen in Pauls Richtung. Paul sah hoch und fing den Blick seines Bruders auf. Danny sah nicht verärgert aus; im Gegenteil, es wirkte, als kämpfte er darum, keinen Lachkrampf zu bekommen.
»Ich bin mir sicher, dass Paul dich überall hinfährt, wo du hin willst«, sagte ihr Vater. »Stimmt doch, Paul, oder?«
»Äh, klar«, sagte Paul.
So leise, dass ihn hoffentlich nur Paul hören konnte, wisperte Danny: »Wir könnten doch beide auf einem Parkplatz sitzen und zusammen Radio hören, ey?«
»Was hast du gesagt?«, fragte ihr Vater, der von Dannys kaum vernehmbarem Kommentar aus dem Konzept gebracht war und sich zweifelsohne fragte, ob darauf eine Strafe stehen sollte. »Was war das, Freundchen?«
Danny zog lediglich die Schultern hoch und sagte: »Nichts. Ist egal. Ich hab nur ’n Witz gerissen.« Seine Augen jedoch ließen Pauls nicht los und das Lächeln – oder war es ein freches Grinsen? – drohte immer noch, sein Gesicht zu überwältigen.
Die Hoffnung ihres Vaters, dass Danny sich zumindest ein kleines Sportstipendium an einem College sichern würde, ging nie auf. Danny besuchte drei Semester lang die Volkshochschule und brach seine Kurse dann ab. Von den ständigen Vorwürfen ihres Vaters verärgert zog Danny zu ein paar Freunden in eine Wohnung – und unternahm damit unbeabsichtigt den ersten Schritt einer Reise durch ein belangloses, mittelmäßiges Leben, in dem er von einer verkommenen Wohnung in die nächste zog, von einer miesen Beziehung zur nächsten wechselte und von einem schlecht bezahlten Scheißjob zum nächsten zog. Es war ein unendlicher Kreislauf, aus dem Danny anscheinend nicht nur nicht ausbrechen konnte, sondern sich wohl nicht einmal der Tatsache bewusst war, dass er darin feststeckte.
»Du wirst auf ihn aufpassen müssen, wenn wir nicht mehr sind, Paul«, hatte ihr Vater stets gesagt. Er hatte es oft genug wiederholt, dass Paul es gar nicht mehr registrierte und die immense Bedeutung dieser Worte nie ganz begriff. »Dein Bruder ist ein Versager, der mit dem Kopf im Klo herumläuft. Wenn wir nicht mehr sind, wirst du auf ihn aufpassen müssen.«
Als ihre Eltern einige Jahre später beim Absturz eines kleinen Passagierflugzeugs ums Leben kamen, hinterließen sie Paul und Danny ihr Haus und die kümmerlichen Ersparnisse, die sie im Laufe der Jahre auf ihrem Bankkonto gehortet hatten. Paul verkaufte das Haus und nachdem die Bank ihren Anteil bekommen hatte, teilte er sich den Wünschen ihrer Eltern entsprechend den Rest mit seinem Bruder – der nicht mal zur Beerdigung erschienen war. Es waren knapp über hunderttausend Dollar für jeden von ihnen. Paul investierte seinen Anteil im Aktienmarkt. Danny kündigte den Handlangerjob, den er zu jener Zeit halbherzig ausübte, und ging mit seinem Anteil auf Reisen. Er brutzelte auf Catalina Island vor der kalifornischen Küste in der Sonne, verbrachte ein paar Wochen auf den Jungferninseln und verschwendete fast einen ganzen Monat an die Nordweststaaten der USA, wo er seinen Postkarten an Paul zufolge abwechselnd mit einer kleinen Forschungsgruppe für Übernatürliches nach Beweisen für kürzlich entdeckte UFO-Aktivitäten suchte oder mit einem Trupp »Glaubender« Yetis jagte.
Inzwischen waren die Brüder, die über die Jahre hinweg kaum noch miteinander zu tun hatten, sich fremd geworden und Paul nahm an, dass die Postkarten Dannys Art waren, Kontakt aufrecht zu halten, ohne mit Paul reden zu müssen. Paul machte das nichts aus. Ihm war, als würde Danny ihn jedes Mal, wenn sie miteinander telefonierten, um Geld bitten. Als Danny es mit der Polizei zu tun bekam und wegen Drogenbesitzes angeklagt wurde, rief er Paul an und fragte, ob Paul ihm Geld für einen vernünftigen Anwalt leihen konnte, damit er nicht den vom Staat gestellten Pflichtverteidiger nehmen musste. Paul fragte ihn, was er mit seinem Anteil des Erbes gemacht hatte, was Danny ihm nicht klar beantworten konnte. »Es ist ja nur geliehen«, beharrte Danny. »Das stürzt dich doch nicht in den Ruin.« Aber bei Danny war das Geld nie nur geliehen, und das sagte Paul ihm auch. Er weigerte sich, seinem Bruder das Geld zu leihen.
Ab diesem Zeitpunkt ging es bergab.
Elf Monate lang saß Danny in einem Staatsgefängnis. Während dieser ganzen Zeit erhielt Paul nur einen einzigen Brief von seinem Bruder. Der Brief war in Dannys charakteristisch ausschweifender Handschrift auf der herausgerissenen ersten Seite eines John-D.-MacDonald-Taschenbuchs verfasst. Die recht rätselhafte Notiz lautete:
Oben ist unten, unten ist oben.
Jetzt sucht der Yeti nach mir.
Paul wollte ihm zuerst zurückschreiben, tat es dann aber doch nicht.
Als Paul eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, saß ein fremder Mann auf den Stufen vor seiner Haustür. Selbst als der Mann aufstand und Paul ihn mustern konnte, war er sich erst sicher, dass es Danny war, als er etwas sagte.
»Ich weiß, es passt dir nicht«, sagte er. »Aber ich hab nirgendwo, wo ich sonst hingehen kann.«
Danny wohnte fast drei Monate lang bei ihm, bis er wieder auf die Beine fand. Während dieser Zeit erinnerte er einen alten Bekannten von sich daran, dass der ihm noch einen Gefallen schuldete, und bekam einen Job als Dachdecker angeboten. Er nahm ihn an. Er verließ frühmorgens das Haus und brachte die Tage damit zu, Dächer zu bauen und zu reparieren. Abends kam er deutlich erschöpft und mit Teer verklebt zurück. Aber ein Teil von Paul konnte nicht anders, als sich an jenen Nachmittag vor vielen Jahren zu erinnern, an dem er Danny mit einer Zigarette im Mund auf der Kühlerhaube seines Freunds hinter Taco Bell erwischt hatte, wo er sich lümmelte und eine Fahrt an den Strand plante, während der Rest der Familie dachte, dass er an der Kaufhauskasse Einkäufe eintippte.
Es überraschte ihn selbst, dass er gemischte Gefühle hatte, als Danny schließlich eine Wohnung in Baltimore fand und auszog. In der kurzen Zeit, in der Danny bei ihm wohnte, hatten sie sich einander wieder genähert und das war gut. Aber Paul konnte auch jetzt immer wieder die Stimme seines Vaters hören, die ihm das alte Mantra ins Ohr flüsterte – Du wirst auf ihn aufpassen müssen, wenn wir nicht mehr sind, Paul –, und so bestand er darauf, alle zwei Wochen in der Stadt mit Danny essen zu gehen. Meist zahlten sie getrennt, aber ab und zu wollte Danny für sie beide bezahlen und Paul ließ ihn. Dieses kleine Ritual bestand seit ungefähr sechs Monaten, als Danny eines Abends sein Bier neben den halb aufgegessenen Teller Kitfo und Fladenbrot stellte und sagte: »Ich werde eine Weile weg sein.«
Pauls erster Gedanke war, dass Danny irgendeine Dummheit begangen hatte und wieder Ärger mit der Polizei hatte. »Herrgott noch mal, Danny. Musst du in den Knast?«
Danny lachte. »Nein, Mann. So hab ich das nicht gemeint. Ich hab den Dechdeckerjob geschmissen und breche meine Zelte ab. Diese Stadt geht mir auf den Geist. Maryland geht mir auf den Geist. Du lebst schon dein ganzes Leben lang im selben Dreißig-Meilen-Radius, Paul, und ich hab keine Ahnung, wie du das schaffst. Es macht mich verrückt.«
»Du hast deinen Job gekündigt?«
Danny tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Letzten Monat hab ich gekündigt. Ich hatte es dir schon eher erzählen wollen. Ich war kaputt, Mann. Verstehst du?«
»Es ist ein Job. Arbeit macht jeden müde.«
»Ja, nun, für mich ist das nichts. Ich kann so nicht weitermachen, verstehst du? Ich hab das Gefühl, dass ich wie im Hamsterrad laufe und nie weiterkomme.« Danny lehnte sich vor. Sein Schatten fiel auf den Tisch. Dunkle Bartstoppeln bedeckten sein Kinn und er hatte den Beginn eines Schnurrbarts. »Letzte Nacht hatte ich einen Traum, Paul. Denselben Traum, den ich jetzt schon seit Monaten habe. Da stehe ich auf einem offenen Feld und überall, wo ich hinsehe, in allen Richtungen, ist Freiheit. So, als ob ich überall hinlaufen kann und frei sein kann. Aber wenn ich das versuche – wenn ich meinen Fuß heben will –, kann ich’s nicht. Mein Fuß klebt am Boden fest. Und dann fängt der Boden an, mich runterzuziehen, mich wie Treibsand zu verschlingen. Und ich schwitze und schreie und versuche, meine Füße rauszuziehen, aber ich kann’s nicht. Ich schaffe es einfach nicht. Und dann schaue ich runter und sehe, warum: Es ist gar kein Treibsand, sondern eine Hand. Eine verweste Hand, die aus der Erde kommt und die Finger um mein Fußgelenk legt. Und obwohl ich das Gesicht von diesem Ding nicht sehen kann, weiß ich, dass ich das da unten bin, unter der Erde verscharrt. Ich bin das da unten, und ich ziehe mich in mein eigenes Grab runter.«
»Es ist bloß ein Traum«, beruhigte Paul ihn.
»Na ja, ja und nein«, sagte Danny und lehnte sich auf seinem Stuhl wieder zurück. »Ich meine, klar ist es ein Traum, aber der symbolisiert auch, wie ich mich fühle. Du bist ein Englischprofessor, ich weiß, dass du diese Symbolik verstehst, Paul. Es ist mein Unterbewusstsein. Es sagt mir, ich muss mich befreien, ehe es zu spät ist.«
»Zu spät für was?«
Danny zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er.
»Und wohin gehst du?«
»Nach Alaska«, sagte er.
»Alaska?« Paul stellte sein Bier hin. »Was gibt’s denn in Alaska?«
»Nichts, Paul. Genau das ist es ja. Kapierst du nicht? Oder … vielleicht gibt’s mich. Vielleicht gibt es mich in Alaska. Hoffentlich.« Danny lachte leise und lehnte sich so weit auf seinem Stuhl zurück, dass die vorderen Stuhlbeine vom Boden abhoben. Paul musste sich beherrschen, nicht über den Tisch zu greifen und seinen Bruder am Arm zu packen, bevor er nach hinten umkippte. Danny strich sich mit beiden Händen durch die Haare und Paul fühlte sich an Danny als Kind erinnert; diese einfache Geste rief Erinnerungen an die Sommernächte wach, in denen sie hinterm Haus zu den Sternen hochgeschaut hatten. »Ich werde mich finden, Paul. Ich weiß, für dich wird sich das wie esoterischer Schwachsinn anhören, aber ich meine es ernst. Ich bin fünfunddreißig und ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll.«
»Du wirst dich nicht finden, wenn du jedes Mal vor Verantwortung wegläufst.«
»Mann, du klingst wie Dad.«
»Und du klingst, als würdest du vor was weglaufen, statt versuchen, was zu finden.«
Danny zuckte wieder mit den Schultern und griff nach seinem Bier. »Vielleicht ist das manchmal dasselbe, großer Bruder.« Er trank einen Schluck.
»Und wie lange wirst du weg sein?«, fragte Paul.
»Weiß ich nicht genau. Auf jeden Fall mindestens ein paar Monate. Vielleicht auch ein Jahr …«
»Ein Jahr?«, sagte er.
»Niemand fährt für ein verlängertes Wochenende nach Alaska, Paul. Außerdem will ich mich richtig darauf konzentrieren und mich echt reinknien, verstehst du? Wirklich in mich gehen.«
Danny hatte recht. Es klang tatsächlich wie esoterischer Schwachsinn. Aber das wollte er Danny nicht sagen. »Und das ist nichts, was ich dir ausreden kann?«, sagte er stattdessen.
»Ich hab das Flugticket schon gekauft. Dienstag fliege ich.«
Paul seufzte. Danny grinste ihn an und Paul wollte mitlachen, aber tief in seinem Magen regte sich ein leichter Schmerz, den er in letzter Zeit ab und zu spürte. »Das ist was anderes als Catalina Island, das weißt du schon?«, fragte er.
»Ach, komm, Paul. Kannst du nicht einmal im Leben hinter mir stehen?«
Du wirst auf ihn aufpassen müssen, wenn wir nicht mehr sind, flüsterte ihm sein Vater ins Ohr.
»Na gut«, sagte er. »Ich bin auf deiner Seite. Ich hoffe, es wird toll. Ich hoffe, du findest eine Eskimofrau, kaufst dir einen schönen Iglu und gründest eine Familie.«
»Mannomann …«
»Im Ernst. Ich hoffe, du findest da oben das, was du suchst.«
Paul fand, dass Dannys Lächeln wesentlich schöner war als sein eigenes.
»Danke, Brüderchen«, sagte Danny.
»Versprich mir nur, dass du in Kontakt bleibst«, sagte er. Nach all dieser Zeit hatten sie endlich eine gute Beziehung zueinander und Paul glaubte nicht, dass er bereit war, das aufzugeben. Außerdem flößte ihm die Geisterstimme seines Vaters bereits Schuldgefühle ein.
Obwohl Danny im Gegensatz zu Paul nie bei den Boy-Scouts gewesen war, hielt er drei Finger zum Schwur hoch. »Ich verspreche es dir«, sagte er. »Ich werde dir jede Woche Postkarten schicken.«
Und das tat er auch. Außerdem rief er ab und zu an und schickte Paul per SMS Selfies, auf denen er vor diversen markanten Wahrzeichen von Amerikas letzter Grenze posierte. Paul erinnerte sich daran, irgendwann gedacht zu haben, dass er vielleicht Unrecht gehabt hatte und dass es für Danny doch keine so schlechte Entscheidung gewesen war. Dass sein jüngerer Bruder (wenn auch nur eine Handvoll von Minuten jünger) vielleicht recht gehabt hatte. Dass er sich da draußen womöglich selbst fand.
Aber dann waren in jenem Sommer irgendwann keine Anrufe mehr gekommen. Es kamen keine Textnachrichten und keine Fotos mehr. In Pauls Briefkasten trafen keine Postkarten mehr ein. Zuerst dachte Paul sich nichts weiter dabei. Schließlich hatte er es hier ja mit Danny Gallo zu tun. Aber nachdem er mehrere Wochen lang keinen Kontakt mehr mit seinem Bruder gehabt hatte – Wochen, in denen er eine Phase von seelenzermürbender Schlaflosigkeit durchlitt –, wurde Paul immer mehr davon überzeugt, dass es nicht bloß wieder eine von Dannys unzuverlässigen Episoden war. Er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte, dass irgendetwas falsch gelaufen war. Etwas war danebengegangen.
Er rief mehrmals Dannys Handynummer an, landete aber jedes Mal direkt bei der Voicemail, ohne, dass es klingelte. Nach einer Weile wurde Dannys Handynummer deaktiviert. Er rief Dannys Handy-Provider an und gab sich für seinen Bruder aus. Man setzte ihn davon in Kenntnis, dass der Service abgestellt worden war, weil er seit mehreren Monaten nicht mehr seine Rechnungen bezahlt hatte.
»Wenn Sie einen Zahlungsplan aufstellen möchten, Mr. Gallo, kann ich Ihnen versichern, dass wir dies nicht an die Inkassoabtei…«
Paul legte auf.
Eine Weile danach setzte Luther Parnell ihn mit einem Kriminalkommissar namens Richard Ridgley von Baltimores Mordkommission in Verbindung, und Ridge gelang es, Dannys letzte Kreditkartenauszüge zu bekommen. Paul entdeckte, dass sein Bruder genau wie bei seinem Handykonto auch einen ausstehenden Betrag auf seinem Kreditkartenkonto hatte. Seine letzte Besorgung war an einer Tankstelle gewesen, die an einer Straße kurz außerhalb eines alten Bergbaudorfs mit dem ominösen Namen Dread’s Hand lag. Dieser Kauf fand am selben Tag statt, an dem Paul die erste von Dannys zwei letzten Handynachrichten bekam: KOMME GERADE NACH DREAD’S HAND – DIE HAND DES SCHRECKENS, WIE GRUSELIG!
Auf Ridges Vorschlag hin meldete Paul sich beim Alaska Bureau of Investigation und wurde mit einer Ermittlerin namens Jill Ryerson von der Abteilung für Kapitalverbrechen verbunden. Sie erklärte ihm, wie er eine Vermisstenanzeige auszufüllen hatte. Sie hatte auch schließlich Dannys Mietwagen entdeckt, der am Rande einer Schotterstraße außerhalb von Dread’s Hand verlassen aufgefunden wurde. Die Reifen waren platt und es sah aus, als wäre das Auto schon lange nicht mehr benutzt worden, sagte Ryerson. Paul fragte, ob es im Wagen oder darum herum Anzeichen gab, dass eine Auseinandersetzung stattgefunden hatte, und Ryerson versicherte ihm, dass nichts zu sehen war.
»Und was bedeutet das jetzt?«, fragte er.
Ryerson seufzte. Sie hatte eine kurz angebundene, professionelle Stimme, und dieses Seufzen war, seit sie miteinander telefoniert hatten, der erste Hinweis auf ein bisschen Mitleid, auf ein bisschen Menschlichkeit. »Ich befürchte, darauf habe ich keine passende Antwort, Mr. Gallo«, sagte sie.
Danach tat Paul Gallo das Einzige, was er noch tun konnte: Er wartete.
Und wartete.
Und wartete.
Irgendwann zog sich etwas in ihm zusammen und starb. Nicht nur seine entmutigte Seele; es fühlte sich eher wie etwas Körperliches an, wie ein winziges Organ, das mitten in seinem Bauch verschrumpelte und hart und schwarz wurde.
Seht ihr diese Jungs?, fragte er sich. Denn das Bild verblasste, wurde trübe wie eine in einem dunklen Zimmer ausbrennende Glühbirne. Könnt ihr diese Jungs sehen? Könnt ihr sie sehen?
Das Einzige, das nicht aufhörte und nie verblasste, waren die Worte seines Vaters, unverändert von früher, jetzt allerdings mit furchtbarem Bedauern und Enttäuschung durchsetzt: Du wirst auf ihn aufpassen müssen, wenn wir nicht mehr sind, Paul.
Letztendlich fand Paul sich mit Dannys Verschwinden ab. Er überlegte sogar, eine Gedenkfeier für ihn abzuhalten, aber da es keine anderen engen Verwandten gab und er von Dannys Freunden nur wenige kannte – hatte er überhaupt richtige Freunde gehabt? –, entschied Paul sich dagegen. Stattdessen hielt er seine eigene private Feier für Danny ab: Eines Abends kaufte er sich eine Flasche Knob Creek – Dannys Lieblingsbourbon – und trank auf seinen Bruder, während auf seiner Stereoanlage ein altes Van-Halen-Album spielte. Am nächsten Morgen kippte Paul den Rest des Bourbons in den Abfluss der Spüle und versteckte die leere Flasche tief unten im Müll.
Danny war weg und Pauls Rolle zu versuchen, ihn zu finden, gab es nicht mehr.
Das hatte er zumindest zu dem Zeitpunkt gedacht.