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Kapitel 7

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Jill Ryerson stand gerade draußen und rauchte eine Zigarette, als das Zivilauto vorfuhr. Es war gegen zweiundzwanzig Uhr und die Temperaturen waren in der letzten Stunde merklich gefallen – es war kalt genug, dass Ryerson ihren Atem nicht vom Zigarettenrauch unterscheiden konnte.

Das elektronische Thermometer neben dem Seiteneingang, bei dem Ryerson stand und rauchte, war im letzten Winter eingefroren und funktionierte seitdem nicht mehr, aber Ryerson wusste, dass es um null Grad sein musste. Schneeflocken schwebten wie kleine Fasern von Kopfkissenfüllungen in der Luft, ohne zur Erde zu sinken. Doch daran war sie gewöhnt. Sie war in Kennewick, Washington, geboren worden, aber ihre Familie war nach Ketchikan in Alaska umgezogen, als sie nur fünf Jahre alt war. Sie kam aus einer großen Familie – sie war das jüngste von fünf Kindern – und ihr Vater, der für einen Holzkonzern arbeitete, zog alle paar Jahre um, damit er befördert werden und den Gläubigern einen Schritt voraus bleiben konnte. Sie hatte ihre Kindheit in Südostalaska verbracht. Mit ihren Schwestern umwanderte sie die Ufer von Lake Mahoney und fuhr oft mit einem Boot in die Mitte des Gletschersees hinaus, dessen Wasser so klar war, dass man bis auf den Grund sehen konnte. Bis auf die Laichsaison der Lachse war es ein schöner Ort zum Leben. Nachdem die Lachse zum Laichen zurückgekehrt waren, füllten sich die Bäche mit ihren fliegenumschwärmten Kadavern und es stank. Ryerson hatte sich immer ein nasses Taschentuch vor die Nase und den Mund gebunden und war zum Fluss hinuntergegangen und hatte mit einem Stock an den toten Fischen herumgestochert, von deren Leblosigkeit fasziniert. An dem in der achten Klasse üblichen Survivalwochenende wurde sie mit ihren Klassenkameraden von der Küstenwache zu einer unbewohnten Inselgruppe hinausgefahren und dort für drei Tage mit nur einem Schlafsack, einer Plastikplane und einer Kaffeedose abgesetzt, in der sich persönliche Dinge befanden, die man mitnehmen wollte (die cleveren Kinder entschieden sich für Streichhölzer und Tütensuppen). Ryerson lernte, Lagerfeuer zu machen und Wasser abzukochen, damit die Parasiten darin abgetötet wurden und sie nicht das bekam, was manche ihrer Mitschüler »Biberfieber« nannten. Während die meisten ihrer Klassenkameraden diese Exkursion schrecklich fanden, gefiel sie Ryerson gut. (Ihr einziger Fehler war, dass sie ihre Seife im selben Behälter aufbewahrte, in dem sie ihre Suppe kochte – heute noch konnte sie den Geruch von Dial-Seife nicht ausstehen.) Es war auf dieser Klassenfahrt im Alter von nur dreizehn Jahren, dass Jill Ryerson sich nicht nur für die Kunst des Überlebens in der Wildnis zu interessieren begann, sondern auch für das Konzept, anderen beim Überleben zu helfen. Sie zeigte ihren Mitschülern, wie man aus der Plastikplane ein Zelt bauen konnte, indem man sie über einen Ast hängte, und wie man seine trockenen Streichhölzer nachts in eine Socke steckte, damit die Zündköpfe nicht feucht und weich wurden. Aus diesem Interesse erblühte später eine besessene Leidenschaft, die ihr schließlich mit einundzwanzig Jahren beim Bestehen des fünfzehnwöchigen Department of Protective Services Kurses in Sitka half. In Fairbanks war sie erst seit drei Jahren; ähnlich wie ihr Vater, der sein ganzes Berufsleben hindurch den Beförderungen gefolgt war, hatte sie die Versetzung akzeptiert, um für die Kriminalkommission zu arbeiten.

Aber es war verdammt kalt. Ryerson zitterte in ihrem pelzgefütterten Parka, als das ungekennzeichnete Auto langsam um die asphaltierte Kurve auf die Seitentür zufuhr. Es war dunkel und die Fenster der Limousine waren getönt, aber sie musste keinen Blick hineinwerfen, um zu wissen, wer dort auf der Rückbank transportiert wurde.

Ryerson warf die Kippe über das Geländer und ging wieder hinein.

Trooper Lucas Bristol stand im Eingangsbereich hinter seinem Schreibtisch und spähte den schmalen Korridor hinunter, der zur Seitentür führte. Als Ryerson hereinkam, warf er ihr einen Blick zu. Sein Milchgesicht hatte von der Kälte lauter rote Flecken bekommen. Er war zweiundzwanzig, sah in diesem Moment aber aus wie fünfzehn.

»McHale und Swinton sind aus Anchorage zurück«, informierte sie den jungen Trooper.

»Mit dem Typen?«

»Ja. Mit dem Typen«, sagte sie. Sie wusste, dass er Mallory meinte.

»Ich dachte, dass die ihn in Anchorage behalten.«

»Der Captain hat es sich anders überlegt.« Das stimmte nicht ganz: Ryerson wusste, dass Captain Dean Ericsson von Anfang an vorgehabt hatte, Mallory nach Fairbanks zu bringen. Mallory vom Krankenhaus in Fairbanks ins Anchorage Regional Hospital zu überweisen war eine von Ericsson geplante Irreführung gewesen. Die Medien hatten fälschlich angenommen, dass er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in Untersuchungshaft in Anchorage sitzen würde, statt die über 350 Meilen zurück nach Fairbanks transportiert zu werden.

»Oh«, sagte Bristol. Ryerson fand, dass er ein bisschen enttäuscht aussah, das zu hören, obwohl sie nicht wusste, warum. Als die Seitentür aufging, sah der junge Trooper auf seinen Schreibtisch hinunter, wo Spielkarten zu einer Partie Patience ausgelegt waren.

Er sieht nicht enttäuscht aus, dachte sie in diesem Moment und musterte Bristol. Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, er sieht aus, als hätte er Angst.

McHale und Swinton kamen mit von der Kälte geröteten Gesichtern herein und trieben zwischen sich die buckelige, schlurfende Gestalt von Joseph Mallory her. Wenn die Renovierungsarbeiten am Ende des Trakts mit den Untersuchungshaftzellen nicht gewesen wären, hätten sie Mallory durch die Seitentür direkt zu den Zellen führen können, ohne diesen Teil der Wache durchqueren zu müssen. Wären die Renovierungen nach Zeitplan fertig geworden – mit anderen Worten, vor einigen Wochen –, hätte Lucas Bristol nie mit ansehen müssen, wie McHale und Swinton Joseph Mallory in seine Zelle führten.

»Es fängt an zu schneien«, sagte McHale zu niemandem bestimmten.

»Wird nicht liegen bleiben«, erwiderte Swinton, und Ryerson hatte den Eindruck, dass dieses Thema auf der Fahrt von Anchorage viel diskutiert worden war.

Sie beobachtete, wie sie Mallory durch den Eingangsbereich auf die große Stahltür zuführten, hinter dem die Kotzallee lag. So nannten die Männer den Korridor, an dem die Untersuchungshaftzellen lagen. Einer der Extra-Parkas, den die Trooper bei sich führten, war über Mallorys Schultern gebreitet; eine Jacke, die für den ausgemergelten Mann zu schwer schien. Im Vorbeigehen drehte sich Mallorys Kopf in Ryersons Richtung und der Vorhang aus langen, ungewaschenen Haaren fiel vor Mallorys Augen. Das Neonlicht von der Decke reflektierte auf seiner Glatze. Mallorys Bart sah wie ein Gestrüpp aus vertrocknetem Unkraut aus.

Sie warf einen Blick auf Bristol, der McHale und Swinton hinterher sah, wie sie Mallory die Kotzallee entlangtrieben. Selbst nachdem die Stahltür zugeklappt war, starrte er immer noch dahin.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Bristol?«, fragte sie.

»Hä?« Sein Blick zuckte in ihre Richtung. »Was?«

»Ach, nichts weiter. Ist noch Kaffee da?«

»Oh, äh … ja. Eine halbe Kanne.«

»Super. Wo ist Johnson?«

»Er holt was zu essen von McDonald’s.«

Sie deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Stahltür der Kotzallee. »Sobald in Spring Creek ein Bett frei wird, transportieren Sie ihn dahin ab«, sagte sie und hoffte, dass diese Information Bristol etwas beruhigen würde. »Nicht mehr lange, und dann kann sich Seward mit ihm rumschlagen.«

Bristol nickte, sagte aber nichts.

Ryerson ging in die Stationsküche und suchte sich im Schrank eine saubere Tasse. DUMMHEIT IST NICHT STRÄFLICH, stand darauf, ALSO MACH DIE ZELLE FREI. Sie schenkte sich Kaffee ein, den sie in der Mikrowelle bis kurz vorm Kochen aufwärmte. Ihr gesamter Körper fühlte sich bis in die Zehenspitzen hinab kalt an. Die Hälfte ihrer Kollegen war krankgeschrieben und sie befürchtete, dass sie sich als Nächste die Grippe eingehandelt hatte.

Ich brauche einfach mehr Schlaf, sonst nichts. Eine ganze Nacht lang gut durchschlafen. Die letzten Tage war ich nur am Rotieren, und das steckt niemand einfach so weg.

Während sie ihren Kaffee trank, stieg vor ihrem inneren Auge unaufgefordert ein Bild des … Dings … im Schrankkoffer in Mallorys Keller auf. Sie und McHale waren, ohne noch lange herumzustehen, aus dem Keller gerannt, aber nicht, bevor der Gestank sich in ihre Nase schrauben und in der Mitte ihres Kopfes unverrückbare Wurzeln schlagen konnte. An dem Abend war sie nach Hause gefahren und hatte sich fast vierzig Minuten lang unter die heiße Dusche gestellt, als könnte sie sich die Erinnerung an diese widerlichen Dünste abwaschen.

Plötzlich sehnte sie sich nach Gesellschaft. Sie ging zurück in die Eingangshalle, wo Bristol teilnahmslos am Empfang saß und immer wieder auf eine Taste des Computerkeyboards tippte.

»Diese Leichen, die da in den Bergen gefunden wurden«, sagte Bristol, ohne vom Bildschirm aufzusehen. »Stimmt das? Dass die Köpfe abgeschlagen waren?«

»Ja«, sagte Ryerson. »Das werde ich so schnell nicht wieder vergessen.«

»Nachdem sie umgekommen waren, oder …?«

»Na, das werden wir nicht wissen, bis wir den Bericht vom Gerichtsmediziner in Anchorage bekommen.«

»Mann. Wer tut so was bloß?«

Ryerson antwortete nicht. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, schlürfte sie ihren Kaffee und versuchte, nicht an das grausige Ding im Schrankkoffer zu denken. Die Spurensicherung hatte den gesamten Koffer in Biogefährdungssäcke verpackt und ihn wie eine Atombombe hinausgetragen.

»Wissen Sie irgendwas über diesen Ort?«, fragte Bristol.

»Welchen Ort?« Auf einmal war ihr Kopf wie leer.

»Dread’s Hand.«

»Eigentlich nicht. Es ist bloß eine ehemalige Bergbausiedlung. In der Gegend gibt’s ein halbes Dutzend davon.« Aber sie sah die in die Erde gerammten Holzkreuze vor sich, an denen sie auf dem Weg in den Ort vorbeigefahren war, und das seltsame Kind mit dieser Fellmaske, das am Straßenrand gestanden und ihr träge zugewinkt hatte.

»Die Familie meiner Mutter kommt aus Nenana«, sagte Bristol und sah vom Laptop auf. »Ich habe Onkel und Cousins, die zum Jagen und Angeln in die Gegend gefahren sind – zur Hand hoch, haben sie immer gesagt. Ich hatte eine Tante, die uns Gespenstergeschichten über die Wälder da erzählt hat. Sie hat gemeint, dass es da im Wald spukt und dass das Dorf ein übler Ort ist. Sie sagte, dass es bösartige Stellen auf der Erde gibt – dunkle Orte, so wie blaue Flecken –, und dass Dread’s Hand einer davon ist.«

»Ach ja?« Sie starrte ihr dampfendes Spiegelbild auf der Oberfläche des Kaffees an.

»Sie hat gesagt, dass es da Teufel gibt«, sprach Bristol weiter. »Mittagsteufel nannte sie die. Aber Onkel Otto meinte, dass es der Knochengänger ist. Wenn dich das Ding berührt, verlierst du den Verstand, hat er gesagt.«

»Na, der klingt ja lustig«, sagte Ryerson.

»Ich hatte einen Großonkel, der in der Gegend auf die Jagd gegangen ist und dabei umkam«, sagte Bristol.

Ryerson sah zu ihm hoch. »Ja?«, sagte sie.

»Selbstmord. Er hat sich den Lauf seiner Remington in den Mund gesteckt.«

»Scheiße.«

»Ist schon lange her. Die Familie von meiner Mutter behauptet immer noch, dass es ein seltsamer Jagdunfall war, aber ich weiß, dass man sich nicht aus Versehen den Lauf seines Gewehrs in den Mund steckt und dann abdrückt.«

»Ein gutes Argument«, sagte Ryerson und nickte. Selbstmord war hier oben im Norden nichts Außergewöhnliches, aber sie konnte sehen, dass es den jungen Mann bereits verstörte, ihr nur davon zu erzählen. Er ist ein lieber Kerl, aber zappelig wie ein Eiswurm, dachte sie.

»Meine Grandma hat behauptet, dass der Teufel ihn geholt hat«, sagte Bristol. »Wahrscheinlich hat meine Tante das ganze Gerede über Teufel von ihr. Der Teufel hat ihn zu fassen bekommen, den Armen, hat meine Grandma immer gesagt, wobei sie nicht oft darüber geredet hat. Ich erinnere mich nur, dass sie es gesagt hat, verstehen Sie? Der Teufel hat ihn zu fassen bekommen. Als ob es was Echtes wäre, was mit Klauen, das es da draußen im Wald gibt.« Er lächelte Ryerson schüchtern an. »Das klingt wahrscheinlich albern«, fügte er hinzu.

»Nicht alberner als jeder andere Aberglauben«, sagte sie. Sie zog ihren Autoschlüssel aus der Tasche und hielt ihn hoch, damit Bristol ihren Glücksbringer sehen konnte: eine daran baumelnde Hasenpfote.

Bristol grinste und Ryerson hatte das Gefühl, dass sie vielleicht ein bisschen geholfen hatte, den jungen Trooper zu beruhigen. Zappelig wie ein Eiswurm war ein Understatement gewesen.

Aber irgendwie …

Als ob es was Echtes wäre, was mit Klauen, das es da draußen im Wald gibt.

Das erinnerte sie an etwas, das Mallory gesagt hatte, als er am Tage seiner Verhaftung mit geschlossenen Augen und zum Himmel gewandtem Gesicht auf der Lichtung im Wald stand: Lassen Sie uns in den Ort zurückfahren, bevor sie wieder gierig wird.

Sie nippte an ihrem Kaffee und versuchte nicht weiter daran zu denken.

Als McHale und Swinton aus der Kotzallee zurückkamen, sagte Ryerson ihnen, sie sollten sich was zu essen holen. Bill Johnson war inzwischen mit einer Papiertüte voller Big Macs und McNuggets zurückgekehrt. Ryerson sah Lucas Bristols Augen zum ersten Mal an diesem Abend aufleuchten.

Ryerson stellte ihre Kaffeetasse auf Bristols Schreibtisch ab und ging dann an die Stahltür. Oben in der Tür war ein kleines, kugelsicheres und mit Stahldraht verstärktes Fenster eingelassen, aber es bot nur einen sehr limitierten Überblick über das, was in der Kotzallee vor sich ging. Ryerson holte ihren Schlüsselring heraus, wählte den entsprechenden Schlüssel aus und schloss die Tür auf.

»Willst du Gesellschaft?«, rief Bill Johnson zu ihr hinüber, während er die Burger auf Lucas Bristols Schreibtisch aufreihte.

»Nein, danke«, sagte sie. »Schon gut. Lasst es euch schmecken.«

Außer Mallory befanden sich keine anderen Insassen in den Zellen. Am Abend hatten sie mehrere Betrunkene und einen in einem Raubüberfall Verdächtigten hier gehabt, sie aber vor Joseph Mallorys Rückkehr aus dem Krankenhaus von Anchorage in einen anderen Flügel verlegt.

Mallory saß mit dem Rücken an die Betonwand gelehnt auf der Bank in seiner Zelle. Entweder Swinton oder McHale hatten dem Mann den Daunenparka von den Schultern genommen, aber das war in Ordnung; es waren stickige 26 Grad hier drinnen, warm genug, dass Ryerson trotz der Kälte, die sie immer noch wie eine Säule in ihrer Körpermitte spürte, der Schweiß ausbrach.

»Kann ich Ihnen irgendetwas bringen?«, fragte sie den Mann auf der anderen Seite der Gitterstäbe.

»Nein, Ma’am«, sagte Mallory. Seine Stimme klang rau und schroff. Als sie ihn am Nachmittag der Festnahme ins Krankenhaus gebracht hatte, war er schwer dehydriert gewesen und hatte aufgrund von Erfrierungen an seinem linken Fuß mehrere Zehen amputiert bekommen müssen – sein Fuß war jetzt mit einem dicken Verband umwickelt –, aber im Großen und Ganzen fehlte ihm nichts. Wobei Joseph Mallory nicht aussah, als fehlte ihm nichts: Die Haut in seinem Gesicht war immer noch sehr rot und pellte an mehreren Stellen ab, und um seinen Mund, unter den Augen und um seine Ohren herum befanden sich dunkle Pusteln und Schorf. Auf seiner schimmernden Glatze standen vom kalten Wind verursachte große Blasen wie Mondkrater empor.

»Sie werden morgen zur Einlassung einem Richter vorgeführt. Ist Ihnen das alles erklärt worden?« Sie wusste, dass ein Pflichtverteidiger Mallory im Krankenhaus besucht hatte, aber sie wusste auch, dass Mallory, der seit seiner Verhaftung mehr als einmal seine Verachtung für Rechtsanwälte kundgegeben hatte, sich stumm gestellt und dem Mann gegenüber kein einziges Wort geäußert hatte.

»Ja, Ma’am«, sagte Mallory. »Obwohl ich keinen Anwalt brauche, der herumsteht und was verdient, während ich meine Schuld gestehe, Ma’am.«

»Der Richter wird Sie fragen, warum Sie diese Menschen getötet haben.«

»Tja, also, darüber werde ich mich mit keinem Richter unterhalten«, sagte er. Seine Hände waren gefaltet und fest auf seinen Schoß gedrückt. Abgesehen von einer einzigen Gefängnisgummisandale mit aufgedruckter Seriennummer auf der Sohle, die er an seinem gesunden Fuß trug, hatte er immer noch seine eigene Kleidung an. Sie stank zum Himmel und Ryerson konnte selbst im trüben Licht der Kotzallee die rostfarbenen Streifen getrockneten Bluts sehen, die in den Fasern der Leinenhose und des Thermohemds klebten und die ausgefransten Ärmelaufschläge verkrusteten. Sie hatte keine Zweifel daran, dass sie auch aus Mallorys Holzfällerbart und fettigen Haaren eine große Menge DNA-Spuren extrahieren konnten, wenn sie wollten. Sie hatte gehört, dass er im Krankenhaus vom Pflegepersonal gewaschen worden war und dass er wie ein Jagdhund geheult hatte, der gerade einen Waschbären einen Baum hochgejagt hat. Sie hatte außerdem gehört, dass Stücke seiner Kleidung mit offenen Stellen an seinem Oberkörper und den Oberschenkeln verwachsen waren.

»Wie wär’s, wenn Sie es mir erklären?«, fragte sie. »Wer waren diese Menschen? Die Opfer.«

»Einfach irgendwelche Leute«, sagte Mallory. Es klang wie nebenbei gesagt, kurz angebunden, aber trotzdem nicht richtig frech.

»Wie sind Sie in Kontakt mit ihnen gekommen?«

»Das ist jetzt nicht mehr wichtig«, sagte er. »Solange wir sie nur in gesegnetem Grund beisetzen können. Das ist das Mindeste, was man jetzt für sie tun kann.«

»Es ist gut gemeint von Ihnen, dass Sie eine richtige christliche Beerdigung für sie wollen«, sagte sie und wiederholte damit Mallorys eigene Worte – es war das Einzige, das er direkt nach seiner Verhaftung gesagt hatte, als er in Handschellen hinten bei ihr im Einsatzwagen saß. »Aber wir werden Mühe haben, sie zu identifizieren.«

»Sie müssen nicht identifiziert, sondern bloß geweiht werden.«

Sie runzelte die Stirn. »Was heißt das?«

»Es bedeutet, dass ihre Seelen keine Ruhe finden werden, bis sie richtig beigesetzt sind. Ich habe bei mir getan, was ich konnte, aber das reicht nicht. Nicht, um ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten. Das hat mich die ganze Zeit bedrückt.«

»Haben Sie deshalb gestanden?«

Mallory lehnte sich näher an die Gitterstäbe der Zelle heran. »Der Sog des Teufels ist mächtig, Ma’am. Aber ich konnte es einfach nicht mehr tun.«

»Wir haben den Kellerraum unter Ihrem Haus gefunden. Die ganzen Sachen da drinnen – die Jacken und Rucksäcke und alles. Die gehören den Opfern, oder nicht?«

»Ja, Ma’am.«

»Die Forensik untersucht diese Dinge jetzt. Mit der Zeit werden wir beginnen, all diese Einzelstücke zusammenzusetzen und herausfinden, wer diese Menschen sind – waren –, aber beim Richter würde es viel bedeuten, wenn Sie es uns einfach sagen würden.«

»Da gibt’s nichts zu sagen«, erwiderte er. »Um ganz ehrlich zu sein, fallen die mir im Moment gar nicht ein, Ma’am.«

»Wie haben Sie diese Menschen getroffen? Woher kamen sie?«

»Wer kann sich daran jetzt noch erinnern?«, gab er zurück. Seine Stimme war jetzt fast nur noch ein Flüstern. Er schaute hoch und sah ihr in die Augen – und sein Blick war unerwartet weich. Fast mitleidig. »Ich will Ihnen nicht mehr Umstände als nötig machen, Ma’am, aber bei manchen ist das schon lange her und mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«

»Sie haben Ihre Fenster angestrichen«, sagte sie. »Warum?«

»Damit nichts reinsehen konnte«, sagte er.

»Wer hätte reingesehen? Die Polizei?«

Er tat sie mit einer Handbewegung ab, obwohl selbst diese Geste irgendwie höflich und schüchtern wirkte. Sie schloss daraus, dass der Mann sich nie große Sorgen um die Polizei gemacht hatte.

»Diese Symbole an Ihren Wänden«, fuhr sie fort. »Haben Sie die gemalt?«

»Ja, Ma’am.«

»Mit Blut?«

»Ja, Ma’am.«

»Dem Blut der Opfer?«

»Nein, Ma’am. Mit meinem eigenen.«

»Was bedeuten sie?«

»Die bedeuten nichts«, sagte Mallory, jetzt mit den ersten Anzeichen von Verärgerung in der Stimme. »Die segnen. Hört hier denn keiner von euch zu?« Er lehnte sich so weit vor, dass die Holzbank unter ihm knirschte. »Wohnen Sie schon Ihr ganzes Leben lang hier, Ma’am?«

»Ich komme aus Ketchikan.«

»Aha«, sagte Mallory und lehnte sich wieder zurück. »Aus dem großen Gestank.«

»Genau«, sagte Ryerson. Das bedeutete der Stadtname in der Sprache der Tsimshian. All die fliegenumschwärmten Lachskadaver, die die Bäche zur Laichsaison füllten.

»Hat Sie jemand hergeschickt, um mir diese ganzen Fragen zu stellen?«, fragte er.

»Nein, Sir. Ich leite die Untersuchung dieses Falls.«

»Obwohl Sie die kleine Grube unter meinem Haus ja gefunden haben, Ma’am, haben Sie mich die eine Frage, die Sie mir unbedingt stellen wollen, noch nicht gefragt, oder?« Etwas an seinem Gesicht – nicht unbedingt an seiner Miene, dachte Ryerson, aber an seinem Gesicht – flößte ihr plötzlich Eiseskälte ein. Er sah auf einmal wie ein in Menschenkleidung gestopftes Skelett aus, das von einem verrückten Zauberer wie eine Handpuppe betätigt wurde.

Sie merkte, dass sie nickte, als hätte er sie hypnotisiert, und wurde sich bewusst, dass sie verstohlen nach der glücksbringenden Hasenpfote am Schlüsselanhänger tastete, der an ihrem Gürtel hing.

»Was ist das Ding in dem Schrankkoffer?«, fragte sie.

Joseph Mallory lächelte sie mit einem traurigen, schrecklichen Lächeln an.

»Das bin ich«, sagte er.

KNOCHENBLEICH

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