Читать книгу KNOCHENBLEICH - Рональд Малфи - Страница 12
Kapitel 5
ОглавлениеJill Ryerson saß am Steuer ihres Streifenwagens. Das Fenster stand einen Spalt offen und die Heizung pumpte heiße Luft aus der Lüftung. Sie starrte an den Bäumen vorbei auf das verkommene Gebäude, das Joseph Mallorys Haus war. Feiner Sprühregen nieselte auf ihre Windschutzscheibe. Ihr Streifenwagen war nicht der Einzige in der Gegend – es waren mehrere da, denn sie bereiteten sich darauf vor, die Durchsuchung von Mallorys Haus durchzuführen –, aber sie blieb lieber noch im Auto sitzen und genoss die Wärme so lange wie möglich.
Val Drammell gibt keinen Pieps mehr von sich, die Bedienung vom Café hinterlässt mir Voicemails mit Bibelsprüchen, statt eine offizielle Aussage zu machen, und wir haben plötzlich zu wenig Einsatzkräfte und arbeiten rund um die Uhr, weil die Hälfte der Abteilung auf einmal die Grippe hat. Und ich scheine meine Körpertemperatur nicht auf mehr als Normaltemperatur hochzubekommen. Was ich brauche, ist Urlaub. Vielleicht eine Kreuzfahrt nach irgendwohin, wo es warm ist.
Es war Viertel nach drei am Nachmittag, aber so erschöpft, wie sie war, hätte es genauso gut nach Mitternacht sein können. Der Regen half auch nicht gerade. Sie schloss einen Moment lang die Augen und lehnte den Kopf an die kühle Scheibe ihres Seitenfensters.
Sie dachte immer noch an die erste Leiche.
Nachdem sie Mallory verhaftet und im Krankenhaus abgeliefert hatte, bekam sie den Anruf von McHale mit der Information, dass sie eine Leiche gefunden hatte. Diese Neuigkeit hatte sie erschüttert; sie wäre jede Wette eingegangen, dass Joseph Mallory bloß verwirrt war und eine lebhafte Fantasie besaß. Es war eine weitere Mahnung gewesen, dass die Menschen voller Überraschungen stecken.
Als sie an jenem Abend zurück nach Dread’s Hand gefahren war, rief sie Captain Ericsson an, der Mallory daraufhin aus dem Fairbanks Memorial Hospital ins Anchorage Regional Hospital verlegen ließ, um den Medien einen Schritt voraus zu bleiben. Und auf dieser Fahrt hatte Ryerson gemerkt, dass ihr das Dorf Dread’s Hand nicht sonderlich gefiel. Zum einen beunruhigten sie all die Holzkreuze, die die einsame Straße zum Ort flankierten. Aber es lag nicht nur an den Kreuzen – das Dorf selbst fühlte sich beängstigend, klaustrophobisch an. Außer, dass es einst ein Bergbaudorf gewesen war, wusste sie nichts über den Ort, und kannte definitiv keine der Einwohner. Als sie an der alten Kirche vorbei auf den waldigen Hügel zugefahren war, hatte sie ein Kind gesehen, das am Straßenrand stand, einen Jungen oder ein Mädchen, höchstens acht oder neun Jahre alt, mit einem Tuch vor dem Gesicht. Zumindest hatte sie es zuerst für ein Tuch gehalten. Aber als sie daran vorbeifuhr, erkannte sie, dass das Halstuch aus Fell gemacht war und eine Art Maske war. Schiefe Gucklöcher für die Augen waren in den Pelz geschnitten worden. Das Kind hob eine Hand und winkte, als Ryerson vorbeifuhr. Der Anblick war so erschreckend gewesen, dass sie aufs Gaspedal drückte und davonraste.
Als sie am Tatort ankam, spuckte ein Schaufelbagger gerade blaue Dieselabgase in die Luft und ein Ermittler der Gerichtsmedizin war dabei, die Leiche zu untersuchen, die in dem in den Boden gerissenen Loch lag. Unweit von ihm standen zwei Männer in dunkelblauen Overalls und rauchten Zigaretten. Als sie fragte, wo die Spürhunde waren, sagte McHale ihr, dass die Hundeführer sie zurück in den Ort bringen mussten, da sie immer wieder von irgendetwas im Wald verschreckt wurden. Wahrscheinlich von einem Bären, vermutete McHale.
Ryerson war hinter den Gerichtsmediziner getreten und hatte über seine Schulter in das Loch in der Erde gespäht. Sie hatte im Laufe ihrer Jahre in der Abteilung für Kapitalverbrechen mehr als genug Gewalttaten gesehen – häusliche Gewalt und Vergewaltigungen, die ihr für den Rest ihres Lebens reichten, sowie alle möglichen tätlichen Angriffe, Morde, Selbstmorde und sogar einen Mann, der von einem Zug erwischt worden war und dessen Körper wie zu einer Sanduhr verformt worden war. Aber das Ding in diesem Loch war bei Weitem das Schlimmste. Sie nahm an, es lag daran, dass es kaum menschlich aussah; eher wie etwas Außerirdisches aus dem Weltall, das in dieses Loch gekrochen und darin gestorben war.
Wie Blauschimmelkäse gemaserte Haut, so zerbrechlich dünn wie Reispapier, mit Händen, die wie die schuppigen Klauen eines Greifvogels aussahen. Gott sei Dank war das Opfer bekleidet, sodass das meiste des ausgemergelten, sehnenartigen Fleisches, das sich fest über die Kollektion schmaler, spitzer Knochen spannte, noch verhüllt war.
Nein, kein Außerirdischer, hatte sie in jenem Moment gedacht, als sie das unmögliche, abstoßende Ding in dem Loch anstarrte, sondern eine ägyptische Mumie. Die Kälte hat den Körper so gut wie mumifiziert.
»Wir haben hier einen Kopf«, hatte der Ermittler verkündet, ein Mann mittleren Alters mit akkurat getrimmtem grauem Bart und Brille mit Drahtgestell. Er zeigte auf etwas, das an das linke Hüftgelenk der Leiche geschmiegt lag und das Ryerson zuerst für einen großen, mit Wurzeln bedeckten Klumpen Erde gehalten hatte. »Eine Enthauptung, wobei ich nicht sagen kann, ob das die Todesursache gewesen war.«
»Enthauptung. Herrgott noch mal«, hatte Ryerson gesagt. Vom Abgasgestank des Baggers wurde ihr langsam schlecht.
Bis jetzt hatten sie sechs der acht Leichen auf der Lichtung im Wald ausgegraben.
Sie versuchte, jetzt nicht an die Leiche zu denken, wusste gut genug, dass diese vogelartigen Klauen und der wurzelbepelzte Erdklumpen sie in vielen Nächten in ihren Träumen heimsuchen würden. Letzte Nacht hatten sie ihr bereits zugesetzt, als sie verzweifelt zu schlafen versucht hatte. Nun musste sie sich auf das heruntergekommene alte Haus konzentrieren, das von ihrer Windschutzscheibe eingerahmt wurde, und auf den Durchsuchungsbefehl. Über sein Haus hatte Mallory kein Wort verloren und sich geweigert zu sagen, ob dort Beweise für seine Verbrechen – oder Nachweise auf die Identität der Opfer – zu finden waren.
Captain Ericsson erschreckte sie, als er mit den Fingerknöcheln an ihr Autofenster klopfte. »Sind Sie bereit, Ryerson?«
»Jawohl, Sir«, sagte sie und stieg aus.
Mallorys Haus stand mitten in einem Gehölz in der Nähe von Dread’s Hands Dorfrand. Es war ein baufälliges Gebäude, das anscheinend aus mehreren nebeneinanderstehenden, großen, rechteckigen Verschiffungscontainern errichtet worden war. Die Fensterscheiben waren dreckig und schwarz. Es hatte vorn eine Veranda aus Betonklötzen und die schlammige Einfahrt, die sich um das Haus herum nach hinten schlang, sah mehr nach einem Feldweg aus. Mehrere alte Autoreifen waren auf das Dach genagelt.
»Sie und McHale haben die Verhaftung durchgeführt«, sagte Captain Ericsson. Er war ein hochgewachsener Mann mit einem schmalen, ernsten Gesicht und einem breiten, grauen Schnurrbart. »Ist das korrekt?«
»Ja, Sir.«
»Also gut. Ich möchte, dass Sie den Fall übernehmen.«
»Jawohl, Sir.«
»Marschieren Sie los, Ryerson.«
Ryerson lief die Betonstufen zur Veranda hoch und ging an der Schlange von Polizeibeamten vorbei. Neben ihr stand Bill Johnson, der trotz der kühlen Temperaturen bereits schwitzte. Er hatte um die zehn Kilo Übergewicht, und unten unter seiner Kevlar-Weste quoll eine Rolle Bauchspeck hervor. Er hielt einen Rammbock in den Händen.
»Du sagst, wann es losgeht, Jill«, sagte er.
Sie warf einen Blick über die Schulter auf die Augenpaare hinter ihr. Sie nickte ihnen zu, hielt drei Finger hoch und wandte sich dann wieder Bill zu. Sie zählte von drei rückwärts, und Bill Johnson stieß den Rammbock gegen die Tür. Der Knauf zersprang in mehrere Teile und die Tür flog auf. Mit gezogener Pistole sprang Ryerson ins Haus. Ihr Herz unter der kugelsicheren Weste raste plötzlich wie ein Vorschlaghammer.
Sie bewegte sich so schnell, dass sie erst dazu kam, den Geruch des Hauses wahrzunehmen, als sie den Eingangsraum bereits halb durchquert hatte – einen Geruch, der die schlimmsten Eigenheiten von verschimmelnder Vegetation, ungewaschener Haut und in der Sonne stinkender Hundescheiße in sich vereinigte. Der Gestank stieg ihre Nase hoch und schien sich in ihren Nebenhöhlen heiß und schwer auszubreiten. Der Korridor war ein schmaler Flur, an dessen Wänden viele Bilder hingen – er schien viel länger zu sein, als sie von draußen vermutet hatte –, und der schmale Lichtstrahl ihrer Taschenlampe, die sie gegen den Griff ihrer Glock hielt, fuhr so schnell wie der Schweif eines Kometen über die Wände.
Zwei Polizisten kamen neben sie gelaufen und rannten dann schnell in das erste Zimmer rechts. Einer rief: »Gesichert!«
Ryerson ging weiter den Korridor hinunter, bis sie am Ende angekommen mit durchgedrückten Armen, die Pistole vor sich gestreckt, durch einen Türrahmen um die Ecke trat. Der Lichtstreifen der kleinen Taschenlampe – vage und unbedeutend in dieser uferlosen Dunkelheit – verschwand im Nichts. Ein Schleier aus Spinnweben kitzelte ihr Gesicht und hinterließ vorn auf ihrer Weste feine Aschenfäden. Es war Spätnachmittag und regnete, aber so dunkel sollte das Haus trotzdem nicht sein. Am anderen Ende des Zimmers, hinter den gedrungenen Möbelsilhouetten, konnte sie die Umrisse von Fenstern erkennen, aber es schien, als wären die Scheiben mit irgendetwas abgedeckt worden, damit kein Tageslicht hereinkam.
»Gesichert!«, rief jemand.
»Gesichert!«, rief ein anderer.
»Das Haus ist gesichert!«, kam eine dritte Stimme.
»Macht doch mal jemand das Licht an«, sagte Captain Ericsson.
Ryerson tastete die Wand ab. Sie fand den Lichtschalter und bewegte ihn, aber die Lampen gingen nicht an. »Das Licht funktioniert nicht«, sagte sie.
»Der Strom ist aus«, kommentierte Mike McHale, der neben ihr auftauchte. Der Strahl seiner Taschenlampe huschte über einen Teppich, der schwarz von dreckigen Stiefelabdrücken war. »Stinkt nach Scheiße hier drinnen.«
»Irgendwas ist mit den Fenstern«, sagte sie ihm. Das Licht ihrer Taschenlampe reichte nicht aus, um die gesamte Dunkelheit des vor ihr liegenden Zimmers zu erhellen.
McHale hielt seine Taschenlampe höher und ließ den Strahl auf eins der Fenster fallen. Die Scheibe war schwarz angestrichen.
»Heiliger Herrgott«, wisperte McHale.
Es war nicht nur, dass die Fensterscheiben von schwarzer Farbe bedeckt waren, sondern die Wände waren voller Graffiti, wie es aussah, bräunlich-rote Streifen, die miteinander verschmolzen, um … nicht Worte zu formen, sondern Symbole, Hieroglyphen. Mallorys holzvertäfelte Wände waren vom Fußboden bis zur Decke mit seltsamen Zeichen bedeckt, von denen eins rätselhafter als das andere war.
»Das sieht aus wie Blut«, sagte Ryerson, als sie näher an die eine Wand herantrat. Sie richtete ihr Taschenlampenlicht auf ein Symbol, das einem Auge im ägyptischen Hieroglyphenstil sehr ähnelte. Allerdings hatte dieses Auge eine vertikale, katzenartige Pupille. »Wie sehr altes, getrocknetes Blut.«
»Dann gibt es das hier schon eine ganze Weile«, sagte McHale. Er schien den Strahl seiner Taschenlampe über den Teppich aus Staub. »Hier wohnt keiner mehr.«
Weiter hinten im Korridor brachten zwei State Trooper tragbare Halogenstrahler herein. Sekunden später wurde der Eingangsraum in zu grelles, schreiendes Licht getaucht. Schatten kippten zur Seite weg und es sah aus, als bewegten sich die Wände und Möbel.
Ryerson ging ans nächstgelegene Fenster. Es war tatsächlich mit schwarzer Farbe angestrichen. Lediglich an den winzigen Stellen, wo etwas trockene Farbe abgeblättert war, schien ein schwacher Hauch von Tageslicht herein. Ryerson klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, streckte die Hand aus und kratzte mit dem Fingernagel über das Glas, vergrößerte eins der kleinen Löcher.
Auf der anderen Seite der Scheibe bewegte sich eine Gestalt.
Ryerson sprang zurück und ließ fast ihre Taschenlampe fallen. Sie rannte die Seite des Hauses entlang bis zu einer mit schmutzigen Handspuren bedeckten verrosteten Metalltür, die jemand aufgestoßen hatte, und setzte einen Fuß auf eine kurze Betontreppe. Sie spähte um die Hausecke, aber außer zwei Trooper, die die hintere Hausfront bewachten, bewegte sich dort niemand.
»Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen«, erklärte sie den Polizisten.
Die beiden warfen ihr nur einen kurzen Blick zu. Einer von ihnen – Alex Winsome, der aus der Abteilung für Kapitalverbrechen von Anchorage gekommen war, um an der ganzen Aufregung teilzuhaben – zuckte die Achseln und wandte sich dann von ihr ab. Der andere war ein junger Mann namens Emery Olsen von ihrer Wache, der seit etwas über einem Jahr bei der Polizei war. Olsen war einer der Trooper gewesen, die sie letztes Jahr auf der Suche nach dem Vermissten nach Dread’s Hand geschickt hatte. Er und sein Kollege hatten den stehengelassenen Mietwagen gefunden.
Olsen sah einen Moment lang von seinem Platz unter den Bäumen zu ihr herüber, als spürte er, dass sie plötzlich an ihn dachte. Aus irgendeinem Grund meinte sie, kurz einen Ausdruck von Verachtung über das Gesicht des jungen Troopers huschen zu sehen, als er zu ihr hochstarrte. Oder vielleicht war es Beklommenheit.
Mir ist ein bisschen schlecht, als ob ich mir was eingefangen habe, und kalt ist mir auch, dachte sie und sah kurz von Olsen weg zum dichteren Teil des Waldes, wo regennasser Dunst wie ein hauchdünner Schleiervorhang zwischen den Bäumen hing. Vielleicht hat mich auch die Grippe erwischt.
Aber sie glaubte nicht, dass es die Grippe war.
Sie meinte, dass es vielleicht an dem Haus lag.
Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas an dem Haus nicht stimmte.
Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, bestätigte sich, als sie den Inhalt des Kellers fanden.
»Jill«, rief Captain Ericsson ihr zu. »Ich denke, Sie sollten sich das hier ansehen kommen.«
Zuerst hatte niemand gedacht, dass das verkommene Haus überhaupt einen Keller hatte – der Boden war zu felsig, es war zu hügelig und Mallorys Haus sah aus, als wäre es vor Jahrzehnten von jemandem ohne Fachwissen gebaut worden –, doch dann war jemandem im Flur, der zum hinteren Schlafzimmer führte, etwas zwischen den Fußbodenbrettern aufgefallen, das wie eine Falltür aussah. Aus einem der Streifenwagen wurde ein Brecheisen geholt und die Falltür aufgestemmt. Der Geruch, der hervordrang, war grauenhaft – ein feuchter, schwerer, klebriger Gestank, der der Ursprung des Miefs im ganzen Haus war – und alle, die um das Loch im Fußboden herumstanden, wichen fast sofort davon zurück.
»Wir werden Gasmasken brauchen«, sagte McHale, und Ryerson war sich nicht sicher, ob er das als Witz meinte oder nicht.
Sie schob sich durch die um die Falltür versammelten Männer und spähte in die Dunkelheit. Holzstufen verschwanden nach unten in der Erde. »Kann mir einer mal seine Maglite geben?«, fragte sie und streckte die Hand aus. Einer der Trooper legte ihr den kalten Metallgriff seiner Taschenlampe in die Handfläche.
»Ich geb dir Rückendeckung«, sagte McHale, der hinter ihr hinunterging.
»Pass einfach auf, dass ich nicht hinfliege und mir den Hals breche.«
Während sie die kurze Holztreppe hinunterstieg, kam ihr der Gedanke, dass das Haus voller Fallen sein konnte. Sie hatte schreckliche Geschichten – moderne Schauermärchen oder die Wahrheit? – über Polizisten gehört, die nichts ahnend in ein Haus des Grauens stolpern, wo Lichtschalter Bomben auslösen und Teppiche große Fallgruben im Fußboden verstecken. Sie hatte keine Ahnung, ob sie in dem Moment, in dem sie den Boden erreichte, mit dem Stiefel in eine elektrisch geladene Pfütze treten würde …
Aber der Boden bestand aus festgestampfter Erde.
»Hier unten riecht es noch schlimmer«, rief sie McHale zu und hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Der durchdringende, schwärende Verwesungsgeruch, der das Haus oben durchtränkte, war hier unten noch extremer. Er brachte ihre Augen zum Tränen.
Sie leuchtete den Raum mit der Taschenlampe ab, der kein Zimmer war, sondern lediglich ein Erdloch unter dem Haus. Bleiche Wurzeln ringelten sich wie Korkenzieher aus den Erdwänden heraus und dünnere Wurzeln – manche so dünn, dass sie wie Haare wirkten – sprossen überall verstreut aus der Erde. Sie sah hoch und entdeckte, dass die Bohlen des Korridors sich so niedrig über ihrem Kopf befanden, dass sie gebückt bleiben musste, obwohl sie nur einen Meter sechzig groß war.
»Mannomann«, murmelte sie.
Es war der Stauraum eines Messies, eine Ansammlung von verdreckten Dingen, die dicht an dicht gegen die Erdwände geschoben waren, sodass sich nur in der Mitte des winzigen Kellers ein Stückchen Freiraum befand. Als sie den Strahl der Taschenlampe über die Dinge schweifen ließ, entdeckte sie eine mit Schimmel durchsetzte Arbeitsjacke, ein Paar lederne Arbeitsstiefel, mehrere Rucksäcke, auf denen große schwarze Käfer herumkrabbelten, und diverse andere Sachen.
»Ist wohl eine Art Lagerraum?«, vermutete McHale, dessen Stimme von seiner vor den Mund gehaltenen Hand gedämpft wurde. Der Raum war so vollgestopft, dass McHale sich fast an Ryersons Rücken drückte.
»In gewissem Sinne«, sagte sie und hielt den Taschenlampenstrahl auf einen der Gegenstände gerichtet – eine große, verstaubte Umhängetasche mit einer stumpfen Metallschnalle und etwas, das wie ein lederner Schulterriemen aussah. »Das ist eine Frauenhandtasche«, sagte sie.
Es musste wohl ein paar Sekunden gedauert haben, bis McHale die Bedeutung erkannte, denn eine kurze Pause entstand. Dann sagte er: »Oh. Oh, verdammt, Jill.«
»Ja.«
Sie bewegte den Lichtstrahl von der Handtasche weg über die Mauer aus Gegenständen – weitere Kleidungsstücke, Schuhe, ein durchweicht aussehender North-Face-Rucksack – und stockte, als das Licht auf einen alten Schrankkoffer fiel. Er stand dicht an eine Wand aus Betonblöcken gerückt, die mit blutigen, fast in gerader Linie aufgedruckten Kreuzen beschmiert waren und im Strahl der Maglite fast schwarz aussahen. Der Koffer sah uralt aus und war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Die großen Messingverschlüsse an der Vorderseite waren grün angelaufen. Es schien ein ungewöhnlich großer Schrankkoffer zu sein, was Jill Ryerson aus irgendeinem Grund extrem beunruhigte. Große weiße Steine umringten ihn auf dem Boden. Auf den Deckel war eins der seltsamen Symbole von den Wänden oben gemalt – das Auge mit der vertikalen Pupille –, wobei sie das erst bemerkte, als sie näher heranging und die Staubschicht wegpustete.
»Machen wir den auf oder rufen wir die Bombenentschärfung?«, fragte McHale. Wieder konnte sie nicht sagen, ob er Witze machte oder nicht.
Jill Ryerson öffnete den Koffer.
»Oh«, stöhnte sie und wandte sich schnell von dem Ding darin ab. Sie ließ ihre Taschenlampe fallen und drückte sich beide Hände fest auf den Mund und die Nase.
Mike McHale war nicht so redegewandt: Er krümmte sich zusammen und übergab sich auf den Boden.