Читать книгу KNOCHENBLEICH - Рональд Малфи - Страница 13

Kapitel 6

Оглавление

Über einen Zeitraum von vier Tagen hinweg wurden acht Leichen aus ungekennzeichneten Gräbern in den Wäldern keine zwei Meilen außerhalb des Dorfs Dread’s Hand in Alaska geborgen. Die weit fortgeschrittene Verwesung der Leichen ließ darauf schließen, dass mindestens fünf von ihnen dort im Wald seit geraumer Zeit begraben lagen – dem Gerichtsmediziner in Anchorage zufolge seit mehreren Jahren. Die Opfer jüngeren Datums waren nicht gerade schön anzusehen, aber ihre Verwesung nicht so weit fortgeschritten … wobei es den Ermittlern trotzdem unmöglich war, Fingerabdrücke von ihnen zu nehmen. Captain Dean Ericsson von der Abteilung für Kapitalverbrechen in Fairbanks erklärte, dass seine Beamten jetzt die Vermisstenanzeigen durchgingen, um zu sehen, ob sie die infrage kommenden potenziellen Opfer eingrenzen konnten. Aber da in Alaska jedes Jahr ungefähr 3.600 Personen verschwanden, versprach das Eingrenzen ein arbeitsintensiver und langsamer Prozess zu werden.

Paul Gallo las das alles online. Er erfuhr auch etwas mehr über den Tatverdächtigen, Joseph Mallory. Die meisten Online-Berichte wurden von demselben Schwarz-Weiß-Foto von Mallory begleitet, das am ersten Abend in den Nachrichten zu sehen gewesen war – ein Schnappschuss eines einfach aussehenden Mannes mit einer schlechten Halbglatzenfrisur und dem schmalen, langen Gesicht einer Person, die nicht leicht lächelte. Er trug eine Jägerjacke aus Flanell und war glattrasiert. Das Bild wirkte nicht aktuell.

In jedem Artikel stand eine kurze Zusammenfassung über Mallory, manchmal nur ein Satz. Er war achtundfünfzig Jahre alt und ein lebenslanger Junggeselle, der ungefähr Mitte der Achtzigerjahre nach Dread’s Hand gezogen war. Davor hatte er in einem Ort mit einem ebenso ungewöhnlichen Namen gelebt – Buffalo Soapstone –, wo er als Trapper und Fischer gearbeitet hatte. Diese Karriere setzte er in Dread’s Hand fort und führte hin und wieder eine Gruppe Jäger auf der Schafsjagd ins Vorgebirge der White Mountains.

In den Artikeln, die Paul las, gab es ein paar kurze Kommentare von Menschen, die ihn aus seiner Zeit in Buffalo Soapstone kannten, aber seltsamerweise keinen einzigen Kommentar von Dread’s Hands Einwohnern. Joseph Mallory hatte ein örtliches Café betreten, wo er angeblich eine heiße Schokolade bestellt und dann für alle anwesenden Gästen hörbar zugegeben hatte, eine undefinierte Anzahl von Menschen ermordet zu haben … aber anscheinend war niemand dieser Cafébesucher von irgendwem interviewt worden. Nach seinem Geständnis in der Gaststätte war Mallory angeblich die Straße hinuntergeschlendert, hatte sich vor der Kirche auf eine Bank gesetzt und auf die Polizei gewartet. Der Hilfssheriff – der in keinem der Berichte mit Namen genannt wurde – war gekommen und hatte sich neben Mallory gesetzt, bis die Abteilung für Kapitalverbrechen der Polizei in Fairbanks Ermittler schicken konnte. Paul führte eine schnelle MapQuest-Suche durch und schätzte, dass die Ermittler mindestens anderthalb Stunden für die Fahrt gebraucht hatten. Und doch hatte der Hilfssheriff, der anscheinend die ganze Zeit lang neben Mallory gesessen hatte, keinen Kommentar abzugeben.

Da Paul daran irgendetwas seltsam vorkam, forschte er ein bisschen mehr nach. Oder versuchte es zumindest. Aber es gab online nur sehr wenige Informationen über das Dorf Dread’s Hand zu finden. Es handelte sich um eine alte Bergbausiedlung im Vorgebirge der White Mountains, um die neunzig Meilen nordwestlich von Fairbanks am äußeren Rand des Polarkreises gelegen. 1916 waren die Minenschächte des Orts eingebrochen, wobei sechsundzwanzig Männer ums Leben gekommen waren. Die alten Goldgräberhütten standen immer noch am Stadtrand, halb in dem Krater versackt, der damals den Einsturz der Mine verursacht hatte. Aus Chats von Reisenden auf Touristikwebseiten erfuhr Paul von diesen alten Blockhäusern. Abgesehen davon war es fast, als existierte das abgelegene und verschlafene alaskanische Dorf Dread’s Hand gar nicht, dessen Einwohnerzahl seit der Jahrhundertwende bei um die fünfundsiebzig Seelen stagnierte.

Im Laufe der Woche rief er Investigator Jill Ryersons Nummer noch dreimal an. Jedes Mal wurde er direkt an ihre Voicemail weitergeleitet. Jedes Mal legte er auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Was ist bloß los mit mir?, fragte er sich.

Aber er meinte es zu wissen.

»Es ist, als hätte ich ihn noch mal aufs Neue verloren«, sagte er am Samstag, als er sich mit Erin Sharma zum Mittagessen traf. »Und wenn ich da anrufe und es bestätigt wird, dann … na, dann war’s das doch, oder?«

Erin lächelte ihn von der gegenüberliegenden Seite des Tisches warm an. Sie war eine gelehrt aussehende Frau Anfang dreißig mit einem attraktiven Lächeln und arbeitete mit ihm in St. John’s Institut für Anglistik. Sie waren einige Zeit lang miteinander ausgegangen, und sie hatte sogar ein paar Mal Danny getroffen. Als Danny Probleme mit der Polizei bekam und Paul um Geld für einen Anwalt gebeten hatte, war Erin auf Dannys Seite gewesen und hatte nicht begreifen können, wie Paul, dem sein Bruder angeblich so wichtig war, ihm Hilfe verweigern konnte. Paul hatte erklärt, dass sie Danny nicht kannte, nicht so gut, wie er ihn kannte. Vielleicht hatte er sogar das aufgeblasene alte Sprichwort vom Schwimmen oder Ersaufen von sich gegeben. Das Problem mit Danny war nicht der Grund, aus dem Pauls und Erins Beziehung schließlich scheiterte, aber Paul hatte das Gefühl, dass Erin ihn deswegen seitdem negativer wahrnahm. Er hatte es nie geschafft, ihr die Situation zu erklären, und gab es deshalb mit der Zeit auf.

»Ob du da nun anrufst oder nicht, ändert ja nichts an dem, was ihm tatsächlich zugestoßen ist«, sagte sie. »Du machst dir damit nur selbst was vor, Paul.«

Und das tat er auch, oder nicht? Seltsamerweise merkte er jetzt zum ersten Mal, wie allumfassend Danny in seinem Leben seit seinem Verschwinden geworden war – viel mehr als zu der Zeit, in der er noch ein Teil von Pauls Leben gewesen war. Das war irgendwie traurig, fand er.

»Aber weißt du, was ich interessant finde?«, fragte sie. Sie saßen auf der Terrasse des Book & Bean, eines Restaurants in der Innenstadt von Annapolis, wo sie das kühle Herbstwetter genießen und die Segelboote beobachten konnten, die in der Bucht kreuzten.

»Was?«, fragte er.

»Dass er immer verschwunden ist. Merkst du das? Jedes Mal, wenn du über ihn redest, ist er bloß verschwunden, und selbst trotz der Annahme, die du jetzt hast, weil irgendein Irrer diesen armen Menschen in fünftausend Meilen Entfernung etwas angetan hat, ist er immer noch bloß verschwunden. Fällt dir das nicht selbst beim Sprechen auf?« Sie lächelte ihn über die Tischplatte hinweg warm an. Sie trug eine schwarzgerahmte Brille mit dicken Gläsern, aber ihre Augen hinter den Linsen waren vollkommen klar. »Mein Lieber, ich glaube nicht, dass du Angst hast, da anzurufen und zu erfahren, dass dein Bruder tot ist. Ich glaube, du hast Angst anzurufen und keine Antworten zu bekommen – immer noch nicht zu wissen, was ihm wirklich zugestoßen ist. Dass du weiterhin da feststeckst, wo du dich seit seinem Verschwinden festgefahren hast. Du hast keinen Schlusspunkt und keinen Frieden, und das hat dich verändert.«

»Es hat mich verändert? Inwiefern?«

Sie zog eine Schulter hoch und stach gedankenverloren nach einem Stück Gurke auf ihrem Salatteller. »Hauptsächlich in kleinen Dingen. Aber ein Teil von dir ist anders, seit Danny weg ist.«

»Natürlich«, sagte er.

»Du missverstehst mich«, sagte sie. »Nicht, seit er verschwunden ist, sondern seit er wegflog. Seit er nach Alaska aufgebrochen ist, meine ich. Schon bevor er verschwand. Es ist, als wäre irgendein kleiner Teil von dir auch mitgeflogen. Mit Danny.«

»Und wo ist dieser Teil von mir dann jetzt?«

»Da, wo Danny ist«, erwiderte Erin.

Aus irgendeinem seltsamen Grund erinnerte ihn das an die Wochen im letzten Sommer und die unerträgliche Schlaflosigkeit, die ihn bis früh in den Morgen wachgehalten hatte. Oft hatte er ans Kopfbrett des Betts gelehnt dagesessen und beobachtet, wie der Himmel sich verfärbte, wenn die Sonne weit hinter seinen Schlafzimmerfenstern aufging. Er war so erschöpft gewesen, dass er auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Nachhauseweg mehrmals fast einen Unfall verursacht hätte. Und um den vierten oder fünften Tag herum – eine Zeitspanne, in der er nicht mehr als vielleicht zehn Stunden Schlaf gehabt hatte – halluzinierte er, dass sein Schlafzimmer in Wirklichkeit eine dunkle, unterirdische Gruft war und die Fensterscheiben mit Dreck bedeckt waren und sein Schlafzimmerteppich vor Würmern nur so wimmelte. Als er es nicht mehr ertragen konnte, war er zu seinem Arzt gegangen, der ihm ohne Weiteres Schlaftabletten verschrieben hatte. Aber die Tabletten hatten ihn lediglich tagsüber schläfrig gemacht, wenn er versuchte, eine Vorlesung vor einem Seminarraum Collegestudenten zu halten. Nachts waren die Pillen so wirkungslos wie Gummibärchen gewesen.

»Du weißt ja, dass er schon immer ein schrecklicher Bruder gewesen war«, sagte er lächelnd, ohne wirklich zu lächeln. »Nicht absichtlich. Er ist nur ständig in Schwierigkeiten geraten. Und hat mich auch in Schwierigkeiten gebracht.« Er rollte seinen linken Ärmel hoch und zeigte ihr den Halbkreis winziger Dellen in seiner Haut. »Siehst du das?«

»Ich erinnere mich«, antwortete Erin. »Du hast mir gesagt, ein Hund hätte dich gebissen. Jetzt willst du mir erzählen, dass das von Danny ist?«

Paul lachte. »Nein, nein – Danny war das nicht. Aber es war Dannys Schuld. Als wir elf Jahre alt waren, ist er in ein altes, verlassenes Haus in unserem Stadtteil eingebrochen. Irgendwie hatte er mich dazu überredet mitzukommen. Wir sind in den Keller runtergestiegen, und da unten war ein Hund, irgendein Streuner. Hat uns zu Tode erschreckt.« Paul zuckte die Achseln und rollte seinen Ärmel wieder herunter. »Danny ist weggerannt und ich bin gebissen worden. Zur Sicherheit musste ich eine Tollwutimpfung kriegen.«

»Falls dir gleich Schaum vorm Mund steht, rufe ich den Kellner«, sagte Erin.

»Wir hatten als Kinder immer diese äußerst seltsame Verbindung zueinander«, sagte er. »Du weißt ja, dass ich an solche Sachen nicht glaube, aber Danny und ich standen uns damals äußerst nahe. Manchmal war es, als ob wir etwas voneinander wussten. Jetzt, wo ich älter bin, kann ich das natürlich aus einer anderen Perspektive beurteilen – mir ist klar, dass es nicht wirklich eine übernatürliche Verbindung zwischen uns gab, sondern dass es ganz einfach Intuition war und, ganz ehrlich, auch Zufall. Aber damals, als wir jung waren … ich weiß nicht. Manchmal war’s, als ob wir in ein und demselben Kopf steckten.«

»Na ja, und du weißt genauso, dass ich auch nicht an Sachen wie Kristalle und Traumfänger glaube«, sagte Erin, »aber ich glaube doch, dass wir Teile von anderen Menschen in uns herumtragen. Besonders von engen Verwandten. Es liegt uns im Blut, oder vielleicht liegt’s auch nur an den Genen oder was auch immer – irgendein Rest von einem Urinstinkt von früher, als wir alle in Höhlen lebten und uns gegenseitig mit dicken Knüppeln auf den Kopf gehauen haben –, aber ich glaube, dass es das gibt. Und Mensch, ihr seid Zwillinge! Man hört ja ständig Geschichten über Zwillinge, die … ich weiß nicht … die spüren, wenn der andere Schmerzen hat oder wissen, wann der Zwilling Hunger hat oder Angst oder krank ist oder so. Als das Telefon klingelte, wusste ich, dass es ein Anruf wegen meiner Schwester war, die zweitausend Meilen weit weg in Poughkeepsie wohnt, und dass sie die Treppe runtergefallen war. So was meine ich.«

»So war das nie«, sagte er.

»Wie war es dann?«

Es war wie eine große, pulsierende Nabelschnur, dachte er; ein Bild, das einen Sekundenbruchteil lang wie ein Neonschild, auf das man aus dem Schnellzugfenster einen kurzen Blick erhascht, in seinem Kopf aufblitzte. Es war wie ein Haltestrick, der uns verband, uns zu einem Ganzen machte. Zwei Hälften, die zusammengebracht wurden. Stattdessen sagte er: »Im Grunde war’s ein Bauchgefühl. Das stärkste Bauchgefühl, das man haben kann.« Er drückte sich zwischen Solarplexus und Bauchnabel den Daumen auf den Bauch. »Hier, an dieser Stelle.«

»Das ist das Manipura«, sagte Erin. »Das dritte Hauptchakra.«

»Ich dachte, du glaubst nicht an Kristalle und Traumfänger.«

»Hinduismus hat nichts mit Kristallen und Traumfängern zu tun, das ist kein Hokuspokus.«

Er hob beide Hände, als würde er sich ergeben.

»Das Manipura hängt mit Feuer zusammen«, sagte Erin, »und mit der Verwandlung von Körper und Seele. Wenn du lernst, über das Manipura zu meditieren, kannst du die Macht bekommen, die Welt zu retten oder zu zerstören.«

»Na, dann habe ich mein Potenzial aber noch nicht ganz ausgeschöpft.«

»Du machst dich darüber lustig, aber die Chakren gibt es wirklich.«

»Und wie hilft mir das dabei, Danny zu finden?«

»Aha«, sagte Erin mit einem seltenen verschmitzten Lächeln. »Ihn zu finden. Weil er verschwunden ist.«

»Du bist ein Rätsel«, sagte Paul.

»Lass uns Drinks bestellen«, sagte Erin.

Später würde er sich einreden, dass ihn das Gespräch mit Erin Sharma überzeugt hatte, den Anruf zu machen, aber das stimmte nicht wirklich. So war es bloß leichter zu schlucken, und daher schluckte er es. In Wahrheit rief Paul wegen dem an, was sich zwei Tage später am Montag während einer Seminardiskussion über Henry James’ Erzählung »Das glückliche Eck« ereignete.

Es war ein kalter, bewölkter Nachmittag. Windböen wirbelten tote Herbstblätter von der Grünfläche auf und ließen sie gegen die milchigen Fensterscheiben des Geisteswissenschaftentrakts rascheln. Er hielt drei Vorlesungen, bevor er Mittagspause machte, aber er hatte keinen großen Hunger. Aus Gewohnheit ging er trotzdem in die Cafeteria, wo er unangebracht lange dastand und eine Pyramide aus Äpfeln und Orangen anstarrte. Schließlich schlug ihm jemand auf die Schulter und brummelte etwas Unverständliches in sein Ohr.

»Was?«, sagte er, drehte sich zu schnell um und stieß dabei das Tablett der Brummelnden zu Boden.

Es war Rena Tremaine, Pauls studentische Hilfskraft. Von ihm erschreckt stand sie stocksteif da. Ihre kleine, quadratische Figur war in einen Wollrock und eine altmodische, formlose Bluse eingemummelt. Bevor er ihr zuvorkommen konnte, bückte sie sich, um ihr Tablett und den Trinkkarton Kakao aufzuheben.

»Tut mir leid«, sagte er. »Sie haben mich erschreckt.«

»Ich bin nur froh, dass ich mir keine Suppe genommen hab«, sagte sie. Er konnte sehen, dass sie zu lächeln versuchte, aber sie war zu besorgt, als dass es echt wirkte. »Geht es Ihnen gut? Sie stehen hier schon seit zehn Minuten oder so.«

»Tatsächlich?«

»Sie sehen elend aus, Mr. Gallo.«

Es war, als befreiten ihre Worte ihn aus irgendeinem Bann. Plötzlich wurde ihm schlecht und heiß. Sein Hemd wurde feucht von Schweiß. Er strich sich durch die Haare. »Ich glaube, ich werde krank«, sagte er.

»Eine Magengrippe geht um.«

»Ich glaube, ich nehme mir nur ein Glas kaltes Wasser«, sagte er.

»Wollen Sie sich heute um vier noch mit mir zusammensetzen? Ich habe die Textauswahl aus der Anthologie rausgesucht und wollte sie mit Ihnen durchgehen.«

»Ja, kein Problem.«

Aber in Wirklichkeit hörte er sie jetzt kaum noch. Irgendetwas war ein bisschen … aus dem Gleichgewicht geraten. Seine Bewegungen fühlten sich schwer und langsam an, sein Körper fiebrig, und am Rande seines Sichtfelds schien ein pelziger, schwarzer Dunst zu liegen.

»Ich habe Kopfschmerztabletten in meiner Handtasche«, bot Rena ihm an.

»Nein, nein, schon gut. Danke. Mir geht’s gut.«

»Dann bis um vier.« Ihre Stimme hob sich am Satzende, als stellte sie eine Frage. Sie starrte ihn an, als wäre ihm plötzlich ein drittes Auge gewachsen.

»Ja«, sagte er und drückte sich den Handballen gegen sein rechtes Auge. Rückwärts wich er aus der Cafeteriaschlange in Richtung Tür zurück. »Bis um vier.«

Aber er sollte sich um vier nicht mit ihr treffen.

In der Männertoilette im ersten Stock des Geisteswissenschaftentrakts wusch er sich das Gesicht. Zum Glück war sonst niemand in der Toilette, und so hatte er den Gestank ganz für sich allein. Als er sein Spiegelbild ansah, fielen ihm die fleckigen, aufgedunsenen Tränensäcke unter seinen Augen auf, und wie bleich er war. Hätte er am Morgen außer einer Tasse Kaffee noch etwas anderes zu sich genommen, hätte er auf eine Lebensmittelvergiftung getippt. Seine Sicht war immer noch von dem seltsamen, pelzigen Grau eingerahmt.

Bevor er wieder ging, rieb er mit dem Daumen über die untere rechte Ecke des Badezimmerspiegels. Er fühlte sich dazu gezwungen, ohne zu wissen, warum er es tat oder ob er erwartete, etwas auf dem Glas zu ertasten. Aber da war nichts. Sein Kopf fühlte sich benebelt und haltlos an.

Er ging trotzdem in den Seminarraum und schaffte es, seine mit Eselsohren versehene Ausgabe von The Jolly Corner and Other Tales aus seiner Aktentasche zu fummeln, ohne sie zu Boden fallen zu lassen. Er sprach laut und deutlich, und ein paar Minuten lang schien wieder alles in Ordnung zu sein.

»Was will James damit ausdrücken, dass Spencer Brydon zum glücklichen Eck zurückkehrt und auf sein Alter Ego trifft?«

Vorne im Raum meldete sich eine junge Frau zu Wort, deren Name ihm plötzlich nicht mehr einfiel. »James spielt auf sein nicht gelebtes Leben an. Brydons anderes Ich treibt sich im glücklichen Eck herum, in seinem Kindheitszuhause, weil er Brydon zeigen will, was er hätte werden können, wenn er in Amerika geblieben wäre und was aus seinem Leben gemacht hätte.«

»Und was denken Sie?«, fragte Paul. In seinem Hinterkopf herrschte jetzt ein fernes, insektenähnliches Summen, aber er versuchte es zu ignorieren. »Hat Spencer am Ende der Kurzgeschichte etwas von diesem Geist seines Alter Ego gelernt? Wird er sein Leben auf diese Erfahrung hin ändern oder wird er weiter ein egoistischer, verschwenderischer … äh …« Seine Gedanken verwirrten sich und seine Worte ebenso.

»Sie sind Doppelgänger«, sagte jemand. Paul konnte die Stimme hören, aber nicht erkennen, wer sprach. »Es ist eine Auseinandersetzung von Gut gegen Böse. Bloß ist der Leser sich unklar, wer der gute Brydon ist und wer der böse. Brydons Alter Ego besiegt ihn schließlich mit dem, was im Text Wut von Persönlichkeit genannt wird. Aber es bedeutet in Wirklichkeit, dass Brydon schwach ist, während sein anderes Ich – sein Doppelgänger – auf eine viel tiefere Art reifer geworden ist und Erfolg gehabt hat … obwohl er in der realen Welt gar nicht existierte.«

Aber Paul hörte nicht mehr zu. Er sah auf das Buch in seinen Händen, eine dünne Taschenbuchausgabe von Henry James’ Das glückliche Eck und andere Erzählungen. Er blinzelte und hielt es näher an sein Gesicht. Jetzt war der Text scharf und lesbar, aber die Wörter nur ein unsinniges Durcheinander. Er konnte sie nicht lesen. Er konnte nicht verstehen, was sie bedeuteten. Er spürte, wie seine Finger sich automatisch um ein Stück Kreide schlossen, das sich in seiner Handfläche auf einmal sehr schwer und kalt wie Eis anfühlte.

»Mr. Gallo?«, sagte eine der Studentinnen in der ersten Sitzreihe. Aber ihre Stimme klang wie eine langsam abgespielte LP, tieftonig, langgezogen und unpassend maskulin.

Paul ließ das Buch fallen und starrte zu der jungen Frau, zum Rest der Studenten hinüber. Er drückte immer noch an dem Stück Kreide in seiner Hand herum. Hinten im Seminarraum sah Rena Tremaine von ihrem Tisch auf. Ihre Brille saß auf ihrer Nasenspitze, vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch. Ihr Mund bewegte sich und sie sagte etwas, aber diesmal wurde die Stimme vom Schall seines Herzschlags übertönt, der ihm rhythmisch in den Ohren pochte, gleichmäßig wie eine Basstrommel – donk, donk, donk, donk. Während er sie anstarrte, wurde der pelzige, graue Rahmen an der Grenze seines Sichtfelds breiter und breiter, bis es war, als schaute er durch ein Comic-Fernglas. Die Grenze breitete sich aus, bis seine Sicht nur noch aus zwei Stecknadelköpfen aus stumpfem, weißem Licht bestand. Und dann aus gar nichts mehr.

Er blinzelte und merkte, dass er zum metallgrauen Himmel hochsah, der mit dahinjagenden, aschefarbigen Wolken gefleckt war. Ein kalter Wind kühlte seinen Körper aus. Er lag bewegungslos mit allen Vieren von sich gestreckt auf dem Rücken auf der Erde. Sein Atem drang pfeifend den schmalen Kamin seiner Luftröhre hoch. Als er sich aufzusetzen versuchte, stellte er fest, dass er es nicht konnte. Als er sich zu regen versuchte, stellte er fest, dass er es nicht konnte.

Eine sich bewegende Gestalt außerhalb seines Blickfelds spürte er mehr, als dass er sie sah – eine vage, undeutliche Präsenz, von der ihm trotzdem eiskalt wurde. Er versuchte, den Mund aufzumachen und zu sprechen, doch auch das konnte er nicht.

Eine Hand schob sich in sein Gesichtsfeld, löschte den metallgrauen Himmel und die dunklen Wolken aus. Er erkannte, dass es seine eigene Hand war, obwohl er sie nicht bewegt hatte, sie sich nicht vors Gesicht gehalten hatte.

Seine Handfläche und Finger waren blutbedeckt.

Auf dem Rücken im Seminarraum liegend, kam er wieder zu sich. Ein verschwommenes, wildfremdes Gesicht starrte zu ihm hinunter. Der Mund des Gesichts bewegte sich, aber keine Worte kamen heraus. An der Seite seines Gesichts war eine warme Hand. Sein gesamter Körper fühlte sich wie mit einer kalten Schweißschicht bedeckt an.

Der Kopf über ihm nahm langsam die Gesichtszüge von Rena Tremaine an und ihre Stimme filterte zu ihm hinab, stieg in immer höhere Oktaven, bis sie sich ihrer normalen Tonlage näherte.

»Mr. Gallo? Mr. Gallo?« Ihre Stimme wurde jetzt weicher, obwohl die Sorge nie aus Renas Gesicht verschwand. »Da sind Sie ja wieder.«

Er kämpfte darum, sich aufzusetzen. Sein Kopf pochte schmerzhaft.

»Vielleicht sollten Sie einfach eine Minute liegen bleiben«, sagte Rena.

»Was ist passiert?«

»Sie sind bewusstlos geworden.«

»Wo …« Er schaffte es, den Kopf zu drehen, und entdeckte, dass seine Studenten ihn großäugig und mit offenem Mund anstarrten.

»Soll ich einen Krankenwagen rufen?«, fragte einer von ihnen.

»Ja«, sagte Rena.

»Nein«, sagte Paul. »Nein, mir geht’s wieder gut.« Jetzt schaffte er es in eine Sitzposition. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, die Arme auf die Wehrmauer seiner Knie gestützt. Aus irgendeinem Grund verspürte er den Drang, seine rechte Hand zu betrachten. Er drehte die Hand um und alles sah normal aus, abgesehen davon, dass sie mit Kreide gepudert war. Neben ihm auf dem dunkelgrünen Linoleumboden war ein wieder und wieder gezeichneter Kreidekreis – gestrichelt, wie von einem verärgerten Kind –, durch dessen Mitte eine brutale Linie verlief.

»Das haben Sie gemacht«, sagte Rena, die klang, als sei ihr schlecht.

Die Vision schwamm zurück in seinen Kopf, körnig wie ein alter Film – wie er auf dem Rücken lag, zum Himmel hochstarrte, das Gefühl hatte, dass jemand bei ihm war, und seine rechte Hand sich blutbedeckt in sein Blickfeld schob.

»Gehen Sie zumindest zur Erste-Hilfe-Station«, sagte Rena.

»Ja, okay«, sagte er. »Können Sie das Seminar weiterführen?«

»Ja. Können Sie denn gehen? Ich kann Ihnen jemand zur Begleitung mitgeben.«

»Ich komme schon klar.«

»Falls Sie auf dem Weg wieder hinfallen …«

»Dann bin ich der Glückliche, der einen Antrag auf Entschädigung wegen Betriebsunfall einreichen kann.«

Obwohl Rena weiterhin eine besorgte Miene machte, lächelte sie schwach zu ihm hinunter. Sie wandte sich den Studenten zu und sagte: »Okay, Leute. Die Show ist vorbei.«

Die Studenten applaudierten, als er aufstand.

An diesem Abend rief er Ryersons Büronummer mit dem festen Entschluss an, eine Nachricht zu hinterlassen. Vor seinem inneren Auge sah er immer noch die unfreundliche Schwarzweißvisage von Joseph Mallory wie ein von einem Blitzlicht in die Netzhaut eingebranntes Bild nachhallen. Dieser fettige Seitenscheitel und diese karierte Flanelljacke. Mallory. Mallory. Und jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er diese blutige Hand, von der er jetzt glaubte, dass sie Dannys war. Egal, wie unwahrscheinlich das war.

Ryerson nahm ab.

»Hallo Investigator Ryerson, hier ist Paul Gallo. Wir haben vor ungefähr einem Jahr wegen des Verschwindens meines Bruders Danny Gallo miteinander gesprochen. Sie haben seinen Mietwagen in der Nähe von einem Dorf namens Dread’s Hand gefunden. Ich habe die Nachrichtenberichte über das gelesen, was da passiert ist, Investigator Ryerson, und dachte, dass … na ja, dass ich mich vielleicht melden sollte.«

»Natürlich. Ja, ich erinnere mich an unsere Gespräche.«

»Die Medien berichten, dass bisher noch keins der Opfer identifiziert worden ist.«

»Das stimmt.«

»Und wie machen wir das nun?«, fragte er. »Muss ich mir die Leichen ansehen, um meinen Bruder zu identifizieren? Oder müssen lediglich die Fingerabdrücke mit, ich weiß nicht, irgendeinem Verzeichnis abgeglichen werden? Danny ist vorbestraft.«

»Na ja, Mr. Gallo, ich befürchte, so einfach ist das nicht. Wegen des Zustands, in dem sie sind, meine ich …«

»Oh«, sagte er.

»Im Moment vergleichen wir gewisse Merkmale der Opfer mit den Vermisstenanzeigen der letzten fünf Jahre. Wir bitten außerdem jeden, der glaubt, er könnte mit einem der Opfer verwandt sein, aufs Revier zu kommen und eine DNA-Probe abzugeben. Angesichts Ihrer Situation würde ich Ihnen dazu raten. Das kann auch auf einer örtlichen Polizeiwache bei Ihnen gemacht werden, wobei wir hier bei uns die Resultate allerdings extra dringlich beschleunigen. Wie schnell das anderswo geht, kann ich nicht sagen.«

»Okay«, sagte er.

»Wir haben auch einige Personen aufs Revier kommen und sich Kleidungsstücke und andere Dinge ansehen lassen, die während der Hausdurchsuchung des Verdächtigten beschlagnahmt wurden. Leider kann ich Ihnen von keinem dieser Gegenstände Fotos schicken, da sie der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Aber jemand in Alaska, der herkommen …«

»Dann werde ich kommen«, sagte er.

KNOCHENBLEICH

Подняться наверх