Читать книгу Herrengolf und andere Irrtümer - Rotraut Mielke - Страница 10
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ОглавлениеAls Gerd das Rathaus betrat, hatte er Marlenes Unwohlsein schon wieder völlig vergessen. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Er hatte sich ausführlich auf die Sitzung des Gemeinderats vorbereitet, aber nun, in letzter Minute, hatte er das Nervenflattern. Dass der Punkt ‚Verschiedenes‘ als letzter auf der Tagesordnung stand, machte es nicht besser. Lang und breit wurde über eine Fußgängerampel an der Frankfurter Straße debattiert. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe! Auch der Ankauf von Streumitteln für den Winter schien ihm jetzt mitten im Sommer nicht besonders dringlich zu sein. Aber es nützte nichts, er musste sich in Geduld fassen.
„Kurze Pause“, verkündete Hartmut Schneider, der heute die Sitzung leitete, weil der Bürgermeister verhindert war.
„Ihr wollt doch nur eine rauchen“, maulte Gerd.
Aber der Gemeinderat, der ausschließlich aus Männern bestand, begab sich fast geschlossen nach draußen. Gerd flüchtete auf die Herrentoilette und schloss sich in einer der Boxen ein. Während er auf dem Klo saß, ging er noch einmal seinen Sprechzettel durch. Jedes Wort musste sitzen, wenn er überzeugen wollte. Da war er Perfektionist.
***
Alfred hatte Hummeln im Hintern, und er schaffte es nicht, das in den Griff zu kriegen. Schon beim Mittagessen konnte er kaum noch still sitzen. Es war nur gut, dass Marion heute auch ungewöhnlich nervös war und nichts von seiner Unruhe mitbekam. Während sie nach dem Essen in der Küche hantierte, verdrückte er sich klammheimlich und fuhr zur Gerätehalle seiner kleinen Firma. Liebevoll tätschelte er seinen Bagger und kletterte voller Elan ins Führerhaus. Dort saß er dann und starrte eine ganze Weile vor sich hin. Vor seinem geistigen Auge sah er sanft gewellte, grüne Fairways. Es würde ein wunderschöner Golfplatz werden. Und er würde ihn mit seinen eigenen Händen erschaffen, so wie der Herrgott die Welt erschaffen hatte. Er schnaufte tief durch, denn dieses erhabene Gefühl übermannte ihn, und er musste ein bisschen Tränenfeuchte hinunterschlucken. Aber dann drückte er auf den Anlasser.
Mit einem tiefen Blubbern sprang der Motor an. Als Alfred das Gaspedal betätigte, steigerte sich das Motorengeräusch zu einem wahren Fortissimo, das das gesamte Gefährt erzittern ließ. Alfred grinste von einem Ohr bis zum anderen, dieser Klang war Musik in seinen Ohren. Mit diesen temperamentvollen Pferdchen unterm Hintern konnte sich ein Mann noch frei fühlen. Er legte den Gang ein und rangierte den Bagger elegant aus der engen Halle hinaus auf den Vorplatz. Mit keinem Geld der Welt war das Gefühl zu bezahlen, ein solches Monstrum zu beherrschen. Mit sicherer Hand lenkte Alfred den Bagger durch die Straßen des Industriegebietes und bog in die Hauptstraße ein.
Der Weg durch den Ort glich einem Triumphzug. Immer noch verzückt lächelnd schaute Alfred auf die Autos hinunter, die von hier oben fast wie Spielzeug aussahen. Jetzt am Nachmittag war einiges los auf der Straße. Der Berufsverkehr hatte bereits eingesetzt, und auf der Landesstraße, die sich durch den gesamten Ort zog, reihte sich ein Auto ans andere. Aber Alfred hatte es nicht eilig. Gemächlich schob sich der Bagger Meter für Meter vorwärts. An einigen Stellen wurde es eng, aber mit der Routine vieler Jahre umschiffte Alfred lässig die kritischen Passagen. Nur gedämpft hörte er den Verkehrslärm um sich herum. Die Autoschlange hinter ihm wuchs schnell an, und ab und zu hupte jemand. Aber das war ihm egal. Er fühlte sich wie ein König, und wenn der König unterwegs war, hatte das Fußvolk gefälligst Platz zu machen.
***
Es lief wie am Schnürchen. Als Gerd zum ersten Mal das Wort ‚Golfplatz‘ aussprach, schaute er Schneider provozierend in das fleischige Gesicht mit den verächtlich nach unten gezogenen Mundwinkeln. Etliche Köpfe ruckten interessiert nach oben, das war etwas Neues, Interessantes, mit dem niemand gerechnet hatte. Und Gerd hatte seine Hausaufgaben gemacht. Punkt für Punkt knallte er dem Gemeinderat die Fakten um die Ohren. Und die konnten sich durchaus sehen lassen. Zusätzliche Steuereinnahmen, neue Arbeitsplätze und als Sahnehäubchen der Prestigegewinn, der Gelnhausen durch den neuen Golfplatz sicher war. Er registrierte, wie die Aufmerksamkeit der Männer beträchtlich anstieg.
„Damit katapultieren wir unsere schöne Stadt in den Fokus einer ganz neuen Klientel. Die neue Nummer Eins im Golfsport, meine Herren, Sie wissen, was das für unsere Stadtkasse bedeuten wird“, schloss er seine Rede ab.
Innerlich triumphierend sah er, dass Schneider blass geworden war. Das hatte gesessen. Er lehnte sich zurück und lauschte zufrieden dem angeregten Gemurmel der Anwesenden. Nun kam der beste Teil, auf den er sich schon die ganze Zeit gefreut hatte. Schneider würde versuchen, den Vorschlag niederzumachen. Aber gegen knallharte Argumente war auch er machtlos. Schon meldete sich der erste zu Wort, um den Vorschlag zu befürworten. Noch hielt sich die Opposition bedeckt, man wollte sich keine Blöße geben und erst einmal sehen, wohin der Hase lief. Aber die Debatte nahm rasant Fahrt auf, der Geräuschpegel stieg und mit ihm die allgemeine Begeisterung. Niemand, absolut niemand fand stichfeste Gegenargumente. Und Schneider war stocksauer, wie seinem Gesicht deutlich anzusehen war.
***
Durch die schallisolierte Kabine war das scharrende Geräusch kaum wahrnehmbar, aber natürlich bekam es Alfred trotzdem mit. Der Bagger hatte etwas angestoßen. Und er sah auch gleich, was es war. Die Fußgängerzone wurde mit großen Blumenkübeln vom fließenden Verkehr abgegrenzt. Und einen dieser Betonbottiche hatte es erwischt. Um den Schaden machte sich Alfred keine Sorgen, der würde sich in Grenzen halten. Ärgerlich war allerdings, dass er nun erst einmal nicht weiterfahren konnte. Es war ein öffentlicher Blumenkübel, und somit musste die Polizei antraben, um ein Protokoll aufzunehmen. Er drehte den Zündschlüssel herum, und der Motor erstarb mit einem letzten Blubbern. Erst als er die Tür seiner Kabine öffnete, bemerkte er verblüfft die lange Schlange von Autos die sich hinter ihm staute. Ein Ende der Blechlawine war nicht in Sicht. Nun kam Leben in die Fahrer, Fenster wurden heruntergelassen, und zornrote Gesichter brüllten Unfreundliches in seine Richtung. Er verschränkte ungerührt die Arme vor der Brust. Das war aber auch wirklich Pech. Denn es würde dauern, bis die Sache geklärt war.
Der Einsatzwagen hatte erhebliche Mühe, den Unfallort zu erreichen, sämtliche Straßen inklusive der stadtbekannten Schleichwege waren binnen weniger Minuten total verstopft. Alfred hatte sich eine Zigarette angesteckt, und als das wütende Hupkonzert der festsitzenden Autos immer mehr zunahm, war er wieder in sein Führerhaus zurückgeklettert. Er hatte keine Lust, sich mit irgendwelchen aufgeregten Pendlern anzulegen. Fast erleichtert sah er endlich ein Blaulicht auftauchen, und kurz darauf stiegen zwei Beamte aus dem Wagen. Der eine von ihnen war ein alter Bekannter, der würde kein großes Aufheben um die Sache machen. Den anderen Polizisten kannte er nicht. Er war noch ziemlich jung und sah reichlich verkniffen aus.
Grüßend legte der einen Finger an seine Dienstmütze. „Führerschein und Wagenpapiere bitte“, forderte er nicht eben freundlich.
„Tach, Ernst. Dumme Sache mit dem Kübel. Ich komm natürlich für den Schaden auf.“ Alfred beschloss, den jungen Schnösel zu ignorieren. Sein alter Kumpel Ernst kannte ihn ja, da brauchte man sich nicht mit Formalitäten abzugeben.
Der junge Polizist schaute sauer drein. „Ihre Papiere bitte, und zwar ein bisschen plötzlich. Haben Sie nicht mitbekommen, dass Sie hier einen Stau produzieren?“
„Hey, was soll dieser Ton?“, brauste Alfred auf und machte einen Schritt auf den schmächtigen, jungen Mann zu, der einen Kopf kleiner war als er. „Der Ernst kennt mich, das sehen Sie doch.“
Statt einer Antwort schnüffelte der junge Beamte plötzlich misstrauisch. „Haben Sie Alkohol getrunken?“
Alfred musste kurz überlegen. Zum Mittagessen hatte er ein Bier gehabt, wie immer. Und dann zwei Kurze zum Verdauen, auch wie immer. Das brachte so einen Kerl wie ihn doch gerade mal auf Betriebstemperatur. Dass er damit tatsächlich so einiges an Alkohol getrunken hatte, wurde ihm erst jetzt bewusst. Aber betrunken war er eindeutig nicht. „J-ja“, stotterte er schließlich. Er hatte schon zu lange mit seiner Antwort gezögert, um das noch überzeugend abstreiten zu können. „Ein Bier zum Mittagessen.“
Der junge Schnösel schnupperte weiter. „Das war nicht nur Bier. Auf meine Nase kann ich mich verlassen.“
Direkt lügen wollte Alfred nicht, also schwieg er lieber. Was kam jetzt, etwa eine Verwarnung?
„Sind Sie mit einem Alkoholtest einverstanden?“
Warum sagte Ernst eigentlich nichts? Hilfesuchend schaute Alfred ihn an, aber der schüttelte bedauernd den Kopf. Alfred zuckte ergeben mit den Schultern. „Von mir aus…“
Die ersten Schaulustigen hatten sich versammelt, und der Kreis der Gaffer wurde schnell größer. Handys wurden gezückt, ein paar Jugendliche feixten und zeigten mit dem Finger auf ihn. Das Ganze wuchs sich zu einem größeren Spektakel aus, etwas, das er gar nicht brauchen konnte.
„Geben Sie schon her“, knurrte er. Er nahm dem Polizisten das Messgerät aus der Hand und pustete hinein. Verblüfft betrachtete er das Messergebnis auf der Anzeige. 0,7 Promille, nie im Leben hätte er das gedacht. So allmählich machte ihn diese ganze Szene richtig wütend. Was sollte das eigentlich werden? Er hatte lediglich einen Blumenkübel umgenietet, und die machten ein Theater, als habe er jemand abgemurkst. Beleidigt zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche. „Ich zahle ja. Was kostet denn so ein Dings…?“
Aber der Polizist winkte ab. „Ich fürchte, damit ist es nicht getan. Das wird weitaus schlimmer. Mit diesem Alkoholpegel hätten Sie sich gar nicht erst ans Steuer setzen dürfen. Um eine Anzeige kommen Sie nicht herum.“
Erschüttert wandte sich Alfred an seinen Kumpel. „Sag doch auch mal was. Das kann doch alles nicht wahr sein!“
„Das ist ein guter Bekannter von mir. Können wir da nicht mal ein Auge zudrücken?“ Ernst sprach leise auf seinen jungen Kollegen ein, aber der winkte ab.
„Das ist wirklich zu heftig, da geht gar nichts. Außerdem, schau dir mal den Stau an. Das können wir nicht ignorieren, sonst kriegen wir selbst eins auf den Deckel.“
Auch der gutmütige Ernst musste einsehen, dass sein Kollege Recht hatte. Da war wirklich nichts zu machen.
Jetzt reichte es Alfred. Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zu seinem Bagger zurück. Aber als er einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt hatte, spürte er eine Hand schwer auf seine Schulter drücken.
„Was haben Sie denn vor? Ihnen ist doch wohl klar, dass Sie nicht weiterfahren dürfen.“
Mit einer unwirschen Bewegung schüttelte Alfred die Hand ab. Er riss die Kabinentür auf und zog den Zündschlüssel heraus. „Da! Fahr das Ding doch selber weg, du blöder Bulle!“
Er drückte dem verdutzten Beamten den Schlüssel in die Hand. Mit Fäusten und Schultern bahnte er sich rücksichtslos einen Weg durch die Reihen der Zuschauer und verschwand im Gewühl der Fußgängerzone.
Die beiden Polizisten schauten ihm nach.
„Das mit dem Bullen haben wir nicht gehört, klar?“ Das war das einzige, das Ernst noch für seinen alten Kumpel tun konnte. Ansonsten würden die Dinge ihren Lauf nehmen.
***
Es war das pure Glück. Mit siegessicherem Lächeln lauschte Gerd der aufgeregten Diskussion der Gemeinderatsmitglieder. Schneider saß stumm zwischen seinen Fraktionskollegen und starrte finster vor sich hin. Ein paar Leute waren aufgesprungen, schüttelten Gerd die Hand oder klopften ihm anerkennend auf die Schulter.
Im Getümmel ging es völlig unter, dass Schneider plötzlich sehr interessiert auf das Display seines Handys starrte. Seine Lippen bewegten sich, als er die Nachricht halblaut mitlas. Dann stand er auf und kam auf Gerd zu. Der bemerkte ihn erst, als er unmittelbar vor ihm stand. In Schneiders Gesicht war nichts mehr von Niederlage zu sehen, ganz im Gegenteil. Mit einer energischen Handbewegung verschaffte er sich Ruhe und wartete, bis ihn alle erwartungsvoll ansahen.
„Meine Herren, wir sind sogar jetzt schon die Nummer eins. Allerdings nur bei den Staumeldungen. Ein Bagger hat einen Unfall verursacht und legt nun die gesamte Landesstraße lahm. Der Stau reicht schon bis zur Autobahn. Und nun raten Sie mal, wem dieser Bagger gehört.“
In Gerds Ohren rauschte das Blut, den Rest bekam er nicht mehr mit. Das konnte nur Alfred sein. Dieser verdammte Idiot! Mit seiner Ungeduld und seinen Spontanaktionen hatte er alles zunichte gemacht.
Im Eiltempo wurde die Sitzung geschlossen. Man hatte jetzt Wichtigeres zu tun als Streusalz zu bestellen oder sich um einen Golfplatz zu kümmern. Die Verkehrssituation musste umgehend geklärt werden.