Читать книгу Herrengolf und andere Irrtümer - Rotraut Mielke - Страница 9
8.
ОглавлениеDirekt nach dem Mittagessen hatte Alfred das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen. Marion verkniff es sich schon seit langem, ihn nach seinen Plänen zu fragen. Er brauchte einfach seinen Auslauf, und den gönnte sie ihm auch. Außerdem kam es ihr gerade heute äußerst gelegen, dass er den Nachmittag offenbar aushäusig verbringen wollte. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Atelier. Zwei Tage lang hatte sie aufgeräumt und geputzt und daran gefeilt, eine Art kunstvolles Chaos zu arrangieren. Mit dem Ergebnis war sie sehr zufrieden. Sie zupfte an ihrem Hausanzug herum, den sie für den Anlass ausgewählt hatte. Attraktiv, aber nicht extravagant, das erschien ihr heute genau richtig. Als i-Tüpfelchen drapierte sie noch ihren weißen Malerkittel, den ein paar dekorative Farbspritzer zierten, über einer Ledercouch. Es war auch höchste Zeit, dass sie fertig wurde. Der Besuch würde gleich auf der Matte stehen.
Franz von Herschede hatte sich tatsächlich telefonisch bei ihr gemeldet. Er war in dem Sinne natürlich kein Besucher, sondern er wollte mit ihr arbeiten, wie er angekündigt hatte. Aber wenn der große Künstler sich schon die Zeit nahm, sie mit seiner Gegenwart zu beehren, wollte Marion natürlich einen möglichst guten Eindruck machen. Sie überprüfte gerade noch einmal den Sitz ihrer Frisur, als es klingelte. Mit einem erwartungsvollen Lächeln eilte zur Haustür.
„Herr von Herschede, wie schön. Bitte kommen Sie herein“, flötete sie und schloss die Tür hinter ihm. „Immer weiter geradeaus, mein Atelier ist ganz hinten.“ Während er vor ihr her lief, heftete sich ihr Blick auf die beige Cordhose, die er heute trug. Die war ein gewaltiger Abstieg zu dem hellblauen Anzug von neulich. Der Hintern hing auf halb acht, und der Stoff war auch schon reichlich abgewetzt. Darüber trug der Künstler ein verblichenes, kariertes Hemd. Viel Mühe hatte er sich nicht gegeben mit seiner Garderobe. Nun ja, er war schließlich Maler und kein Dressman.
Sie überholte ihn am Ende des Flures, um die Tür zu ihrem Reich zu öffnen. „Es ist nichts Besonderes, aber das Licht ist recht gut zum Malen“, erklärte sie mit gespielter Bescheidenheit.
Ihr Gast schaute sich um. Der Raum war von oben bis unten verglast, auch das Dach bestand aus Fensterscheiben. Erst letztes Jahr, zu ihrem runden Geburtstag, hatte Alfred ihrer Quengelei nachgegeben und das Atelier für sie ausgebaut. Und wenn er etwas machte, dann aber richtig, das musste sie ihm zugutehalten. Der Raum bot viel Licht und Platz zum Malen und war außerdem mit einer bequemen Couch und einer kleinen Bar inklusive Kühlschrank ausgestattet.
Die Sonne meinte es heute besonders gut, es war ziemlich warm hier drinnen. Marion betätigte einen Schalter, und mit einem leisen Surren glitten Rollos über das Glasdach und an den Fenstern herunter. Gleichzeitig sprang die Klimaanlage an, so dass man sofort einen angenehm kühlen Hauch spürte. Auf halber Höhe stoppe Marion die Rollos und warf einen Seitenblick auf Franz von Herschede. Aber der schien von den technischen Spielereien wenig beeindruckt. Er trat ans Fenster und betrachtete die makellose Rasenfläche, die von einer Blumenrabatte begrenzt wurde. Jetzt im Sommer stand alles in voller Blütenpracht.
Bisher hatte er noch keinen Ton gesagt. Marion wusste sein beharrliches Schweigen nicht recht zu deuten und wurde zusehends unsicherer. Normalerweise waren Besucher begeistert von ihrem Atelier und hielten sich mit lobenden Kommentaren nicht zurück.
„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich wirklich anrufen“, zirpte sie schließlich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
Er drehte sich zu ihr um. „Es passiert nicht oft, dass ich Schüler annehme. Aber in Ihrem Fall…“
Marion jubilierte innerlich. ‚Schüler‘ hatte er gesagt, das hieß eindeutig, dass er gewillt war, nicht nur ein einziges Mal ihre Werke zu begutachten, sondern ihr wirklich ernsthaft Unterricht zu erteilen. Von diesem Privileg hätte sie nie zu träumen gewagt. Und es bedeutete ganz sicher auch, dass sie tatsächlich Talent hatte. Er hatte das nicht bloß so dahin gesagt.
„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, fragte sie, jetzt wieder ganz souveräne Gastgeberin. Aber er ignorierte ihre Frage und stellte sich breitbeinig vor eine Staffelei, auf der ihr neuestes Werk auf seine Vollendung wartete. Es zeigte eine Landschaft, eindeutig südländisch, wie man an den Pinien und der rötlichen Erde erkennen konnte. Eine kleine Straße schlängelte sich über idyllische Hügel, die mit Bäumen und Lavendelfeldern überzogen waren. Kritisch kniff er die Augen zusammen.
„Die Perspektive stimmt nicht“, stellte er fest. „Und wie sind Sie bloß auf diese Farben gekommen?“
Marion sackte innerlich zusammen. „Die Farben, ja, wie soll ich sagen…“ stammelte sie.
„Eine Urlaubsimpression?“, half er nach.
Sie nickte, unfähig, weitere Erklärungen abzugeben.
Er drehte sich zu ihr um. Plötzlich hatte sein Blick etwas Stechendes, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Der Unterschied zwischen Kunst und Kitsch ist manchmal eine Gratwanderung“, dozierte er. „Aber das da ist eindeutig Kitsch der untersten Kategorie. So etwas“, mit einer verächtlichen Geste deutete er auf das Bild, „bekommen Sie in jedem Möbelhaus. Es wird hunderttausendmal gedruckt und an Leute ohne jeden Geschmack für zehn Euro verkauft.“ Mit einer Kopfbewegung schnickte er seine Haartolle aus dem Gesicht, eine Marotte, die ihr nun schon bekannt war.
Marion schossen Tränen in die Augen. Sie war durchaus auf Kritik gefasst gewesen, schließlich wollte sie ja lernen. Aber dieser Totalverriss war wie ein tödlicher Dolchstoß. Hinterrücks machte er jegliche Hoffnung in ihr zunichte. Schnell wandte sie sich ab. Die Blöße, sich schwach zu zeigen, wollte sie sich nicht geben. Sie holte eine Flasche Wein, die sie schon vorsorglich aufgemacht hatte, aus dem kleinen Kühlschrank und schenkte mit zitternden Händen ein Glas ein. Dabei biss sie sich kräftig auf die Zunge, um sich wieder in den Griff zu bekommen.
„Wein?“, bot sie mit ruhiger Stimme an.
Er griff nach dem Glas und trank einen Schluck. Aber dann stellte er es achtlos auf dem Bartresen ab, ging auf sie zu und packte sie unvermittelt an den Schultern. Sein Gesicht war unangenehm nah an ihrem, und es sah hart und kantig aus. Wie gelähmt starrte sie in seine Augen. Veilchenblau, eine sehr ungewöhnliche Farbe. Da schüttelte er sie ganz plötzlich durch, wild und fest, so dass ihre Zähne an einander schlugen und sie es mit der Angst zu tun bekam.
Aber bevor sie sich wehren oder schreien konnte, ließ er sie genauso schnell wieder los. Sie taumelte und wäre fast gestürzt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Mein Gott, was sollte das? Er benahm sich ja wie ein Irrer! Atemlos griff sie nach dem Weinglas und nahm einen Schluck. Erst dann bemerkte sie ihren Fehler.
„Entschuldigung, das ist ja Ihr Glas“, stammelte sie und wollte das Glas abstellen. Aber da ging er erneut zum Angriff über. Wieder packte er sie, dieses Mal am Genick, und schüttelte sie wie einen jungen Hund. Das Weinglas entglitt ihr und zerschellte mit einem hellen Klirren auf dem Marmorboden.
„Du bist steif wie ein Brett. Das müssen wir ändern. Wir werden den Vulkan wecken, der in dir schlummert.“ Seine Stimme klang rau und kehlig.
Ihr lief eine Gänsehaut den Rücken herunter. So etwas hatte sie ja noch nie erlebt! Dieser Mann überrannte sie förmlich, und sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. War er unverschämt und respektlos oder einfach nur impulsiv? Sie konnte sein bizarres Verhalten nicht einsortieren. Stumm und völlig eingeschüchtert starrte sie ihn an.
Er schien ihren inneren Kampf genau zu spüren. „Wehr dich nicht dagegen“, raunte er ihr ins Ohr. „Für uns Künstler gibt es keine Regeln und keine Tabus. Das musst du dir klar machen. Entspann dich, lass es fließen...“ Die Veilchenaugen verschleierten sich, und seine Lippen stülpten sich vor.
Das ging jetzt aber eindeutig zu weit. Sie schob den Mann mit aller Kraft von sich weg. „Aua! Lass mich sofort los! Was denkst du dir eigentlich?“ Ihr Nacken schmerzte, sie würde ganz bestimmt einen blauen Fleck bekommen.
Er trat zurück, und ein verächtlicher Zug lag um seinen Mund. „Du willst eine Künstlerin sein? Völlig blutleer und ohne jedes Temperament – kein Wunder, dass das Ergebnis so aussieht.“ Mit ausgestrecktem Zeigefinger schien er die gemalte Landschaft fast durchbohren zu wollen. „Neulich auf der Vernissage hatte ich einen völlig anderen Eindruck von dir.“
„Da war ich…“ Im letzten Moment fiel Marion ein, dass es wohl nicht besonders gut war, wenn sie ihren Totalausfall zugab. „…vielleicht etwas aufgedreht. Und im Übrigen habe ich Temperament. Und Leidenschaft.“ Sie strich energisch ihre ramponierte Kleidung glatt und funkelte ihn an. „Aber das heißt nicht, dass ich mich von dir so behandeln lasse.“
Er hob beide Hände hoch. „Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich wollte dir keineswegs zu nahe treten. Aber du hast Blockaden, und die müssen wir abbauen. Bevor du nicht ganz und gar locker bist, wirst du nie deinen Durchbruch haben.“ Damit drehte er sich um und ging auf die Tür zu.
Fassungslos starrte sie auf seinen Rücken. Hatte sie ihre Chance verspielt? Diese einmalige Gelegenheit, dass ihr ein großer Künstler auf die Sprünge half? Nein, das durfte nicht sein! „Ich werde lockerer werden, ganz bestimmt. Ich brauche nur ein wenig mehr Zeit. Und Übung.“ Ihre Stimme war immer leiser geworden.
Amüsiert drehte er sich wieder um und kam zurück. „Das hört sich schon besser an. Wenn du willst, können wir gleich damit anfangen. Es wäre doch schade um den schönen Wein…“
***
Es blieb noch eine knappe Stunde Zeit, bis Gerd zur Gemeinderatssitzung losfahren musste. Nach dem Essen hatte er sich für ein paar Minuten auf der Couch ausgestreckt, wie er es häufig tat. Aber ausgerechnet heute ritt Marlene der Teufel. Sie verspürte ein großes Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung. Es wäre doch gelacht, wenn sie ihren Mann nicht von einer langweiligen Sitzung abhalten konnte.
Im Badezimmerspiegel überprüfte sie noch einmal ihr Aussehen. Ihr Gesicht war auffallend blass. Dafür hatte es schon gereicht, sich gründlich abzuschminken, so völlig ohne künstliche Farben im Gesicht hatte ihr Mann sie eher selten gesehen. Das musste ihn doch einfach besorgt machen. Außerdem trug sie am helllichten Nachmittag ihren Bademantel, eine Nachlässigkeit, die sie sich sonst nie erlaubte.
„Der blöde Gemeinderat kann lange auf ihn warten. Heute hat er Wichtigeres zu tun“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Und dann zog sie alle Register.
Doch zu ihrer großen Enttäuschung bekam Gerd gar nicht mit, wie sie bühnenreif ins Wohnzimmer wankte. Theatralisch hielt sie eine Hand gegen ihre Stirn gepresst, während sie ihm die andere Hilfe suchend entgegenstreckte. „Mir geht es gar nicht gut“, jammerte sie, als sie neben der Couch angekommen war.
Gerd gab ein unwilliges Grunzen von sich. „Was ist denn los?“, fragte er nach, ohne die Augen aufzumachen.
„Ach, ich weiß auch nicht. Mir ist ganz elend, schon den ganzen Tag fühle ich mich so schwach. Und schwindlig ist mir auch.“
„Kein Wunder. Von dem, was du heute gegessen hast, wird ja nicht einmal ein Spatz satt. Mach dir ein ordentliches Wurstbrot, das stellt dich wieder auf die Beine.“
Das war nun nicht die Antwort, auf die sie gehofft hatte. „Ich könnte jetzt keinen Bissen runterkriegen“, hauchte sie und ließ sich in einen Sessel sinken.
Endlich reagierte er. Er schlug die Augen auf und setzte sich hin. Geistesabwesend wanderte sein Blick über ihr blasses Gesicht und den hauchdünnen Bademantel, der ihre Figur umspannte. „Vielleicht kriegst du eine Erkältung. Das würde mich nicht wundern, immer diese kurzen Röcke und die dünnen Blüschen. Am besten packst du dich ins Bett und schläfst ein paar Stunden. Dann geht es dir bestimmt besser.“
Er hörte sich ja an wie ihre Mutter! Irgendwie lief das Ganze ganz und gar nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. „Ach, das ist dir doch im Grunde völlig egal. Ich sehe doch, dass du mit deinen Gedanken ganz woanders bist.“ Ihre Enttäuschung war nicht zu überhören.
Ungeduldig schaute Gerd auf seine Armbanduhr. Keine Sekunde lang glaubte er daran, dass es seiner Frau wirklich nicht gut ging. Dass sie ausgerechnet heute so ein Theater vollführte, passte ihm überhaupt nicht. Er musste sich konzentrieren. Von dieser Gemeinderatssitzung hing so viel ab.
Es ist schon ein Kreuz mit den Frauen, dachte er. Wenn sie einmal nicht die erste Geige spielten, konnten sie richtig unangenehm werden. Aber es war besser, auf sie einzugehen, bevor die Situation noch eskalierte. Einen Ehekrach konnte er jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Leise seufzend stand er auf und beugte sich über seine Frau, die jetzt wie ein nasser Sack im Sessel hing. Er streichelte ihr Gesicht und tätschelte ihr beruhigend die Wange. „Ruh dich aus. Ich bin in zwei Stunden wieder da, und dann kümmere ich mich um dich. Versprochen. Nur im Moment geht es nicht. Du weißt doch, dass ich jetzt los muss.“ Mehr konnte er nun wirklich nicht für sie tun.
Als die Haustür kurz darauf hinter ihm zuklappte, fuhr Marlene mit einem Wutschrei aus dem Sessel hoch. „Das wirst du mir büßen, mein Lieber!“, schrie sie zornbebend. Jetzt fühlte sie sich wirklich elend. Mit schleppenden Schritten schaffte sie es bis ins Schlafzimmer, wo sie sich auf das Bett fallen ließ. So fühlte es sich also an, wenn eine Ehe am Ende war. Schluchzend zog sie die Bettdecke über sich und rollte sich zusammen. Vielleicht sollte sie wirklich eine Weile schlafen. Und danach würde sie mit neuer Kraft überlegen, wie es weiterging mit ihr und Gerd.