Читать книгу Herrengolf und andere Irrtümer - Rotraut Mielke - Страница 7
6.
ОглавлениеVon außen sah das Reihenhaus völlig unauffällig aus und unterschied sich in nichts von den Nachbarn rechts und links. Aber Annelie wusste nur zu genau, was sie hinter der Tür erwartete. Da war eine andere Welt, düster und aufregend zugleich, von der bestimmt kaum jemand etwas ahnte. Sie versuchte, sich zu wappnen und atmete ein paarmal tief ein und aus, bevor sie auf den Klingelknopf drückte. Es war ein unerhörter Glücksfall, dass sie sofort einen Termin bekommen hatte. Normalerweise dauerte es lange, bis Madame Solange eine Audienz gewährte.
Endlich öffnete sich die Tür. Obwohl es bereits das dritte Mal war, dass Annelie hierher kam, konnte sie ihr Erschrecken wieder einmal nicht verbergen. Die Seherin war eine Frau unbestimmten Alters und, soweit man überhaupt etwas von ihr erkennen konnte, klein und dürr wie ein Stecken. Ihre Vogelknochen stachen überall heraus und gaben ihr fast das Aussehen einer vertrockneten Mumie. Von Kopf bis Fuß war sie in eine Art schwarzen Kaftan gehüllt, dessen große Kapuze nur wenig von ihrem Gesicht frei gab. Annelie erhaschte einen kurzen Blick auf eine hakig gebogene Nase, die aussah wie ein Geierschnabel, und tief liegende, pechschwarze Augen. Finger mit langen, blutroten Fingernägeln krallten nach Annelis Arm und zogen sie eilends ins Haus hinein. Durch den Stoff ihres leichten Blazers spürte sie eine eisige Kälte, die von der Berührung ausging. Sie konnte nichts dagegen tun, diese Madame Solange war ihr schrecklich unheimlich. Aber sie war nun einmal die Beste, und so nahm Annelie Grusel und Angst gerne in Kauf.
Der Salon der in gewissen Kreisen sehr bekannten Kartenlegerin war ganz in Schwarz gehalten. Nirgends drang ein Lichtstrahl herein, offenbar waren die Fenster, falls es hier überhaupt welche gab, hermetisch abgedichtet worden. Die mit Stoff bespannten Wände und der dunkle Fußboden verschwammen zu einem dimensionslosen Loch, das jegliche Farbe verschluckte und einem das Gefühl gab, sich in einer Gruft zu befinden. Die Beleuchtung war äußerst spärlich, und Annelies Augen brauchten einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Angespannt nahm sie auf dem niedrigen Besucherstuhl Platz und verharrte einen Moment regungslos, bevor sie es wagte, sich umzuschauen.
An der Wand vor sich sah sie ein hohes Regal mit offensichtlich sehr alten Büchern. Zwischen den Reihen der halb verblassten Titel lagen geheimnisvolle Gegenstände, deren Bedeutung sich ihr völlig entzog. Wie bei jedem ihrer Besuche überlegte sie auch heute wieder schaudernd, ob der Totenschädel, der sie aus augenlosen Höhlen anstarrte, tatsächlich echt war. Ganz oben auf dem Regal nahm eine Glaspyramide den zentralen Platz ein. Aus ihrer Spitze fiel ein Lichtstrahl an die Decke, die mit geschliffenen Glaskristallen übersät war. Es mochte ein einfacher Effekt der Lichtbrechung sein, aber im gesamten oberen Teil des Raumes wogte und tanzte ein wahres Farbenmeer und blieb wie von einem unmerklichen Lufthauch getrieben ständig in Bewegung. Mit offenem Mund starrte Annelie hinauf. Ihr wurde ganz schwindlig, aber sie konnte ihren Blick einfach nicht abwenden.
Erst als ein Stuhl scharrte, zuckte sie zusammen. Madame Solange hatte ihr gegenüber hinter einem schwarzen, glänzenden Tisch Platz genommen. Von ihrer niedrigen Position aus erschien Annelie die Seherin jetzt viel größer als noch eben an der Haustür. Mit einem leisen Klicken erwachte eine mit einem schwarzen Tuch verhängte Lampe auf dem Tisch zu schwachem Leben, und von einer unsichtbaren Quelle waberte ein exotischer Geruch heran. Annelie blähte ihre Nasenlöcher auf und spürte, wie die Hektik allmählich von ihr abfiel.
Madame Solange hatte ihr gleich beim ersten Besuch erklärt, dass sich hier, genau in diesem Zimmer, einer der äußerst seltenen Knotenpunkte der transzendentalen Halbwellenachse befand. Allein wegen dieses glücklichen Umstandes hatte sie das Haus ausgewählt. Denn so ein Knotenpunkt war eine Schutzzone, eine Art Kokon, der den Hilfesuchenden umschloss, so dass nichts Böses ihn erreichen konnte.
Während sie weiter den fremdartigen Geruch inhalierte, glitt Annelie in einen Zustand absoluter Gleichgültigkeit hinüber. Das drohende Unheil, das sie vor kurzem noch in schiere Panik versetzt hatte, schien ihr plötzlich gar nicht mehr so tragisch. Überhaupt war es doch ziemlich Wurscht, was das Universum vorhatte. Machen konnte man ja doch nichts gegen sein Schicksal.
Die Seherin zauberte ein Päckchen Tarotkarten hervor und begann zu mischen. Dabei murmelte sie unverständliche Worte vor sich hin. Plötzlich hob sie den Kopf, und ihre Vogelaugen durchbohrten Annelie mit scharfem Blick.
„Sie zweifeln. Leugnen Sie nicht, ich spüre es deutlich an Ihren Schwingungen.“
Annelie blinzelte erschrocken. „Aber nein!“, protestierte sie. „Ich bin eine Gläubige, ich glaube fest an die Macht des Universums.“
„Und an mich?“ Madame Solange forderte absolute Ergebenheit.
Annelie nickte heftig. „Natürlich. Sonst wäre ich doch nicht hier und würd‘ nicht so viel Geld…“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
Aber es war zu spät, der Schaden war schon angerichtet. Madame Solange würdige sie keines Blickes mehr. Sie schob die Karten zu einem Stapel zusammen, auf den sie ihre gefalteten Hände legte. Und dann blieb sie einfach regungslos sitzen. Annelie wartete, dass sich wieder etwas tat, aber die Seherin schien sich in Stein verwandelt zu haben. Verzweifelt zermarterte sich Annelie das Gehirn, womit sie ihre unüberlegten Worte wieder gut machen könnte. Es half nichts, mit zitternden Fingern öffnete sie ihre Handtasche und zog aus dem Portemonnaie den letzten Hunderteuroschein heraus, den sie bei sich hatte. Vorsichtig legte sie ihn auf die äußerste Ecke des Tisches. Dann beugte sie demütig den Kopf.
Es schien das Richtige zu sein, denn nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich wieder Bewegung in die Hände, und das Mischen ging weiter. Madame Solange hielt ihr die aufgefächerten Karten hin.
„Konzentrieren Sie sich. Wählen Sie genau drei Karten, nicht mehr und nicht weniger. Seien Sie dabei bestimmt in Ihrer Auswahl und zögern Sie nicht.“
Vor Aufregung bebte Annelie wie Espenlaub. In rascher Folge zog sie die Karten heraus und gab sie der Seherin in die fordernd ausgestreckte Krallenhand. Die legte sie mit der Bildseite nach unten auf den Tisch, zog die Kapuze nun vollends über ihren Kopf und beugte sich weit nach unten. Unwillkürlich musste Annelie an ein Dampfbad denken. Wenn Walter sich eine Erkältung eingefangen hatte, bereitete sie ihm immer eine Schüssel mit heißem Wasser und Kamille, über die er dann seinen Kopf hängte, um zu inhalieren. Aber wohin verstiegen sich nur ihre Gedanken? Schnell verbannte sie das abwegige Bild aus ihrem Kopf. Nicht, dass Madame Solange wieder ärgerlich wurde! Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass alles, was sie dachte, in Leuchtbuchstaben an die Decke geschrieben wurde. Schnell warf sie einen verstohlenen Blick nach oben. Aber da stand nirgendwo auch nur ein Wort, der Farbrausch zog unbeirrt weiter seine Bahnen.
Feierlich drehte die Seherin jetzt eine Karte nach der anderen um. Annelie rückte vor auf die Stuhlkante. Mit einer energischen Bewegung nahm Madame Solange plötzlich ihre Kapuze ab. Das hatte sie noch nie getan, und Annelie war völlig verblüfft. Fast hätte sie aufgeschrien, im letzten Moment konnte sie sich noch den Mund zu halten. Dünne Pergamenthaut, die mit unzähligen dunklen Punkten bedeckt war, umspannte einen leibhaftigen Totenschädel, aus dem nur diese Kohleaugen herausstachen. Kein einziges Härchen stand mehr auf dem Kopf, dessen Nacktheit jetzt nur noch notdürftig von einem hauchdünnen, nachtblauen Tuch bedeckt wurde. Madame Solange hatte eindeutig etwas von einem Marabu.
Plötzlich verspürte Annelie den starken Drang zu flüchten. War dieses merkwürdige Wesen, das da vor ihr saß, überhaupt ein Mensch? Aber Flucht war das Verkehrteste, das sie tun konnte. Sie zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben und weiter zu atmen.
„Es ist ernst.“ Unheilvoll schwangen die Worte der Seherin im Raum.
Panisch überlegte Annelie, was damit gemeint sein konnte. Drohte ihr etwas Böses, würde ihr ein Unglück widerfahren? Oder ging es etwa um Walter? „Ist es so schlimm?“, fragte sie eingeschüchtert.
Die Seherin bedeutete ihr, still zu sein. „Wir können es bekämpfen.“
Das hörte sich schon besser an. Annelie erlaubte sich ein kleines Aufatmen.
„Aber Sie müssen mir vertrauen und sich genau an meine Anweisungen halten.“
Komm in mein Netz und lass uns spielen, sagte die Spinne zur Fliege. Aber Annelie konnte sich der Ausstrahlung dieser Frau einfach nicht entziehen. Sie nickte langsam. „Ich hab’s doch gewusst, dass etwas Ungutes auf mich zukommt. Die Josefa! Und es stand ja auch im ‚Sterne im Juni.‘“
Madame Solange zog verächtlich eine Augenbraue nach oben, offenbar hielt sie nichts von diesem Magazin. „Steht dort auch, was Sie tun müssen?“ Ein starrer Blick durchbohrte Annelie.
„N-nein“, stotterte die und erntete dafür ein zynisches Lächeln.
„Das sind Scharlatane. Es war völlig richtig, dass Sie zu mir gekommen sind.“ Mit einer energischen Bewegung zog Madame Solange die Kapuze wieder über ihren Kopf, wofür ihr Annelie richtig dankbar war.
„Es wird schwer werden. Sie dürfen nicht wanken und nicht weichen, sonst überkommt Sie das Unheil.“
Annelies Unterkiefer spannte sich an. Sie war wild entschlossen, alles zu tun, um das große Unglück von sich und ihrem Walter abzuwenden. Energisch streifte sie die Ärmel ihres Blazers hoch.
„Sagen Sie mir genau, was ich machen soll. Ich bin zu allem bereit.“
***
‚Flirt-Alarm‘ hieß die Internetseite, auf die es Marlene bereits nach kurzer Sucherei verschlagen hatte. Interessiert betrachtete sie die Fotos. Attraktive, gut gelaunte Menschen waren dort zu sehen, die sich offensichtlich blendend miteinander verstanden. Pärchen, die sich sinnliche Blicke zuwarfen oder sich im Arm hielten, ja, genau das war es, was sie suchte. Sofort stand für sie fest, dass sie sich bei diesem Internetportal anmelden würde. Und dann würde sie dafür sorgen, dass Gerd es auch ganz sicher mitbekam.
Es konnte nicht angehen, dass er sie völlig links liegen ließ. Wenn sie bedachte, was sie für ihr gutes Aussehen so alles auf sich nahm, war das eine glatte Unverschämtheit. Im Fitness-Studio war sie Stammgast, und außer Zumba und Beckenbodengymnastik kamen noch Aqua-Yoga und ihre Joggingrunde hinzu, die sie mindestens dreimal pro Woche absolvierte. Friseur und Kosmetikerin kosteten ein kleines Vermögen. Dafür sparte sie am Essen, zumindest bei dem was ihr über die Lippen kam. Kaum ein Vögelchen konnte man damit am Leben halten! Und wofür das alles?
Nervös trommelte sie mit spitzen Fingernägeln auf der Tischoberfläche herum, während sie auf der Homepage des Flirt-Portals herumklickte. Plötzlich entdeckte sie das Foto eines Mannes, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Er sah blendend aus, ein südländischer Typ mit schwarzen Haaren, dem man das Temperament sofort ansah. Der würde bestimmt eine gut aussehende Frau zu schätzen wissen. Marlenes Augen klebten förmlich auf diesem Gesicht. Mit fliegenden Fingern suchte sie nach näheren Informationen und triumphierte, als sie fündig wurde. Da stand sein Name. „Gianni“, murmelte sie und spürte, wie sie ein wohliger Schauer überlief. Es klang aufregend, irgendwie nach Abenteuer und Leidenschaft. Sie warf dem Foto eine Kusshand zu und kicherte albern wie ein Teenager. Der war genau der Richtige, um Gerd gehörig die Hölle heiß zu machen.
***
Marions Gesicht glühte vor Aufregung. Der schockierte Blick, den ihr die Galeristin zuwarf, fiel ihr nicht auf. Sie bemerkte auch nicht, dass ein paar Leute die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Aber selbst wenn sie es bemerkt hätte, wäre sie davon überzeugt gewesen, dass das nur purer Neid war. Denn Franz von Herschede, der Meister persönlich, war von ihrer Malerei geradezu begeistert. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
Vom ersten Moment an war die Vernissage in der Galerie am Marktplatz für sie ein voller Erfolg gewesen. Wie sie schon befürchtet hatte, war Alfred nicht dazu zu bewegen gewesen, sie zu begleiten. Nach stundenlangen Überlegungen hatte Marion sich für einen dunkelgrauen Hosenanzug entschieden, den sie mit einem farbenfrohen Seidentop in kühner Schnittführung kombinierte. Der Ausschnitt war vielleicht etwas tief für den Vormittag, aber die Jacke kaschierte allzu tiefe Einblicke. Jedenfalls redete Marion sich das erfolgreich ein. Ihre Aufregung hatte sie bereits zu Hause mit einigen Gläsern Sekt bekämpft. Die Kellner, die den Gästen Getränke anboten, hatten sie dann förmlich bedrängt, ihnen das eine oder andere Glas abzunehmen.
Als Franz von Herschede endlich mit der ihm gebührenden Verspätung eingetroffen war, hatte ihr Alkoholpegel einen Stand erreicht, in dem ihr selbst die hochhackigen, äußerst unbequemen Pumps nicht das kleinste Bisschen mehr ausmachten. Die Galeristin hatte sie dem Ehrengast vorgestellt, und dabei war sie dummerweise ein wenig nach vorn gekippt, geradewegs in seine Arme.
Er war groß und schlank und ganz in hellblauen Samt gekleidet. Solch einen Anzug hatte Marion noch nie gesehen. Überhaupt war sie entzückt von dem unkonventionellen Aussehen des Künstlers. Aus dem Ausschnitt seines weißen Hemdes lugte ein geblümter Schal hervor, was ihm genau das richtige Quäntchen Nonkonformismus verlieh. Seine blauen Augen lachten sie an, und er schnickte mit einer lässigen Kopfbewegung eine blonde Strähne seiner bis auf die Schultern reichenden Haarpracht aus dem Gesicht. Ihr kleines Missgeschick tat er ab wie nichts. Er duftete intensiv nach einem teuren Aftershave, und ihr war schlagartig sehr warm geworden, so dass sie ihre Jacke aufgeknöpft hatte. Ab diesem Zeitpunkt hatte Franz von Herschede sie nicht mehr aus den Augen gelassen.
Es war das reinste Kinderspiel gewesen, das Gespräch auf ihre mitgebrachten Bilder zu lenken, und er war ganz begierig darauf gewesen, ihre Arbeiten zu sehen. Atemlos hatte sie auf sein Urteil gewartet, das er schnell und schnörkellos gefällt hatte. In ihrer Aufregung hatte sie nicht alles mitbekommen, aber ‚sehr begabt‘ und ‚Ausnahmetalent‘ klangen immer noch wie Sirenengesang in ihren Ohren.
„Wollen wir noch irgendwo etwas trinken gehen?“ Franz von Herschede hatte ihren Ellenbogen ergriffen und bugsierte sie aus dem Kreis der Besucher heraus in eine ruhige Ecke. Lässig stützte er rechts und links von ihrem Kopf seine Hände an die Wand und lächelte sie an.
Marion spürte, wie ihre Knie weich wurden. Aber urplötzlich stieg eine Welle der Übelkeit in ihr hoch. Der Sekt bahnte sich seinen Weg vom Magen hoch in die Speiseröhre und suchte einen Ausgang. Panisch öffnete sie ihre Handtasche und zerrte eine Visitenkarte heraus.
„Ich muss jetzt leider gehen“, stieß sie hervor. „Vielleicht ein andermal.“
Sie drückte ihm das Kärtchen in die Hand und schlüpfte schnell unter seinen Armen hindurch. Mit dem letzten Rest an Selbstbeherrschung stöckelte sie auf den Ausgang zu.
„Ich melde mich, meine unbekannte Schöne“, hörte sie ihn rufen und drehte sich noch einmal zu einem, wie sie hoffte, graziösen Winken um.
Draußen traf sie die frische Luft wie ein Faustschlag in den Magen. Alles drehte sich vor ihren Augen. Das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes war für Stilettos völlig ungeeignet. Sie riss sich die Schuhe von den Füßen und hastete barfuß weiter. Nur rasch nach Hause, bevor noch ein Unglück passierte!