Читать книгу Evolution 5.0 - Selektion - Roy O'Finnigan - Страница 13
10. Flucht
Оглавление»Mit diesen Erstsemestern kann ich nicht arbeiten!«, beschwert sich Sam. »Jeder Grundschüler kann mit der Genschere CRISPR/Cas im Genom herumschnipseln. Ich brauche Profis.«
»Man hat mir versichert, dass das die besten Biologen Europas sind.«, erwidert Schmidt ebenso bestimmt.
»Ach? Wieso versteht dann keiner von denen, um was es hier geht? Wenn ich von Histon-Deazetylase-Inhibitoren spreche, verwechseln sie sie mit Histondemethylasen. Wenn ich ihnen sage, sie sollen eine nichtkodierende RNA bauen, um die Genaktivität im Neuron zu steuern, dann nehmen sie dazu eine Mikro-RNA, die sie an eine Boten-RNA heften. Inzwischen sollte jeder wissen, dass man dazu lange RNA-Ketten braucht.«
Schmidt zuckt mit den Schultern. Ihre Lippen sind dünn wie Striche.
»Wie Sie das den Leuten erklären, ist nicht mein Problem.«
»Gut. Aber dann dürfen Sie mich auch nicht anpöbeln, weil wir keine Fortschritte machen. Seit einer Woche muss ich mit diesen Erbgutklempnern zusammenarbeiten. Das sind doch nichts weiter als Nukleotidbasenschubser. Denen muss man ja sogar erklären, wie DNA-Methylierung zur epigenetischen Regulierung von Neuroprozessen eingesetzt werden kann.«
Die Agentin und Sam starren sich an. Schmidt schaut zuerst weg.
»Also gut Herr Lee, was brauchen Sie?«
»Ich will mit Paul und Vilca zusammenarbeiten. Die kennen das Projekt und sind Experten auf ihrem Spezialgebiet. Nur mit ihnen kann ich die Symbots rekonstruieren.«
Schmidt starrt ihn eine Weile ausdruckslos an.
»Herrn Berger und Frau Tomaček wird erlaubt, an dem Projekt mitzuarbeiten. Aber nur im Holovers.«
Das ist weniger, als er gehofft hatte, aber eine deutliche Verbesserung. Und sie kommt gerade rechtzeitig. Die Biologen, die der Geheimdienst besorgte, sind in Wahrheit ausgezeichnet. Sam musste alle Register ziehen, um sie lange genug in die Irre zu führen, damit Schmidt nachgibt und Vilca und Paul mitarbeiten lässt.
Seit der Festnahme nach dem Galadinner hat er seine Freundin nicht mehr im Arm gehalten. Er sehnt sich so sehr nach ihr. Endlich wird er sie wiedersehen. Wenn auch nur im Holovers.
Kurz darauf ist es soweit. Sofort, als er die üppigen Locken sieht, die ihr fast bis zur Taille über den Rücken herabfallen, wird ihm schmerzlich bewusst, dass er lediglich ihrem Avatar gegenübersteht. Er verdrängt das schlechte Gefühl, breitet die Arme aus und geht auf sie zu. Doch Phire weicht zurück und vermeidet seinen Blick.
»Phire, was ist los mit dir?«, fragt er irritiert.
»Nichts, es ist alles in Ordnung.«, sagt sie distanziert zu ihm, fast wie eine Fremde.
»Geht es dir gut?«, fragt Cyclone besorgt.
»Ja.«
So geht das noch eine Weile, bis Cyclone schließlich frustriert aufgibt. Wieso ist seine Freundin so abweisend? Er kann es sich nicht erklären. Ist es wegen der Drohung des Geheimdienstes in ihrem Gehirn nach reproduktiven Symbots zu suchen? Das kann es nicht sein. Immerhin hat er sie davor gerettet. Ist es wegen der Haare?
Cyclone macht sich Sorgen. Er muss unbedingt herausfinden, was mit ihr los ist. Hinter dem perfekt gestalteten Avatar kann sich alles Mögliche verbergen. Bis hin zu dem schrecklichen Gedanken, dass er gar nicht von Vilca gesteuert wird. Der einzige Weg, sich ihres wahren Zustands zu versichern, besteht darin, sie im wirklichen Leben zu treffen.
Cyclone lässt sich nicht anmerken, wie er zunehmend unter ihrer Emotionslosigkeit leidet. Trotz seiner Beschwerden erlaubt der Geheimdienst ihm, mit Paul und Vilca nur im Holovers zusammenzuarbeiten. Schließlich hält er es nicht mehr aus und konfrontiert Schmidt.
»Sie können sie nicht persönlich treffen.«, keift sie los. »Das ist ein Befehl von General Reikonnen. Frau Tomaček ist unsere Garantie, dass Sie nicht auf dumme Gedanken kommen.«
Sam setzt sich, verschränkt die Arme und reckt das Kinn vor. Schmidts Büro ist genauso beamtenspießermäßig eingerichtet wie die Frau auftritt. Sie kultiviert sogar einen Gummibaum.
»Das ist mir egal. Frau Tomaček ist meine Lebensgefährtin und ich habe ein Recht darauf sie persönlich zu treffen wann immer ich will.«
»Sie irren sich!«, korrigiert Schmidt, dünnlippig wie immer. »Welche Rechte Sie haben, bestimmen wir. Es ist nicht nötig, dass sie Frau Tomaček persönlich treffen.«
»Doch! Denn ich werde auf keinen Fall weiterarbeiten, bevor ich mich nicht über ihren wahren Zustand vergewissert habe.«
»Wenn sie nicht kooperieren, werden wir Sie zwingen. Außerdem habe ich nicht den Eindruck, dass Frau Tomaček gerade darauf erpicht ist, sie zu sehen.«
»Ihre unmenschlichen Methoden kenne ich schon.«, entgegnet Sam, die Stichelei ignorierend. »Ich weiß, dass es Ihnen Spaß macht, andere Menschen zu quälen. Aber solange ich nicht weiterarbeite, gerät das Projekt in Verzug. Ich bin schon gespannt, wie Sie das General Reikonnen erklären.«
Schmidts Gesichtsausdruck lässt keine Zweifel darüber zu, was sie am liebsten mit ihm machen würde. Sam zeigt sich unbeeindruckt. Mit verschränkten Armen starrt er zurück. Auch dieses Blickemessen gewinnt Sam.
Kurz darauf steht er vor einer Türe, von der er annimmt, dass dahinter Vilca auf ihn wartet.
»Sechzig Minuten. Keine Sekunde länger.«, kommandiert Schmidt.
»Passen Sie auf, dass uns niemand stört.«, verabschiedet sich Sam grinsend.
Dann tritt er schnell ein, bevor die Aufpasserin es sich noch einmal anders überlegt. Dahinter erwartet ihn ein kurzer Gang. Offensichtlich hat man Vilca ein kleines Apartment zugewiesen. Weder in der Küche noch in dem kleinen Wohnraum ist jemand zu sehen. Die Schlafzimmertür steht einen Spalt offen. Gerade als er sie aufstoßen will, wird sie geöffnet.
»Sam. Endlich!«, haucht Vilca und stürzt sich auf ihn. Sofort beginnt sie, ihm die Kleider vom Leib zu reißen.
»Sternchen…, hey…, warte, die Knöpfe kann man auch auf … gut, abreißen geht auch.«
Er ist so überrascht, dass er gar nicht weiß, wie er reagieren soll. So ungezähmt hat er seine Freundin noch nie erlebt. Fasziniert verfolgt er, wie geschickt sie gleichzeitig sich und ihn entkleidet. Ihr Schädel ist noch immer kahlrasiert. Sam will eine Bemerkung darüber machen, dass er das sexy findet, aber sie lässt ihn nicht zu Wort kommen, sondern schubst ihn aufs Bett und setzt sich rittlings auf ihn.
Sam weiß immer noch nicht, wie ihm geschieht. Nachdem Vilca ihn tagelang wie einen Fremden behandelt hat, hat sie jetzt offensichtlich nur ein Ziel. So schnell wie möglich zum Höhepunkt zu kommen. »Sternchen, was …«
»Schhhhh!«, macht sie und legt ihm die Hand auf den Mund.
Dann passiert, was passieren muss. Auf dem Gipfel ihrer ersten Begegnung nach der Trennung schwelgen sie im Rausch ihrer gemeinsamen Empfindungen. Sam ist überrascht, wie sehr seine Freundin ihren Emotionen freien Lauf lässt. Nach den ersten Erfahrungen mit vereinigten Gefühlen hatten sie beschlossen, die gegenseitige Privatsphäre zu respektieren. Nach vielen Fehlversuchen hatten sie einen Trick gefunden, das Teilen zu unterbinden. Sam hat ihn aus Gewohnheit angewandt.
Nachdem ihn Vilca so mit ihren Empfindungen überfallen hat, lässt er seinen nun auch freien Lauf. Sie vermischen sich und kurz darauf ist es ihm unmöglich zu unterscheiden, was seine eigenen sind und welche die seiner Liebsten. Die Vielfalt verwirrt ihn. Vilca muss eine ganze Reihe widersprüchlicher Emotionen beigesteuert haben. Er spürt in rascher Folge Angst, Liebe, Schmerz, Freude, Sehnsucht und den Drang, dass etwas Wichtiges gesagt werden muss.
Nach einer Weile bemerkt er eine Veränderung in der Verbindung. Vilca versucht, die Emotionen zurückzudrängen. Nach mehreren Fehlversuchen hilft Sam mit. Gemeinsam gelingt es ihnen. Schließlich formt sich eine Vorstellung in seinem Kopf. Sam findet es eigenartig, wie sich ihre Gedanken in seinem Geist darstellen. Es ist nicht, wie etwas hören oder fühlen, sondern so wie mit seinen Gedanken. Aber sie benutzt ganz andere Bilder und Assoziationen. Einerseits verwirrt ihn das, andererseits ist es so aber auch leichter für ihn, ihre Gedanken von seinen eigenen zu unterscheiden.
»Sam, wir müssen fliehen. Uns bleiben nur noch vier Tage. Sie wollen, dass ich für die Regierung auf Tournee gehe. Sie haben mich für ihr Brot-und-Spiele-Programm rekrutiert. Ich fürchte, dass wir uns dann nie mehr wiedersehen. Du musst einen Fluchtweg für uns finden.«
»Nun mal langsam.«, versucht er sie zu beruhigen. »Von was für einem Programm sprichst du denn?«
»Na, du weißt schon. Sie wollen die Bevölkerung mit einem Unterhaltungsprogramm von den alltäglichen Sorgen und Problemen ablenken. In ganz Europa werden im Moment Shows aus dem Boden gestampft. Koste es, was es wolle …«
Sam liest ihre Gedanken wie ein offenes Buch. Allerdings sind sie völlig durcheinander. Auf ihn strömt eine Flut von Bildern, Assoziationen und Videoschnipseln ein, die er wie ein Puzzle in die richtige Reihenfolge bringen muss. Nach einer Weile versteht er. Der Geheimdienst hat vor sie zu trennen. Vilca will unbedingt fliehen, aber nur mit ihm zusammen. Die Überwachung in der Geheimdienstzentrale ist so durchdringend und umfassend, dass sie nur den Weg über die Gedankenübertragung für sicher genug hält. Dazu muss sie sich jedoch in der realen Welt mit ihm treffen. Aber man hatte alle ihre Bitten und Forderungen abgelehnt.
Als sie dann in sein Team aufgenommen wurde, konnte sie ihn zwar sehen, ihm aber im Holovers keine Nachricht zukommen lassen, die nicht abhörbar ist. Dann kam ihr die Idee die Unnahbare zu spielen. Sie verließ sich darauf, dass ihn seine Sehnsucht früher oder später übermannen und er einen Weg für ein Treffen in der realen Welt finden würde. Es war schwer für sie, ihn wie einen Fremden zu behandeln. Vilca ging so weit, wie sie konnte und bezahlte dafür einen hohen Preis. Es hat ihr sehr weh getan, ihn so leiden zu sehen.
»Wie stellst du dir das vor? Ich werde Tag und Nacht überwacht. Sowohl in der realen Welt als auch im Cyberspace.«
»Du musst eine Lösung finden.«, denkt sie verzweifelt. »Ich habe ein Passwort ausgespäht, das eine Verbindung nach draußen ins Internet erlaubt, die nicht kontrolliert wird. Ich kann damit nichts anfangen, weil ich nicht genug Zugriffsrechte im Holovers habe. Du hast eine höhere Einstufung. Ich hoffe, dass es reicht.«
Sam ist irritiert von den Gefühlen, die mit diesem Gedanken verbunden sind. Um an das Passwort zu kommen, hat sie ihren ganzen femininen Charme ausgespielt. Das Beunruhigende daran ist, dass sie fast nichts dabei empfunden hat. Sie setzte ihre weiblichen Reize wie ein beliebiges Werkzeug ein.
»Das müsste klappen. Damit komme ich zumindest an meinen Cyclone Avatar und meine gesamten Hilfsprogramme heran, die ich in der Cloud versteckt habe. Was ist mit Urs und Aya?«
»Ich sehe sie täglich. Ich konnte den Regierungsbeauftragten überzeugen, dass beide mit auf Tournee gehen. Urs als Background-Tänzer und Aya managt die Logistik.«
Sam grinst.
»Haha, Urs geschmeidig wie ein Wiesel auf der Bühne.«
»Hihihi.« Vilca muss in Gedanken schallend über das Bild lachen, das Sam in diesem Zusammenhang in den Sinn kommt. Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung entspannt sie sich etwas.
»Weißt du, wo unsere Sachen sind?«, kommt Sam schnell wieder auf das Wesentliche zurück. »Ohne sie werden wir nicht weit kommen.«
»Ja. Sie sind in einem Lagerraum im zweiten Untergeschoss. Aya hat es herausgefunden.«
»Wir brauchen einen Plan. Wo sollen wir denn hin?«
»Ganz egal. Einfach weg …«
Wieder übermannen Vilca die Emotionen. Es dauert eine Weile, bis sie sich wieder im Griff hat. »Wir müssen sehen, dass wir aus Europa herauskommen. Nach allem, was ich gehört habe, ist die staatliche Kontrolle in der Sahara-Region nicht so ausgeprägt.«
»Sternchen!«, schüttelt Sam in Gedanken den Kopf. »Was sollen wir denn in der Wüste? Möchtest du den Rest deines Lebens als Nomadin verbringen?«
»Solange ich mit dir zusammen bin, ist mir alles andere egal.« Der Strom von Gefühlen, der mit diesem Gedanken einhergeht, überwältigt Sam. Nur widerwillig kämpfen beide gegen die Strömung an, die sie auf eine Klippe zutreibt und droht, sie in die unergründliche Tiefe eines riesigen Wasserfalls aus süßen Verlockungen zu reißen, um sich dort für immer zu verlieren. Sam ist der Erste, der wieder einen klaren Kopf bekommt.
»Ich habe da eine Idee.«
Fasziniert verfolgt Vilca, wie sich ein Plan in seinem Denkorgan entwickelt. Dabei stellt sie fest, dass das Gehirn ihres Freundes ganz anders funktioniert als ihres. Gemeinsam arbeiten sie die Details des Plans aus.
»Das ist verrückt!«, denkt Vilca. »Und genial.«
»Es kann klappen.«
Sam braucht nichts weiter zu erklären. Vilca kann die Chancen und Risiken aus der Sicht ihres Geliebten selbst in seinen Gedanken lesen.
»Ja. So eine Gedankenübertragung ist eine tolle Sache. Das sollten wir in Zukunft öfter machen.«
»Genau. Und es spart eine Menge Zeit.«, denkt Sam, einen Blick auf die Uhr werfend. »Wir haben nicht mehr als zwölf Minuten dafür gebraucht.«
»Fantastisch!«, jubelt Vilca. »Dann haben wir ja noch genügend Zeit für das, was jetzt kommt.«
***
Drei… zwei… eins. Sam deaktiviert den Blocker für seinen Bewegungsapparat, verlagert seine Präsenz in die reale Welt und öffnet die Augen. Er liegt in einem weiß getünchten Raum, der gerade mal Platz für zwei Personen hat. Die Einrichtung ist funktional. Das heißt, es gibt zwei Liegen, dazwischen ein kleines Tischchen mit einem Krug Wasser und ein Paar Gläser. Beide Ruhemöbel sind belegt. Das eine von ihm, das andere von seinem Wächter.
Sam springt auf und schlägt den Aufpasser nieder, bevor dieser reagieren kann. Da er noch immer mit dem Holovers verbunden ist, kann er sehen, dass Vilca wie vereinbart exakt zum gleichen Zeitpunkt mit der Ablenkung begann. In rascher Folge startet sie eine Anwendung nach der anderen und gibt völlig sinnlose Kommandos.
Sam nützt das Chaos, verbindet sich mit dem Cyberspace und loggt sich in seiner geheimen Cloud für Notfälle ein. Zum Glück wurde dieser Speicherplatz im Internet noch nicht entdeckt. Blitzschnell lädt er seinen Cyclone-Avatar und sämtliche Hilfsprogramme herunter. Sein Schatz, in vielen Jahren mühsam zusammengetragen, wird in wenigen Sekunden übertragen. Zum Schluss aktiviert er Enola. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis seine Assistentin erscheint. Sie blinzelt und blickt verwirrt um sich. Ihr Outfit ist gerade noch gesellschaftsfähig. Er gibt ihr einen knappen Befehl, für größtmögliche Ablenkung zu sorgen.
Erst jetzt merkt Sam, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hat. Froh darüber, dass sie seinem Kommando gehorchte, ohne groß eine Szene zu machen, atmet er aus. Offenbar hat sie sofort den Ernst der Lage erkannt.
Nachdem seine Sinne mit dem Internet verbunden sind und er seine erweiterten Cyberfähigkeiten zurück hat, fühlt er sich gleich viel sicherer. Sam nimmt dem Wachmann dessen Ausrüstung ab und stürmt aus dem Raum auf der Suche nach Vilca und Paul.
Draußen trifft er gleich auf die erste Hürde. Sowohl die Person, die dort Wache schiebt, als auch Sam sind überrascht, auf dem Gang jemanden anzutreffen. Sam reagiert schneller, schlägt zu und erreicht die nächste Tür noch bevor der Flurhüter Kontakt mit dem Boden aufnimmt.
Er kann sein Glück kaum fassen. Gleich auf Anhieb findet er den Raum, in dem Vilca liegt. Wieder ist Sam einen Tick schneller als der Wachmann. Er übernimmt nun im Holovers die Ablenkung. Gerade rechtzeitig. Die Cyberterror-Abwehr war gerade dabei, die Kontrolle wieder herzustellen, aber als Cyclone bringt er frischen Wind in die Sache.
Vilca überlässt das Ablenkungsmanöver ihrem Freund und benutzt dessen Internetzugang, um ihren Phire-Avatar herunterzuladen. Dann konzentriert sie sich auf die reale Welt, nimmt Sam an der Hand und führt ihn auf den Gang. Er folgt ihr teilnahmslos wie ein Zombie. Seine ganze Aufmerksamkeit ist auf seine Aktivitäten im Holovers gerichtet. Zufrieden stellt Vilca fest, dass er ganze Arbeit leistet. Als Wirbelsturm in der Karibik wäre er bestimmt in die Kategorie zehn eingestuft worden.
Ihren Freund hinter sich her ziehend, öffnet sie eine Türe nach der anderen. Alle Räume sind leer. Am Ende gabelt sich der Gang nach links und rechts. Dort gibt es nur noch eine Möglichkeit. Entweder ist Paul in diesem Raum oder sie müssen die Suche nach ihm aufgeben. Doch bevor sie nachsehen kann, verlangt noch ein anderes Problem ihre Aufmerksamkeit. Dem Geräusch nach stürmt von links ein Trupp Wachleute heran. Jeden Moment müssen sie um die Ecke biegen. Vilca erwartet, alleine mit ihnen fertig zu werden. Einem der üblichen Vierer-Trupps fühlt sie sich problemlos gewachsen. Schließlich ist das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.
Die Sängerin nimmt Sams Elektroschlagstock an sich, lässt Sam stehen und stürmt um die Ecke. Wie ein Blitz fährt sie zwischen die Wachleute, in jeder Hand einen Schocker. Noch bevor einer von ihnen reagieren kann, streckt sie die ersten beiden nieder. Dann stürzt sich der Rest auf sie. Vier ausgebildete Wächter sind einer zu viel. Mit dreien wäre sie fertiggeworden.
Sie hatte erwartet, dass nach ihrem Erstschlag nur noch zwei stehen würden. Verzweiflung droht sie zu übermannen. Sollte ihre Flucht hier bereits zu Ende sein? Vilca reißt sich zusammen und kanalisiert ihre Gefühle in kalte Wut. Pures Adrenalin schießt durch ihre Adern und es gelingt ihr, sich die Angreifer vom Leibe zu halten. Mehr auch nicht. Alleine wird sie das nicht schaffen. Die Situation scheint hoffnungslos. Gerade als sie aufgeben will, wird einer der Wachleute von hinten niedergeschlagen. Kurz darauf geht ein zweiter zu Boden und gibt den Blick auf einen wütend dreinblickenden Paul frei. Mit den letzten beiden werden sie schnell fertig.
»Dachte mir doch, dass der Lärm auf dem Gang etwas zu bedeuten hat. Da bin ich wohl gerade rechtzeitig gekommen.«
»In der Tat! Wir sind auf dem Weg zu dir aufgehalten worden. Wie ich sehe, hast du deinen Wachmann ausgeschaltet.«
»Wachfrau.«, korrigierte Paul. »Egal. Wann hattet ihr denn vor, mir Bescheid zu sagen? Ich warte schon seit ewigen Zeiten, dass es losgeht.«
»Es gab keine Möglichkeit, dich vorher zu informieren. Du warst zu gut abgeschirmt. Komm jetzt, wir müssen hier weg.« Vilca läuft zu Sam, der immer noch dort steht, wo sie ihn zurückgelassen hat.
»Moment noch!«, ruft Paul und bückt sich nach einer der Schallimpulswaffen, die der Trupp bei sich hatte. Schnell knackt er die Signatur und feuert einen breit gefächerten Impuls an die Decke, um ein paar lästige Überwachungskameras zu deaktivieren.
»Gut so. Ich hasse es, wenn mir ständig jemand über die Schulter blickt.«, sagt Vilca anerkennend und greift sich auch eine Waffe. »Wie geht das?«
Paul zeigt ihr, mit welcher Tastenkombination sie die Signatur zurücksetzen kann. Vilca folgt seinem Beispiel. Die Waffe piepst und das Statuslicht wechselt von Rot auf Grün. Sam hinter sich her ziehend läuft sie daraufhin den Gang entlang. Paul eilt ihr nach.
»Wohin rennst du denn?«
»Hast du deinen Avatar und Hilfsprogramme in der Cloud gespeichert?«
»Ja, aber …«
»Ich gebe dir einen Internetzugang. Lade deine Sachen herunter und hilf Sam im Holovers. Ich werde euch beide führen.«
Paul hat noch tausend Fragen, aber ein Blick in Vilcas Gesicht genügt. Er hätte gerne gewusst, was der Plan ist, aber so wie sie ihn ansieht, spart er sich seine Erkundigungen und tut, was sie angeordnet hat.
Vilca stürmt vom Gang ins Treppenhaus. Mit Sam und Paul an der Hand spurtet sie drei Stockwerke nach oben. Dann einen weiteren Gang entlang. An der zweiten Abzweigung biegt sie nach rechts ab.
Vilca rennt im Zickzack durch das Gebäude auf den vereinbarten Treffpunkt zu. Es ist drei Uhr morgens und wie erwartet, treffen sie niemanden an. Pauls Beispiel folgend, deaktiviert sie die Kameras nicht nur auf ihrem Weg, sondern auch in alle anderen Richtungen. So hofft sie, ihre Verfolger irreführen zu können. Ohne Erfolg. Schließlich ist sie eingekreist.
Sie steht an einer T-Kreuzung und hört Schritte aus jeder Richtung auf sich zukommen. Kurz entschlossen nimmt sie die SIRP, stellt sie auf Resonanz und zertrümmert die Wand vor sich. Dahinter wird der Blick auf ein Büro mit einem Tisch und zwei Regalen frei. Sie führt Sam und Paul hinein. Es liegt an der Außenseite des Gebäudes. Vilca eilt an die Fensterfront und schaut nach unten auf den Fuhrpark. Zu ihrer Überraschung ist sie keine 100 Meter von dem mit Urs und Aya vereinbarten Treffpunkt entfernt. Allerdings drei Stockwerke zu hoch.
In der Fensterscheibe spiegelt sich die zerstörte Rückwand des Büros. Die Sängerin dreht sich um und bringt beide Waffen in Anschlag. In diesem Moment stürmt eine Patrouille herein. Vilca und die Wachleute feuern gleichzeitig. Die Impulse prallen in der Mitte zusammen und toben ihre Energie nach oben und unten aus. Über den Boden läuft eine Erschütterung, die den Gebäudeflügel zittern lässt. Die abgehängten Deckenelemente haben dem nichts entgegenzusetzen. Nachdem sich die Energien an ihnen abgearbeitet haben, regnen sie als feiner Staub herab.
Für einen Moment herrscht Waffenstillstand. Die sechs Wachleute starren die Frau ungläubig an. Vilca begreift als Erste die Situation. Sie hatte ihre Waffen auf volle Leistung aufgedreht, die Streife ihre nur auf Betäubung. Im Mittel glichen sich die Energien aus.
***
Cyclone wirbelt durch das Holovers der European Intelligence Community wie eine Horde Elefanten, die in Panik durch einen Wald rennt. Es gibt nichts, was sich ihm zu widersetzen vermag. Er versucht, größtmöglichen Schaden anzurichten und Verwirrung zu stiften, indem er Daten und Programme löscht oder sie mit unsinnigen und widersprüchlichen Aufgaben versieht. Dabei hilft ihm die blaue Scheibe mit den Zugangscodes und Berechtigungen, die ihm Dragonfly damals für den Kampf gegen die Nanobots gab. Die Codes wurden zwar inzwischen geändert, aber seine Codeknacker-Werkzeuge brauchen nur Bruchteile von Sekunden, um das Schema zu berechnen. Fast schon ist er enttäuscht, wie dilettantisch sich die EUIC anstellt. Auf der anderen Seite ist er auf jeden Vorteil angewiesen, den sie bekommen können.
Cyclone weiß, dass er hier nur Schaden an der Peripherie anrichtet, indem er das Holovers zerstört. Das wird die EUIC zwar behindern, aber nicht wirklich in ihrer Arbeit beeinträchtigen. Damit ihre Flucht gelingt, muss er zum Kern des Rechenzentrums vorstoßen. Nur dort kann er das Betriebssystem zerstören oder zumindest beschädigen.
Inzwischen setzt die Cyberterror-Abwehr alles verfügbare Personal ein. Noch sind die meisten Angreifer damit beschäftigt den Schaden zu begrenzen. Nur ein kleiner Teil attackiert ihn mit virtuellen Schallimpulskanonen. Offensichtlich haben sie nach dem Angriff der Nanobots aufgerüstet. Anerkennend stellt er fest, dass die Waffen für diesen Zweck gut geeignet sind. Gegen seinen Wirbelsturm-Avatar zeigen sie jedoch kaum Wirkung, da der Angriff schlecht abgestimmt ist. Einzelne Schüsse hier und da reißen zwar Löcher in seine Windhose, die vermag er aber schnell wieder zu schließen.
Seine Angreifer ignorierend wirbelt er direkt auf das Rechenzentrum zu. Dabei nimmt er auf nichts Rücksicht, was sich ihm in den Weg stellt. Egal, ob es sich um virtuelle Wände, Landschaften, Büros, Firewalls oder Avatare handelt. Alles wird plattgewalzt oder in Stücke gerissen. Schließlich gelangt er in eine kreisrunde Halle, in deren Mitte ein Säulenportal prangt. Dies muss der Zugang zum Betriebssystem sein. Er tost in die Halle und stellt fest, dass selbst sein voll ausgebreiteter Wirbelsturm-Avatar sie nicht einmal zur Hälfte füllt.
»Cyclone, pass auf!«
Aus dem Nichts war Enola hinter ihm aufgetaucht. Doch ihre Warnung kommt zu spät. Ein greller Blitz blendet ihn. Gleichzeitig trifft ihn ein Schlag, der seinen Avatar in Fetzen reißt. Jäh ist der Wirbelsturm weg. Stattdessen krümmt sich eine halbnackte Gestalt vor Schmerzen. Angesichts der Größe der Halle wirkt sie lächerlich klein.
Cyclone kauert auf dem Boden und stöhnt. Das Portal ist meilenweit weg. Benommen schüttelt er den Kopf. Einen so massiven Angriff hat er noch nie erlebt. Seine Verbindung zu Enola ist weg. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass sie sich für ihn geopfert hat. Zweifelsohne fing sie den Hauptteil des Vernichtungsschlags ab. Hätte sie ihn nicht beschützt, wäre nichts mehr von ihm übrig geblieben. Die Waffe, mit der er angegriffen wurde, hatte die Kraft, nicht nur seine digitale Existenz auszulöschen, sondern auch seine physische. Kein Verstand überlebt so einen Schock, ohne Schaden zu nehmen.
Er verdankt Enola sein Leben und den Fortbestand in diesem Holovers. Cyclone befürchtet, dass sie bei dem Angriff vollständig gelöscht wurde und dass von ihrem Programm nichts mehr übrig ist.
***
Wieder ist Vilca schneller. Während die Wachen noch immer verwirrt sind, stellt sie ihre SIRPs auf Resonanz um und richtet sie auf den Boden unter den Füßen des Wachdienstes. Mit sicherem Instinkt erwischt sie auf Anhieb die Resonanzfrequenz der Betondecke. Innerhalb von Sekunden löst sich die Standfläche ihrer Verfolger auf und sie stürzen in die Tiefe.
Vilca vergewissert sich, dass von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht und geht dann ans Fenster. Sie schaut hinüber zum Treffpunkt, kann aber niemanden erkennen. In Gedanken wägt sie ihre Optionen ab. Wegen des Lochs im Boden kann sie nicht einfach zurück. Schon gar nicht mit den beiden Zombies im Schlepptau. Zum Runterspringen ist es zu hoch und eine Klettermöglichkeit ist weit und breit nicht in Sicht. Da bleibt nur noch ein Ausweg.
Gerade als sie ihre Waffe auf die Seitenwand des Büros richtet, bemerkt sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Von dem gegenüberliegenden Gebäudeflügel rennen zwei Gestalten über den freien Platz, um dann zwischen den Fahrzeugen Deckung zu suchen.
Kurz darauf stürmen zwei Wachtrupps heraus. Sie verteilen sich, um den Parkplatz Reihe für Reihe abzusuchen. Von oben beobachtet sie, wie Urs und Aya geduckt von Fahrzeug zu Fahrzeug schleichen. Das Ende ist absehbar. Eine Weile können sie sich noch verstecken, aber die Wächter gehen systematisch vor. Es gibt kein Entrinnen.
Vilca versteckt sich hinter einem Schreibtisch, der direkt vor dem Fenster steht. Von hier hat sie einen guten Überblick, ist von unten aber nicht zu sehen. Sie wartet auf einen geeigneten Moment.
Als die Wächter kurz davor sind ihre Freunde zu entdecken, zerschießt sie die Fensterfront. Dann feuert sie auf die Sicherheitsdienstler. Auf die Entfernung kann sie selbst bei voller Leistung niemanden ernsthaft verletzen. Aber sie schafft damit genug Verwirrung und Ablenkung, dass Urs und Aya mit ihren Angreifern fertigwerden.
»Was machst du denn da oben?«, ruft Urs. Seine Stimme hallt von den Wänden wider. »Wir wollten uns doch unten treffen.«
»Ein schlichtes Danke hätte es auch getan.«, entgegnet sie genervt. »Habt ihr unsere Ausrüstung?«
»Ja!«, ruft Urs.
»Dann lass mal die Nanobots los. Der Weg über das Treppenhaus ist zu gefährlich. Mit den zwei Zombies im Schlepptau ist es am besten runterzuspringen.«
»Okay. Aya übernimmt die Nanobots und ich kümmere mich um unser Fluchtfahrzeug.«
»Willst du wirklich da runterspringen?«, fragt Aya skeptisch. »Solange Paul und Sam geistig im Holovers unterwegs sind, ist das ziemlich riskant. Noch dazu, wenn ihr die Nanobots nicht selbst steuern könnt. Gibt es keinen anderen Weg?«
»Jetzt mach schon! Ich habe keine Zeit für lange Diskussionen.«, ruft Vilca ungeduldig. Sie hört ein Geräusch hinter sich. »Beeil dich gefälligst. Da kommen schon wieder welche.«
Vilca geht auf die andere Seite des Büros, möglichst weit weg von Sam und Paul. Sie stellt sich hinter eine Pflanze, um von dort aus die hereinstürmenden Wachen unter Beschuss zu nehmen. Dann kommt ihr eine bessere Idee. Sie stellt ihre Schallimpulskanone auf Resonanz um, wartet bis die Wächter nah genug sind und vergrößert dann das Loch im Boden. Schreiend und fluchend stürzt der Trupp in die Tiefe.
Die Freude darüber ist von kurzer Dauer. Plötzlich spürt sie ein Kribbeln auf der Haut. Das Gefühl wird schnell stärker und bringt ihren ganzen Körper zum Vibrieren. Vilca ahnt, was das bedeutet. Jemand ist dabei, die Seitenwand neben ihr zu zertrümmern. Auf der Suche nach der Resonanzfrequenz benutzt er ein möglichst breites Spektrum. Mittlerweile ist das Beben in ihrem Körper so durchdringend, dass sie taumelt. Dann endlich lässt es nach und die Wand beginnt feine Risse zu zeigen.
Vilca ist so übel, dass sie sich am liebsten übergeben würde. Das passt irgendwie. Das Wachpersonal und die ständigen Angriffe findet sie sowieso zum Kotzen. Der Gedanke weckt wieder ihre Lebensgeister. Trotzdem muss sie ihren ganzen Willen und ihre Disziplin aufbringen, um ihre SIRPs in Stellung zu bringen. Mit der einen gibt sie der zerbrechenden Wand denn Rest. Gleich darauf feuert sie ihre zweite Schallimpulskanone ab. Die Überraschung gelingt ihr. Mit einem Schuss hat sie den ganzen Trupp ausgeschaltet.
Doch die Freude währt nur kurz. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie sich an der gegenüberliegenden Wand eine kreisrunde Fläche dunkel färbt. Mit einem Champagnerkorkenplopp zerstiebt dieser Teil der Wand und rieselt als Staub herab. Schwindel lähmt ihre Bewegungen. Noch bevor sie eine ihrer Waffen ausrichten kann, wird sie von zwei Schallimpulsen getroffen und durch das Fenster nach draußen geschleudert. Von ihrem spektakulären Flug aus dem dritten Stock bekommt sie nichts mehr mit. Der Aufprall am Boden presst ihr die Luft aus den Lungen und raubt ihr endgültig die Besinnung.
***
Eine Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Träge zieht sich Cyclone an seinem Dreizack hoch und dreht sich um. Seine Sicht ist verschwommen. Er glaubt, einen Wikinger auf sich zu rennen zu sehen. Auf jeden Fall scheint es kein Wachmann zu sein. Das kann aber auch ein Trick sein. Wer immer es ist, er spurtet durch die Bresche, die er in die Mauer brach, um in die Halle einzudringen. In großen Sätzen springt die Gestalt über die verstreuten Gesteinsbrocken.
»Cyclone hierher! Schnell. Beweg dich, du Lahmarsch.«
Der Windgott zögert. Er kneift die Augen zusammen.
»Zero, bist du das?«
»Na klar bin ich das, wer denn sonst. Wirf mal einen Blick auf dein Identifizierungsprogramm.«
»Das wird nicht viel nützen.«, murmelt Cyclone, während er sich Richtung Zero in Bewegung setzt. »So wie die meisten meiner Programme ist auch dieses abgestürzt. Es wird noch ein paar Sekunden dauern, bis alle neu gestartet sind. Bis dahin wäre ich dir dankbar, wenn du mir Deckung geben würdest.«
Zero hält in einer Hand seine Axt und in der anderen seinen Schild. Letzteren vergrößert er und hebt ihn über den Kopf. Kurz bevor er seinen Freund erreicht, wird ein zweiter Schuss abgefeuert, den er mit seiner Passivwaffe abfängt. Von der Wucht des Aufpralls wird er nach vorne geschleudert und kracht auf Cyclone.
Zero rappelt sich auf und bringt seinen Schild wieder über seinem Kopf in Position.
»Cyclone steh auf! Wir müssen hier so schnell wie möglich weg.«
Als Antwort erhält er nur ein gequältes Stöhnen.
»Enola, sie ist ...«
»Reiß dich zusammen.«, unterbricht ihn sein Freund. »Du bist zu schwer. Ich kann dich nicht tragen.«
Zero sieht ein, dass es hoffnungslos ist. Er packt Cyclone am Fuß und schleift ihn Richtung Bresche. Währenddessen sieht er sich nach der Waffe um, mit der sie beschossen werden. Er kann sie nicht finden. Sein Blick schweift zurück zu dem Durchbruch. Weit darüber ist ein rundes Ornament mit dickem rotem Rand und silbernen Verzierungen. Noch während Zero das Muster misstrauisch studiert, beginnt es zu leuchten.
Er kann sehen, wie sich ein rötlicher Lichtkegel löst und auf ihn zurast. Gedankenschnell richtet er seinen Schild dagegen aus. Der Aufprall schleudert ihn weit durch die Luft und zertrümmert seine Defensivwaffe. Zero landet hart auf dem Marmorboden und rutscht noch ein paar Meter, bevor er liegen bleibt.
Dank seiner Rüstung hat er keine Verletzung davongetragen. Er springt auf und rennt zurück zu seinem Freund. Währenddessen bemerkt er eine verdächtige Bewegung in der Bresche. Der Wikinger wirft sich zur Seite. Eine Kugel zischt knapp an ihm vorbei. Aus dem Halbdunkel der Kluft in der Mauer tritt ein einzelner Wachmann. Er hat ein Gewehr im Anschlag und feuert schon wieder.
Zero rollt sich auf dem Boden hin und her, um den Geschossen auszuweichen. Durch eine geschickte Drehung kommt er auf die Füße und schleudert seine Axt. Sie trifft den Wachmann in der Brust. Es gibt einen hellen Glockenton, dann zerstiebt er in winzige goldene Fünkchen. Klirrend fällt die Axt zu Boden.
Inzwischen ist Cyclone wieder zu sich gekommen. Als hätte er alle Zeit der Welt untersucht er eine der Kugeln, die sich in den Marmorboden gebohrt haben.
»Weg hier!«, ruft der Wikinger. »Das Ornament ist die Waffe. Sie kann jeden Moment wieder feuern.«
Zero zerrt an Cyclone, aber der reißt sich los und beugt sich wieder zu der Kugel hinab. Er greift an seine Muschelkette. Plötzlich hat er ein Werkzeug in der Hand, mit dem er die Kugel aus dem Boden bricht. Dann springt er auf und rennt hinter Zero so schnell wie möglich auf die Bresche zu.
»Achtung!«, schreit Cyclone und springt zur Seite. Zero schlägt einen Haken. Von dem Ornament löst sich ein weiterer Lichtkegel und verfehlt die beiden nur knapp.
»Wir müssen das verdammte Ding ausschalten, sonst ist hier Endstation.«
»Versuch es damit.«, sagt Cyclone. »Diese Kugeln sind interessant. Die haben’s in sich. Hier, ich habe eine Codesequenz extrahiert. Füg sie deinem Pfeil zu und schieß auf das verfluchte Dekoelement.«
Zero folgt Sams Rat, ohne zu fragen. Schnell überträgt er das Programm auf sein Geschoss und jagt es auf das angegebene Ziel. Es dauert einen Moment bis etwas passiert. Zuerst wird das Muster schwarz, dann gibt es einen grellen Blitz. Als Zero wieder sehen kann, ist das Ornament verschwunden.
»Beeindruckend effektiv. Ich finde es sehr freundlich von der EUIC, uns mit solch wirkungsvollen Programmen zu bedienen.«, bemerkt Cyclone. Dann richtet er seinen Dreizack auf das Portal und holt aus.
»Auf die Entfernung?«
Paul macht keinen Hehl aus seiner Skepsis.
»Physische Distanz ist im Holovers ohne Bedeutung. Das solltest du mittlerweile wissen.« Mit diesen Worten schleudert Cyclone seinen Dreizack auf das Portal.
Immer schneller werdend, fliegt er darauf zu. Sein Treffer wird kurz darauf durch einen tiefen, durchdringenden Gong verkündet. Dann folgt ein lautes Knackgeräusch.
Cyclone nimmt Paul bei der Hand und wie durch Zauberei stehen sie im nächsten Moment vor dem Portal. Das Tor ist zerschmettert und gibt den Blick auf das Innere frei.
Aus der Öffnung im Portal gleißt Licht so, dass sie nichts erkennen können. Cyclone steigt ein paar Stufen hoch. Eine Sonnenbrille materialisiert sich vor seinen Augen. Dann tritt er durch das Tor. Eine riesige Halle tut sich auf, in der farbige Säulen schier endlos in den Himmel aufragen. Jede von ihnen strahlt mit den anderen um die Wette. Sie ruhen auf einem schwarzen Steinboden. Alles spiegelt sich darin, als wäre es doppelt vorhanden. Zero dreht sich einmal um seine Achse.
»Wow! Was bedeuten die Farben?«
»Die Säulen verkörpern die Ressourcen, die dem Betriebssystem zur Verfügung stehen. Rot steht zum Beispiel für Rechenleistung. Blau für dynamischen Speicher. Je heller eine Säule strahlt, umso mehr hat sie davon.«
»Und was bedeutet es, wenn sie sich bewegen?«
Cyclone nimmt die Sonnenbrille ab und kneift die Augen zusammen.
»Das ist ganz schlecht. In gewisser Weise sind das auch Ressourcen des Betriebssystems. Das hier sind aber keine Säulen, sondern Wächter.«
»Die sehen echt bedrohlich aus. Es wäre nicht schlecht, wenn du jetzt deinen Wirbelsturm aktivieren würdest.«, flüstert Zero und macht einen Schritt zurück.
»Das würde ich ja gerne, aber der letzte Angriff in der Halle hat mir die Rechenleistung und den Speicherplatz geraubt, den ich dafür brauche.«
»Was für eine Ironie.«, seufzt der Wikinger. »Hier gibt es mehr Rechenleistung als du dir jemals erträumt hast. Du hast wohl nicht zufällig eine Idee, wie wir an sie herankommen?«
»Doch natürlich. Aber dazu müssen wir erst einmal an den Metallmonstern vorbei.«
Cyclone aktiviert ein Werkzeug, das ihm erlaubt, die virtuelle Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Diese App schrieb er vor langer Zeit, um Fehler in seinen Simulationen zu finden. Er hat es schon lange nicht mehr benutzt, aber jetzt leistet es ihm gute Dienste. Es zeigt ihm, welche Programme wo ausgeführt werden und welchen Speicher sie gerade belegen.
Das Ergebnis ernüchtert ihn. Er ahnte es schon, aber so genau wollte er gar nicht wissen, wie viel mehr Ressourcen ihre Gegner zur Verfügung haben. Das Verhältnis entspricht in etwa dem eines Berges zu einem Kieselstein. Dazu kommt, dass die Berge von den besten Administratoren gesteuert werden, die die EUIC finden konnte.
Seine App zeigt ihm auch, wie sehr ihre Existenz im Holovers bedroht ist. Ihre Gegner sind dabei, sie systematisch einzukreisen. Plötzlich bekommt Cyclone eine Warnung über den Zustand seines Körpers eingeblendet. Das ist ein denkbar ungünstiger Moment. Vermutlich wird er gerade in der realen Welt angegriffen. Die Sensoren zeigen ihm an, dass er unter Desorientierung, Übelkeit und Schwindel leidet. Dazu kommt, dass sein Bewusstsein für das Holovers schwindet. Er kann sich kaum mehr auf den Beinen halten und dem Drang, in die reale Welt zurückzukehren, widerstehen. Ein Blick auf Zero sagt ihm, dass es seinem Freund genauso geht.
»Was passiert mit uns?«, fragt Zero erschrocken und verwirrt.
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, wir werden mit einer Resonanzwaffe angegriffen.«
Beide stottern und ihre Worte klingen kraftlos. Zu allem Überfluss holt eines der Monster mit seinem Schwert zu einem Schlag gegen ihn aus. Der Roboter schwingt den Arm in weitem Bogen und droht die beiden in der Mitte zu halbieren.
Cyclone gibt seiner Schwäche nach und lässt sich auf den Boden fallen. Zero folgt seinem Beispiel. Nur wenige Zentimeter über ihren Körpern rast die glühende Waffe über sie hinweg. Cyclone ist geschockt, welche Hitze sie ausstrahlt. Wenn der Administrator nicht so übereifrig gewesen wäre, sie mit dem Schwert halbieren zu wollen, hätte alleine die Hitze gereicht, sie aus dem Holovers zu verdampfen.
»Los, komm!« Cyclone rappelt sich auf und rennt zurück zu dem Portal, durch das sie hereinkamen. Eine andere Fluchtmöglichkeit gibt es sowieso nicht.
»Sollten wir nicht besser in die reale Welt zurückkehren?«, schreit Zero hinter ihm her. »Hier ist es gerade ziemlich ungemütlich. Mein Körper ruft nach mir.«
»Wenn wir jetzt das Holovers verlassen, können wir nicht mehr hierher zurück. Dann war alles umsonst. Außerdem habe ich mit Vilca ein besonderes Zeichen vereinbart, wenn es wirklich gefährlich für uns wird.«
»Wieso können wir nicht zurück? Kannst du nicht ein Bookmark setzen oder so was?«
»Ein Bookmark setzen? Hmmm ... Die Idee ist gut. Allerdings nicht so einfach durchzuführen.«
»Pass auf!«, schreit Zero, der sich gerade umgedreht hat.
Cyclone folgt seinem Blick. Schon wieder schwingt der Roboter sein riesiges Schwert. Diesmal so tief, dass sie nicht darunter hindurchtauchen können. Cyclone rennt zurück zu Zero, greift ihn am Kragen seines Kettenhemds, springt hoch in die Luft und reißt ihn mit sich. Weit unter ihnen fegt das Schwert über die Stelle, an der sie kurz zuvor noch standen.
Cyclone schafft es, sie in der Luft zu stabilisieren.
»Kannst du einen Pfeil auf die blaue Säule da drüben schießen?«
Zero folgt dem ausgestreckten Arm seines Freundes.
»Na klar, aber wozu? Er wird kaum etwas bewirken.«
»Hast du so wenig Vertrauen in deine Ideen? Hier ist das Bookmark. Schieß es in den Speicher und wir können direkt hierher zurückkehren.«
Cyclone reicht ihm einen kleinen Metallzylinder, den Zero auf seinen Pfeil steckt. Dann schießt er ihn ab. Der Windgott hat ein ungutes Gefühl und wirft einen Blick nach oben. Ein zweiter Koloss ragt über ihnen auf und ist gerade dabei, in die Hände zu klatschen. Von beiden Seiten kommen sie auf ihn zu. Es besteht kein Zweifel, dass er sie wie zwei lästige Fliegen zwischen seinen Pranken zerquetschen will.
»Weg hier!«, ruft Cyclone. »Und zwar schnell.«
***
Gerade rechtzeitig hat Aya die Nanobots aktiviert, um Vilca abzufangen. Nun liegt sie bewusstlos vor ihr. »Vilca wach auf!«, ruft sie besorgt, legt ihren Kopf in ihren Schoß und rüttelt an den Schultern.
»Ooooooohhhh!«, stöhnte die unfreiwillige Fliegerin. »Mir ist schlecht. Ich glaube ich mu …«
»Igitt!«, protestiert Aya, schubst Vilca von sich und wendet sich ab. »Kannst du dich nicht zusammenreißen? Ausgerechnet du! Deine Manieren waren auch schon mal besser. Zuerst lässt du dich aus dem Fenster schießen, obwohl ich mit den Nanobots noch gar nicht bereit bin und dann spuckst du hier alles voll.«
Sie sieht Vilca angeekelt an. Diese schaut sie mit glasigen Augen an.
»S… Sorry, ich bin noch ganz durcheinander. Einer von denen ist verdammt nah an meiner Resonat … Resonanzfrequenz. B… bin ich noch ganz?«, fragt sie mit zitternder Stimme.
»Nein!«, antwortet die Chinesin mit hochgezogener Nase und zusammengekniffenen Augenbrauen. »Teile von dir liegen hier herum. Ich kann gar nicht hinsehen.«
Aya glaubt, noch etwas zu hören, das sich wie »Sam helfen.« anhört, dann bricht Vilca zusammen und rührt sich nicht mehr.
Eine Sekunde später taucht ein Schatten über ihr auf und beugt sich herab. »Aya, was ist mit ihr?«, fragt Urs besorgt. »Ist sie schwer verletzt? Lebt sie noch?«
»Ja. So schlimm kann es nicht sein. Sie kann sich übergeben. Das heißt, wesentliche Teile funktionieren noch.«
Urs betrachtet seine Freundin irritiert und schüttelt den Kopf.
»Aya, reiß dich zusammen! Vilca hat eine doppelte Ladung abbekommen und ist soeben aus dem dritten Stock geflogen. Ein Wunder, dass sie noch lebt.
Ich bringe sie in unser Fluchtfahrzeug und dann müssen wir uns um Sam und Paul kümmern. Du machst inzwischen die Nanobots klar. Wir müssen hoch.«
Aya überlegt kurz, unten zu bleiben. Für heute hat sie schon genug Action gehabt. Aber das hieße, bei Vilca bleiben zu müssen. Womöglich wird die sich noch einmal übergeben. Kurz entschlossen greift sie sich eine der herumliegenden Waffen.
»Ich komme mit!«, verkündet sie.
Urs und Aya schweben durch das zerbrochene Fenster. Von Sam und Paul ist nichts zu sehen. »Verdammt, sie haben die beiden mitgenommen.«, flucht Urs. »Wir müssen sie suchen.«
»Und wo sollen wir sie suchen?«, fragt Aya angespannt.
Urs schaut sich in dem Raum um. Vor ihnen klafft ein Loch in der Wand, durch das man auf einen Gang sehen kann, der sich nach links und rechts verzweigt. Unterhalb des Durchbruchs fehlt ein Stück vom Boden. Urs bemerkt die Wächter in dem darunterliegenden Büro. Sie rühren sich nicht. Ob sie tot oder nur bewusstlos sind, kann er von oben nicht feststellen.
Die Seitenwände des Büros sind ebenfalls durchbrochen. Die Ränder sehen aus wie mit einem Laser herausgeschnitten. Ihm fällt auf, dass die Tür zu dem Büro verschlossen ist. Wozu auch den Aufwand betreiben und durch eine Tür gehen, wenn man doch eine Waffe hat, mit der man einfach so durch Wände spazieren kann?, fragt er sich.
Sein Verstand drängt ihn, sofort loszustürmen, in der Hoffnung, seine beiden Freunde so schnell wie möglich zu finden. Sein Instinkt warnt ihn. Irgendetwas stimmt hier nicht.
Aya macht eine Bewegung auf das Loch in der rechten Seitenwand zu, aber Urs hält sie zurück und legt einen Finger auf die Lippen. Die Chinesin sieht ihn fragend an. Er deutet auf die Tür. Egal, in welche Richtung sie das Büro verlassen, sie würden immer auf demselben Gang enden.
Urs richtet seine Waffe auf die Stelle, die er Aya angezeigt hat. Dann gibt er seiner Freundin ein Zeichen nach ihm zu schießen. Diese beobachtet, wie er seine SIRP einstellt. Sie schüttelt energisch den Kopf und gibt ihm zu verstehen, dass er nach ihr abdrücken soll.
Als Aya sah, wie er seine Waffe einstellte, musste sie unwillkürlich an Vilca denken. Urs hat sie auf die optimale Resonanzfrequenz für die Wand eingestellt. Das würde die Wand zerstören, aber die Menschen dahinter kaum in Mitleidenschaft ziehen. Sie bekommen also eine Chance, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Bei dem Angriff auf Vilca hatten die Wächter vermutlich absichtlich eine Frequenz gewählt, die auf Menschen wirkt. Gerade so nah an der Resonanzfrequenz, um sie außer Gefecht zu setzen, aber weit genug weg, um sie nicht ernsthaft zu verletzen. Es ist eine feine Gratwanderung.
Die Wächter, die Urs hinter der Wand vermutet, sind ihr egal. Sam und Paul aber nicht. Aya stellt ihre Waffe ein und aktiviert sie. Kurz darauf glaubt sie ein Stöhnen zu hören. Daraufhin gibt sie ihrem Freund das Zeichen.
Dessen Schallimpuls zertrümmert die angeschlagene Tür und einen Teil der Wand mit einem lauten Plopp und schleudert die Menschen dahinter zu Boden. Urs und Aya sprinten los, um nach Sam und Paul zu schauen. Beide liegen da und rühren sich nicht. Im Gegensatz zu den zwei Wächtern. Das Paar kauert am Boden und übergibt sich. Ohne zu zögern, schlägt Urs sie k.o. Aya wirft ihm einen dankbaren Blick zu.
Dann drückt er ihr seine Waffe in die Hand und überprüft den Zustand von Sam und Paul. »Ich glaube, sie sind unverletzt. Ob sie bewusstlos sind oder nur ins Holovers vertieft, kann ich nicht sagen.«
Aya überlegt einen Moment. Dabei vermeidet sie sorgfältig, auf den Boden zu schauen. Am liebsten hätte sie sich die Nase zugehalten, um nicht schon wieder den säuerlichen Geruch nach Erbrochenem einatmen zu müssen. Das geht aber nicht, da sie in jeder Hand eine Waffe hat.
»Es gibt eine einfache Möglichkeit das herauszufinden. Stell sie hin. Wenn sie stehen bleiben, sind sie im Holovers noch aktiv.«
Vorsichtshalber tritt sie zwei Schritte zurück. Womöglich zeigt auch deren Magen eine Reaktion, wenn sie bewegt werden.
»Gut, dann schauen wir uns mal an, wie sie reagieren.« Gerade als Urs sich zu ihnen herunterbeugen will, schlagen beide die Augen auf. Verwirrt sehen sie sich um. Dann stöhnen beide, rollen sich zur Seite und übergeben sich.
Geistesgegenwärtig springt Urs aus der Gefahrenzone. Für Aya ist das zu viel. Nun muss sie sich auch erbrechen.
»Was ist denn jetzt los?«, fragt Urs besorgt. »Ist das ansteckend oder was? Wir befreien euch aus den Händen der Wächter und das ist der Dank dafür? Seht ihr? Aya findet euch zum Kotzen.«
Er hat nicht wirklich eine Antwort erwartet und bekommt auch keine. Urs schaut sich nervös um. Sie müssen dringend weg, aber seine Freunde halten sich damit auf zu demonstrieren, wie übel ihre Lage ist. Schnell verliert er die Geduld. Jederzeit können weitere Wachtrupps sie entdecken und angreifen. Kurzerhand reißt er Sam, Paul und Aya hoch, ohne Rücksicht auf ihren Zustand zu nehmen. Aya hat angefangen zu weinen und sieht aus wie ein Häufchen Elend. Sie wagt es nicht, Urs in die Augen zu schauen.
»Ent … entschuldige, das ist mir so peinlich. Das ist mir noch nie passiert.«, stammelt sie.
Urs beugt sich zu ihr herab und stellt sie auf die Beine.
»Wir haben keine Zeit für sowas, Engelchen. Reiß dich zusammen. Wir müssen hier weg.«
»Wo sind wir?«, fragt Sam, der sich als Erster wieder gefangen hat. Suchend schaut er sich um. »Wo ist Vilca? Wieso bin ich gefesselt?«
»Keine Sorge, deine Liebste wartet beim Fluchtfahrzeug. Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Wir müssen zum Fenster und dann springen.«
»Ah, das kommt mir bekannt vor.«, sagt Paul. »Hat so nicht alles angefangen?«
»Beeilt euch, ich höre Schritte.«, drängt Urs.
Sam eilt los Richtung Fenster. Urs spurtet hinterher und hält ihn am Arm zurück. »Vorsicht, der Boden!«
Sam blickt nach unten. »Oh! Hier scheint einiges los gewesen zu sein.«
Aya ist immer noch durcheinander und zögert, während die Schritte unerbittlich näher kommen. Dem perfekten Gleichschritt nach zu urteilen, sind sie äußerst diszipliniert. Der Lautstärke nach müssen es viele sein.
»Ja, bin ich hier der Einzige, der bei klarem Verstand ist? Los jetzt!«, schreit Urs, holt sich von Aya seine Waffe zurück, packt sie bei der Hand, kurvt um das Loch im Boden und rennt Richtung Fenster.
Nun reagiert auch Paul. Die Erkenntnis über den Ernst der Lage pumpt pures Adrenalin durch seine Adern. Mit auf den Rücken gefesselten Händen rennt er hinterher.
Die hektischen Aktivitäten um sie herum reißen Aya aus ihrer Lethargie und bringen sie zurück in die Realität. Angespornt von dem rhythmischen Stiefelgetrappel der näherkommenden Wachen rennt sie von selbst, so schnell sie kann.
»Kümmere dich um die Nanobots!«, ruft Urs seiner Freundin im Laufen zu.
»Nicht so schnell, wartet!«, schreit Aya, als sie am Fenster ankommen. Aber sie hat keine Chance. Ohne anzuhalten, springt Urs hinaus und reißt sie mit sich. Dann lässt er sie los, dreht sich in der Luft und feuert seine Schallresonanzwaffe ab. Gerade als die ersten Wachen auftauchen, verschwindet der Boden mit einem leisen Plopp und rieselt als feiner Staub nach unten.
Aya schafft es gerade so, mit den Nanobots den Sturz abzufangen und für alle eine erträgliche Landung hinzulegen. Danach rennen sie auf ihr Fluchtfahrzeug zu. Lautes Klirren über ihnen zeigt an, dass ihre Verfolger beabsichtigen, auf breiter Front anzugreifen. Urs riskiert im Laufen einen Blick nach oben. Der Anblick ist fantastisch. Im Licht der Hofbeleuchtung glitzert eine Wolke aus feinen Glassplittern, die langsam zu Boden sinken. Ihre Angreifer hatten soeben über die halbe Gebäudefront die Fenster herausgeschossen. Urs fällt es schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Dann holt ihn die Realität ein.
»Pass auf!«, schreit Sam und drückt ihn mit der Schulter zur Seite. Urs stolpert nur Zentimeter an einer Rolle Stacheldraht vorbei.
Dann sind sie an dem Panzer angekommen. Der Berliner entriegelt die Tür und sie stürmen hinein. Das Kampffahrzeug hat links und rechts eine Bank für die Mannschaft. Auf einer davon liegt Vilca. Sam eilt zu ihr und beugt sich über sie.
»Urs, was ist mit Vilca? Ist sie verletzt? Hast du sie etwa allein hier liegenlassen?«, ruft er vorwurfsvoll.
Der Bodybuilder hebt die Hände und versucht seinen Freund zu beschwichtigen.
»Nein, natürlich nicht. Vilca wurde von einer SIRP getroffen. Sie ist nur bewusstlos. Bestimmt wird sie jeden Moment zu sich kommen. Sam! Aya und ich hatten keine Wahl. Ihr wurdet gefangen genommen. Wir mussten uns entscheiden. Nur einer von uns hätte euch nicht befreien können.«
Urs gibt sich unbeeindruckt von Sams skeptischem Blick und startet den Motor. Sam will Vilca berühren, wird aber durch die Handschellen gehindert. Hilfesuchend schaut er sich um.
»Einen Moment.«, beeilt sich Aya. »Ich mache dir die Dinger mit den Nanobots ab.«
Kurz darauf nimmt Sam seine Liebste behutsam in die Arme. Als hätte sie nur darauf gewartet, öffnet sie die Augen. »Sturmwind, wie schön dich zu sehen. Sind wir in Sicherheit?«
»Wir sind im Panzer. Wie geplant.«
Ruckartig dreht sich Sam zu Urs um. »Worauf wartest du noch?«, fragt er brüsk. »Bring uns hier raus, aber schnell!«
»Schon gut, Sam. Bin ja schon dabei. Da ist nur eine Kleinigkeit noch.«
»Was denn?«, fragt er unwirsch.
»Zwei Panzer blockieren die Ausfahrt.«
»Baller sie weg!«, antwortet Sam ungeduldig. »Nein, warte, ich habe eine bessere Idee. Wir brechen durch die Wand. Gleich hier vor uns.«
»Hast du das Betriebssystem sabotiert?«, fragt Vilca besorgt. »Du weißt, solange die EUIC ihre Computer noch hat, werden wir nicht weit kommen.«
»Ich war gerade dabei, als wir ein Alarmsignal von unseren Körpern bekamen.«
»Also nicht.«, seufzt die Sängerin. Die Enttäuschung ist ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie drückt ihren Freund fest an sich. »Dann war alles umsonst.«, flüstert sie.
»Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Paul und ich können zurück.«
Sam beobachtet, wie ein Hoffnungsschimmer in den Augen seiner Freundin aufkeimt.
»Wie hast du das nur gemacht? Nein, keine Erklärung. Später.«, sagt sie schnell. »Ihr müsst sofort zurück und die Sache zu Ende bringen.«
***
Erst nachdem Cyclone und Zero sich an die gleißende Helligkeit gewöhnt haben, können sie sich in der riesigen Halle des inneren Kerns des Rechenzentrums umschauen. Das Portal, das Cyclone mit seinem Dreizack beschädigt hatte, ist wieder hergestellt. Von den Wächtern ist nichts zu sehen, aber er ist sich sicher, dass sie nicht weit sind.
»Zu allererst brauchen wir Rechenleistung und Speicherplatz.« Cyclone tritt an eine der roten Säulen heran. »Das sollte für den Anfang reichen.«, murmelt er und steckt seine Hand hinein.
»Warte!«, schreit Zero, aber es ist schon zu spät.
Cyclone hätte besser auf seinen Freund gehört. Diese unbedachte Aktion beschert ihm ein Erlebnis, das sich in sein Gedächtnis einbrennen wird. Sofort nachdem er seine Hand in die Säule steckte, wird er von einem gewaltigen Strom erfasst, der seine ganze Existenz aufsaugt und mitreißt. Das geschieht so schnell und mit solcher Macht, dass alle seine Barrieren und Schutzvorrichtungen wie von einem Tsunami erfasst und fortgespült werden. Hilflos ist er der Fülle schier endloser Rechenleistung ausgesetzt. Er fühlt sich wie ein winziges Staubkorn in der unendlichen Weite des Universums. Cyclone verliert sich darin und kann sich plötzlich nicht mehr erinnern, wer er ist, warum er hier ist und was er will. Bilder und Szenen aus seinem Leben ziehen stroboskopartig an ihm vorüber. Interessiert betrachtet er sie, ist sich aber nicht einmal bewusst, dass es sich um seine Eigenen handelt.
Immer wieder taucht ein Gesicht auf, das etwas tief in seinem Innersten berührt. Aus Neugierde folgt er dem Gefühl. Er kennt die Person, kann sich aber nicht an ihren Namen erinnern. Sie spricht mit ihm, aber in dem Getöse um ihn herum versteht er nicht, was sie sagt.
Cyclone versucht, von ihren Lippen zu lesen. Immer wieder ruft sie einen Namen. »Sam!« Wer ist dieser Sam?, fragt er sich. Schließlich gibt er es auf, von ihren Lippen zu lesen und schaut ihr in die Augen. Dann fällt ihm alles wieder ein. Wer sie ist, wer er ist, wo er ist und was seine Aufgabe ist. Schlagartig bekommt das Chaos um ihn herum Sinn. Er identifiziert die Ressourcen des Rechenzentrums, beginnt sie zu ordnen und besetzt sie mit seinen Programmen.
Zero beobachtet verschreckt die Wandlung seines Freundes. Sofort nachdem er leichtsinnig und ungeschützt in die Säule griff, begann diese ihn aufzusaugen. Gierig wie ein Investmentbanker, dem ein Milliardenbonus winkt. Zunächst sah es aus, als würde er für immer darin verschwinden. Doch dann wandelte sich das Bild. Aus der Säule strömt nun eine Windhose, die schnell größer wird. Schon zerren die Winde an ihm und drohen ihn mitzureißen.
»Cyclone!«, schreit Zero. »Hey, ich bin auch noch da. Pass auf!« Der Wikinger hat wenig Hoffnung, dass er bei dem Lärm, den der Wirbelsturm verursacht, gehört wird. Doch zu seiner Überraschung taucht plötzlich das überlebensgroße Gesicht seines Freundes vor ihm auf.
»Keine Sorge. Ich habe dich nicht vergessen. Du siehst aus, als könntest du auch was von den Systemressourcen gebrauchen. Komm. Es gibt mehr als genug. So viel hast du noch nie gehabt. Das ist ein geiles Gefühl.«
Cyclone gibt seinem Freund dosierten Zugriff. Innerhalb von Sekunden wächst sein Avatar zu beeindruckender Größe heran.
»Du hast Recht!«, bestätigt Paul. »Das ist wirklich episch. Ich fühle mich so stark, ich könnte die Erde aus den Angeln heben und auf den Mond w …, pass auf!«, schreit er plötzlich, aber es ist schon zu spät. Wie aus dem Nichts sind die Wächter des Betriebssystems wieder aufgetaucht. Einer von ihnen zerteilt die Windhose mit seinem Schwert in zwei Hälften. Das Ende des Sturms scheint gekommen, aber dann regeneriert Cyclone sich wieder.
Auch der abgetrennte Stumpf stirbt nicht ab, sondern wächst selbst zu einem Wirbelsturm heran. Fast so groß und mächtig wie Cyclone selbst. Noch während er wächst, wirbelt die Windhose hinter den Wächter. Der scheint zu ahnen, was ihm bevorsteht. Er wuchtet sein Schwert mit aller Kraft nach hinten, aber es ist zu spät. Laut brüllend wird er zwischen den beiden Wirbelstürmen zerfetzt und seine Bits und Bytes in alle Winde verstreut.
Zero ist von dem Anblick so fasziniert, dass er den Angriff auf sich beinahe zu spät bemerkt. Aus den Augenwinkeln sieht er eine Bewegung. Blitzschnell dreht er sich zur Seite und blockt den Schwerthieb mit seinem Schild.
Der Aufprall verursacht einen tiefen Glockenton und sein Schild vibriert bedenklich. Aber er hält. Der Wikinger schlägt mit seiner Axt zurück. Der Wächter pariert mit seinem Schild und wieder durchdringt ein mächtiger Glockenton den Raum. So geht es eine Weile hin und her, ohne, dass einer der beiden einen Vorteil für sich erringen kann.
Trotzdem ist Zero zufrieden. Kein Vergleich zu der letzten Begegnung. Dank des direkten Zugriffs auf die Systemressourcen sind die Chancen ausgeglichen. Auf Dauer wird das aber nicht reichen. Die Art, wie sein Schild vibriert, verheißt nichts Gutes. Lange wird seine passive Bewaffnung nicht mehr halten. Er überlegt fieberhaft, wie er seinen Gegner austricksen kann. Zero beobachtet und analysiert dessen Taktik. Sein Kontrahent ist ein Meister des Schwertkampfs. Er gibt sich keine Blöße. Der Wikinger ändert seine Taktik und täuscht Schwäche vor. Zuerst hält er seinen Schild so, dass er unter der Wucht eines Schlages zerspringt. Dann lässt er sich zurückdrängen und tut so, als ob er seine Axt kaum mehr heben kann. Es ist ein riskantes Spiel, aber er weiß, was er tut.
Schließlich steht er mit dem Rücken zu einer Säulengruppe und hat keine Möglichkeit mehr auszuweichen. Der Wächter wittert seine Chance. Noch während er zu einem vernichtenden Schlag ausholt, stürmt er los. Zero wartet mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern ab, die Axt auf den Boden aufgestützt.
Erst als die glühende Klinge auf ihn niedersaust und droht, ihn von Kopf bis Fuß zu spalten, reagiert er. Blitzschnell macht er einen Side-Step und dreht sich einmal um seine eigene Achse.
Der Wächter ist von dem Manöver so überrascht, dass er nicht rechtzeitig reagiert. Der Schwerthieb geht ins Leere und er läuft, von seinem eigenen Schwung mitgerissen, weiter auf Zero zu. Dieser beendet seine Drehung genau in dem Moment, als der Angreifer mit ihm auf gleicher Höhe ist. Der Wikinger kanalisiert seinen Drehimpuls in seine Axt und schlägt seinem Gegner den Kopf ab.
Der Schädel landet in der Säule. Den Körper befördert er mit einem Tritt hinterher. Zero sieht zu, wie die Teile aufgesaugt werden. Der Wikinger hat nicht vor zu warten, bis der Wächter daraus wieder hervorkommt. Mit aller Kraft treibt er seine Axt in den Pfeiler, sorgfältig darauf bedacht, im letzten Moment loszulassen.
Das Blatt der Waffe dringt mit einem Knirschen, das durch Mark und Bein geht, bis zur Hälfte in die Säule, die Teile des Betriebssystems symbolisiert. Schlagartig verliert sie um die Einschlagstelle herum ihre Leuchtkraft. Dann breitet sich Dunkelheit nach oben und unten aus wie eine Spinne, die unzählige schwarze Extremitäten ausstreckt und alles, was sie berührt in das Reich der Finsternis zieht.
Wie aus dem Nichts schießen Engel herbei und versuchen das strahlende Grün der Säule zu retten, indem sie sich den finsteren Rissen entgegenstellen. Trotzdem kann sich die Schwärze bis auf halbe Höhe ausbreiten.
Bis dahin ist Zero aber schon längst weg, Cyclone zu helfen. Dieser wird von drei Wächtern bedrängt. Immer wieder reißen sie gewaltige Fetzen aus seinen Wirbelstürmen, die er nur mit Mühe wieder ersetzen kann.
Noch im Laufen zieht der Wikinger sein Schwert und benutzt es wie einen Speer, um es dem nächsten Wächter von hinten an der Schwachstelle zwischen Helm und Rüstung in den Nacken zu rammen.
Zero verliert keine Zeit, das Schwert wieder herauszuziehen, sondern rammt den Wächter von hinten und katapultiert ihn in die nächste Säule. Blitzschnell greift er nach seinem Bogen, legt einen Pfeil ein und schießt auf den zweiten Gegner, der sich ihm gerade zuwendet. Der Pfeil trifft ihn im Auge. Der Hüter lässt einen markerschütternden Schrei los, lässt sein Schwert fallen und wirft den Kopf nach hinten.
Mehr Ablenkung braucht Cyclone nicht. Innerhalb von Sekunden zermalmen zwei wütende Wirbelstürme den angeschlagenen Wächter. Dann zucken Blitze aus dem Tornado und schlagen in den Säulen um ihn herum ein. Zuerst glaubt Zero, es ist ein Versuch sie zu zerstören, aber dann erkennt er, dass sein Freund darüber die Systemressourcen in sich aufsaugt.
Cyclone wächst rasant und dreht sich immer schneller. Zero wird von der Windhose erfasst und durch die Luft gewirbelt. Der Wikinger weiß, es ist Zeit für ihn, das Holovers zu verlassen. Gerne hätte er den Akt der finalen Zerstörung noch angeschaut, aber solchen Urgewalten weicht man besser aus. Er hofft nur, dass Cyclone sich rechtzeitig losreißen kann und sich nicht zusammen mit dem Betriebssystem selbst vernichtet.
***
Aya richtet die Resonanzkanone auf den Panzer, der sie verfolgt. Ohne mit der Wimper zu zucken drückt sie ab. Sie weiß, welche Wirkung der Schuss auf die Menschen darin hat. Ein paar Stunden Unwohlsein ist viel zu wenig Strafe für das, was die EUIC ihr und ihren Freunden angetan hat. Findet sie. Mit Genugtuung stellt sie fest, dass der Panzer stehen bleibt.
»Achtung, da kommt schon wieder ein Hubschrauber!«, warnt Vilca.
»Mist.«, kommentiert Urs. »Wie viele Hubschrauber haben die eigentlich? Nach dem EMP sollte eigentlich kein einziges mehr von den Dingern fliegen.«
»Ich übernehme ihn mit der Laserkanone.«, entscheidet Vilca. »Es dauert zu lange, bis die Resonanzwaffe wieder aufgeladen ist.«
Vilca, Urs und Aya befinden sich im Holovers des Panzers. Von dort haben sie eine perfekte kampftaktische Übersicht und können die Lage aus jedem erdenklichen Blickwinkel erfassen. Das ist auch notwendig, da die EUIC alle verfügbaren Mittel einsetzt, sie wieder einzufangen. Beunruhigt stellt Vilca fest, dass sie dabei umso weniger zimperlich vorgehen, je länger ihre Flucht andauert. Jetzt gerade feuert der Hubschrauber eine panzerbrechende Rakete auf sie ab. Vilca holt das Maximum aus der Laserkanone heraus und schießt den Flugkörper wenige Meter vor dem Aufschlag ab.
»Das war knapp.«, kommentiert Aya und lässt hörbar die Luft aus den Lungen.
»Gut gemacht!«, lobt Urs.
»Oh, verdammt!«, unterbricht die Chinesin die Lobeshymnen. »Da vorne ist Endstation.«
Vor ihnen fährt ein Panzer auf, der doppelt so groß ist wie ihrer.
»Hat jemand eine Idee?«, fragt Urs wenig zuversichtlich. Links und rechts sind Häuser. »Bis zur nächsten Kreuzung sind’s zweihundert Meter. Bis dahin sind wir dem Monster da vorne schutzlos ausgeliefert.«
»Und der Hubschrauber ist auch noch da.«, erinnert Vilca.
In diesem Moment schlägt Paul die Augen auf. Doch jeder ist so auf die Situation konzentriert, dass ihn niemand bemerkt. Urs‘ Gedanken rasen. Auf keinen Fall will er hier stehen bleiben und warten, bis sie abgeschossen werden. Entschlossen legt er den Rückwärtsgang ein und gibt Vollgas. Nach wenigen Metern lenkt er nach rechts und bricht mit dem Heck durch die Glasfront eines Autohauses. Gerade rechtzeitig, um zuzusehen, wie eine Rakete einen Krater in die Straße vor ihnen sprengt. Vilca und Aya schauen ihn fragend an. Urs zuckt mit den Schultern.
»So sind wir wenigstens aus der direkten Schusslinie.«
»Mehr als ein paar Sekunden bringt uns das aber nicht.«, bemerkt Aya. Sie wirkt besorgt.
»Das könnte reichen.«, meldet sich Paul, der in diesem Moment aus dem Holovers auftaucht. Alle drehen sich ihm überrascht zu.
»Was ist mit Sam?«, fragt Vilca noch, bevor jemand anderes etwas sagen kann.
»Oh, er rast gerade als Wirbelsturm durch das Betriebssystem des Deutschen EUIC. Ich fürchte, das wird dabei größeren Schaden nehmen.«
»So lange kann das doch nicht dauern.«, bohrt Vilca nach. »Und wieso bist du zurück und er noch nicht?«
»Tja, äh, Sam hat wohl vor, die Sache gründlich zu erledigen. Nachdem er so gewütet hat, erschien es mir ratsam mich zu verziehen. Womöglich hätte er mich sonst im Holovers komplett gelöscht. Das kommt nicht gut an, wie ihr wisst.«
Vilca weiß, was das bedeutet. Dazu braucht sie nicht einmal in die besorgten Gesichter von Urs und Aya blicken. Sie springt auf und beugt sich über Sam.
»Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«, sagt sie, während sie ihn an dem empfindlichen Nerv hinter dem Ohr berührt. Das ist das vereinbarte Zeichen für ihn, aus dem Holovers zurückzukommen, wenn Gefahr in der realen Welt droht.
Da ihr Freund keine Reaktion zeigt, drückt sie fester.
»Au!«, schreit Sam und packt sie am Handgelenk. »Ist ja gut, ich bin ja schon wach.«
»Du warst die ganze Zeit schon wach!«, wirft ihm Vilca vor. Gleichzeitig entspannt sie sich und lächelt.
»Nur ein paar Sekunden. Gerade so viel, um die liebevolle Massage am Ohr zu genießen.«
»Du Schuft. Ich habe mir solche Sorgen gem …«
»Ich störe nur ungern.«, platzt Urs dazwischen. »Aber wir haben ein Problem.«
»Welches?«, fragt Sam.
Urs deutet nach vorne. Dort ist der Panzer aufgefahren und dreht seine Schallimpulswaffe in ihre Richtung.
»Das soll ein Problem sein?«,
Sam schaut mit großen Augen in die Runde.
»Ja!«, kommt es aus vier Kehlen gleichzeitig.
»Na, dann passt mal auf.«
Sam loggt sich blitzschnell so in das Holovers des feindlichen Panzers ein, dass jeder mit dabei ist. Mitten am Armaturenbrett erscheint ein roter Ausschaltknopf. Er drückt ihn mit einem Finger und deaktiviert so die Bedrohung. Verwunderte Blicke ruhen auf ihm. Sam lehnt sich zurück und grinst.
»Was schaut ihr mich so an? Der Ausflug in das Betriebssystem des EUIC hat auch seine guten Seiten gehabt. Ihr werdet kaum glauben, was da alles so rumlag und um Mitnahme bat.«