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1. Kleiderordnung

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Klank! Aya verzieht den Mund, lässt die Spitzhacke auf den Boden poltern und betrachtet das Ergebnis. Obwohl sie mit voller Kraft zuschlug, zeigt sich die Ragnoceritpanzerung wenig beeindruckt. Außer einem kleinen Kratzer ist nichts zu sehen.

Neben ihr hämmert ihr Freund mit wuchtigen Hieben auf das widerspenstige Material ein. Sein nackter Oberkörper glänzt vor Schweiß. Selbst er bricht nur kleine Brocken heraus. Immerhin! Sie bemerkt, dass er innehält und ihre Arbeitsleistung begutachtet.

»Noch ein paar Schläge und du hast das nächste Stück herausgeschlagen.«, versucht er sie aufzumuntern.

»Wohl eher Splitter.«, seufzt Aya. Neidisch wirft sie einen Blick auf die Muskeln ihres Freundes. »Ich glaube, es nützt uns allen mehr, wenn ich Sam helfe etwas zu erfinden, das uns beim Graben hilft. Mein Beitrag zu unserer Befreiung lässt sich in einem Kaviardöschen zusammenkratzen.«

»Mag sein, aber erst bringst du deine Schicht zu Ende. So wie alle anderen auch.«, gibt sich der Bodybuilder streng.

Sie funkelt ihren Freund an.

»Das ist doch Zeitverschwendung!«

Urs wirft einen prüfendenden Blick auf die zartgebaute Chinesin.

»Ganz und gar nicht. Die körperliche Tätigkeit ist gut für dich. Glaub mir, wenn wir draußen sind, wirst du für die Kraft und Kondition, die du dir hier holst, dankbar sein.«

Aya prüft ihre Oberarmmuskulatur.

»Das ist ungerecht. Seit Wochen quäle ich mir einen ab und das Ergebnis ist kaum der Rede wert. Ich bin genetisch einfach anders veranlagt. Mehr Kopfarbeiterin als körperlich. Ich glaube, Sam braucht mich dringender im Labor als hier. Ich verstehe nicht, dass er nicht schon längst eine Maschine gebaut hat, die uns die Arbeit abnimmt.«

»Weil wir dafür nicht die nötigen Materialien haben und weil es eine Ewigkeit dauert, einen Tunnelbohrer mit einem Nanoprinter zu drucken. Das weißt du doch.«, erinnert Urs an die Tatsachen. »Immerhin hat er unsere Werkzeuge mit einer Diamantschicht gehärtet. Sonst würden wir gegen diese synthetische Panzerung auf Basis von Spinnenseide und Keramik rein gar nichts ausrichten.«

»Ich weiß.«, seufzt Aya. »Aber neun Monate lang diese Schufterei halte ich nicht aus. Ich fürchte, ich sterbe vorher an Erschöpfung. Es muss einfach einen leichteren Weg geben.«

Urs lächelt seine Freundin aufmunternd an.

»Keine Angst, du stirbst nicht daran. Im Gegenteil. Die Veränderungen an deinem Körper machen sich gut.« Er zwinkert ihr zu und betrachtet demonstrativ ihren Po, bevor er fortfährt. »Und jetzt genug geschwätzt. Reiß dich zusammen. Unsere Schicht ist noch längst nicht zu Ende.«

Die Chinesin schaut ihn eine Weile nachdenklich an. Dann greift sie zu ihrer Spitzhacke, stößt einen Kampfschrei aus und schlägt mit aller Kraft zu.

***

»Bist du überhaupt nicht müde?«

Sam schüttelt den Kopf. Er weiß, dass seine Assistentin Enola lediglich aus Höflichkeit fragt. Er hat sie schließlich selbst erschaffen und ihr unbeschränkten Zugriff auf seinen Körperzustand gegeben. Die Daten bestätigen, dass ihn die Grabarbeiten wenig belasten. Er ist durch die jahrelangen Sportaktivitäten mit Vilca gewöhnt, seinen Körper bis an die physischen Grenzen zu beanspruchen.

Der Erfinder betrachtet die künstliche Intelligenz neben sich. Ihre virtuelle Existenz hat es in sich. Gewisse Teile ihres Körpers trotzen der Schwerkraft wie in einem Superheldinnen-Comic. Weder die Kurven noch der Lederfetisch sind Teil ihrer ursprünglichen Programmierung. Wenigstens durften die roten Haare, die kupferfarbene Haut und die violett getönte Brille bleiben. Der unfreiwillige Schöpfer der Sexbombe seufzt. Innerhalb weniger Jahre hat das selbstlernende Computerprogramm eine eigene Persönlichkeit, Vorlieben und Macken entwickelt, die so weder geplant noch vorhersehbar waren.

»Zieh dir endlich was Ordentliches an. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das bei mir nicht wirkt?«

Enola zieht einen Schmollmund.

»Sei doch nicht so prüde. Wir sind schließlich allein.«

Das stimmt. Sam sitzt in dem kleinen Aufenthaltsraum des Bunkers, den er zu seinem Labor erklärt hat. Allein. In der realen Welt ist das quadratische Zimmer funktionell und spartanisch eingerichtet. Die Wände kahl. Der Erfinder hatte weder Lust noch Muße, sich mit der Ausgestaltung des Raums in der wirklichen Welt zu befassen. Stattdessen gestaltete er sein eigenes Holovers als eine Lichtung an einer Flussbiegung. Enola und er sitzen sich gegenüber, jeder auf einem Holzstamm. Ein blauer Schmetterling ruht mit ausgebreiteten Flügeln auf einer Sommerfliederrispe und lässt sich von der Sonne wärmen. Anfangs hatte er keinen Namen. Bis Vilca in Sams Leben trat. Sie hat ihn Morpheus getauft.

Sam verleiht seinem Befehl mit stahlharter Mine Nachdruck. Enola schmollt noch mehr, gehorcht letztendlich und verhüllt ihren Körper mit einem hochgeschlossenen Kleid in Schwarz mit Goldbestickung. Auf den ersten Blick durchaus gesellschaftsfähig, bei genauerem Hinsehen regen sich Zweifel. Er beschließt die Allüren seiner Assistentin zu ignorieren und sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er deutet auf einen Holzstab, der im Gras liegt.

»Mach dir lieber Gedanken darüber, wie viel Akkukapazität wir in diesen Wanderstab integrieren können.«

Enola erstarrt für ein paar Sekunden. Dann legt sie los.

»Es kommt natürlich auf die Größe an. Die wiederum hängt von der Konstitution der Person ab, die ihn benutzt. Was Aya gut in der Hand liegt, ist für Urs nicht mehr als ein besserer Zahnstocher. Dann kommt es noch auf die Stabilität an. Soll er im Notfall auch als Waffe dienen? Welches Holz steht uns zur Verfügung? Ideal wären Hasel, Schwarzdorn oder Esche. Die sind langfaserig, elastisch und nicht zu schwer. Wir haben nur Buche und Ba...«

Sam unterbricht sie mit einem Blick an die Decke.

»Enola! Bitte, komm zum Punkt.«

Die KI hält die Luft an und mustert ihren Meister über den Rand ihrer Brille.

»Na schön. Neun Kilowatt in einem kleinen Stab für Aya und elf in einem der Urs‘ Konstitution entspricht. Den Rest kannst du in der Dokumentation nachlesen, die ich für dich produziert habe.«

Der Erfinder greift sich das Blatt Papier, das sie ihm hinhält und wirft einen Blick darauf. Zehn Kilowatt für einen mittleren Stab. Das reicht für sieben Tage und vier Stunden, bei großzügigem Einsatz der elektronischen Hilfsmittel. Er nickt zufrieden.

»Nicht schlecht. Damit sind wir autark. Das gibt uns ausreichend Bewegungsfreiheit für das Leben nach der EMP-Katastrophe. Das hoffe ich zumindest.«, fügt er nachdenklich hinzu.

Enola runzelt die Stirn.

»Ich frage mich, was dich zu dieser Hoffnung veranlasst. Wir haben keine Ahnung, wie viel Schaden die elektromagnetische Strahlung der im Weltall gezündeten Atombomben angerichtet hat. Je nach Verfügbarkeit der elektrischen Infrastruktur ist unser Bewegungsradius im schlimmsten Fall auf eine Woche im Umkreis unseres Bunkers beschränkt.«

Sam reibt sich das Kinn.

»Zumindest solange wir die Annehmlichkeiten von digitalen Assistenzsystemen, Kommunikation und Nanobots genießen wollen.«, stimmt er zu. »Wenn es wirklich so schlimm ist, müssen wir uns mit diesen Hilfsmitteln ganz besonders vor dem Neid der anderen Menschen in Acht nehmen. Umso wichtiger ist es, sie unauffällig in unsere Kleidung und Alltagsgegenstände zu integrieren.«

»Ich verstehe! Da bieten sich so Sachen an wie Minirechner in Amulette oder Gürtel, Transceiver und Antennen in Hüte, Akkus in Wanderstäbe und Nanobots in Halsketten einzubauen.«

Sam reißt die Augen auf und staunt seine Assistentin an.

»Super Idee! Ich möchte, dass du sofort mit der Planung beginnst.«

Der Erfinder wundert sich über Enolas verwirrten Gesichtsausdruck. Hatte sie etwa ihren Vorschlag ironisch gemeint? Nachdenklich schüttelt er den Kopf.

***

Mit Enolas Hilfe setzt Sam seine Ideen in die Tat um. Nur wenige Wochen nach ihrem Gespräch im Labor, ist er bereit für eine Demonstration vor seinen Freunden. Er präsentiert seine komplette Ausrüstung vor versammelter Mannschaft. Es gibt gleich Abendessen und der Tisch ist schon gedeckt. Das Aufenthaltsraum-Holovers liefert diesmal leise Sirtaki-Musik, blau gestrichene Stühle und eine Tischplatte aus Treibholz. Sogar ein knorriger Olivenbaum ragt in den Nachthimmel auf und rundet das Tavernenambiente ab.

Stolz und selbstbewusst betritt er das Lokal. Urs schaut ihn mit großen Augen an und lacht schallend los. Auch die anderen stimmen schnell ein. Vilca versucht noch eine Weile krampfhaft sich auf kichern zu beschränken, gibt dann aber auf und prustet lauthals los.

»Schön, dass ich euch so erheitern kann.«, bemerkt Sam frustriert. »Würdet ihr bitte die Güte aufbringen mir zu erklären, was hier so lustig ist?«

Vilca müht sich, ihr Lachen zu unterdrücken. Nach einer Weile gelingt es ihr auch. Danach sieht sie ihrem Geliebten in die Augen. Sie gibt ihr Bestes, ihre Stimme ernst klingen zu lassen:

»Du siehst aus wie Gandalf, der Kunterbunte.« Bei der letzten Silbe ist ihre Ernsthaftigkeit dahin und sie bricht mit den anderen wieder in schallendes Gelächter aus. Tränen laufen über ihre Wangen.

Sam unterdrückt einen Fluchtimpuls. Er stammelt eine Erklärung, bei der Worte wie »Funktion wichtiger als Mode«, »begrenzter Kleiderfundus« und »praktischer Nutzen« vorkommen, die aber im allgemeinen Gelächter untergehen. Schließlich schweigt er und presst die Zähne aufeinander.

»Schicker Hut.«, kommentiert Paul. »Wenn Gandalf so zu Saruman gegangen wäre, hätte der sofort einen schweren Farbschock bekommen, wär' freiwillig aus seinem Turm geflohen und hätte Mittelerde schnurstracks auf immer und ewig verlassen.«

»Hoppla!«, Urs schafft es gerade noch rechtzeitig, Aya festzuhalten, bevor sie vor Lachen unter den Tisch rutscht.

»Also, das wird mir jetzt zu bunt hier. Hört auf zu lachen.«, ruft Sam, aber keiner hört auf ihn.

»Mir ist auch schon ganz kunterbunt.«, presst Vilca, mühsam beherrscht zwischen zwei Lachern hervor.

Nun gerät Urs seinerseits in Gefahr unter den Tisch zu rutschen. Aya versucht, ihn zu halten, aber angesichts der Körpermasse ihres Freundes wirken ihre Anstrengungen eher wie eine Geste.

»Jetzt reicht’s!«, donnert Sam, um das Gelächter zu übertönen. »Ich bin hier nicht euer Cyberwitzard.« Er stößt mit seinem Stab so heftig auf den Boden, dass der ganze Raum dröhnt und die Blätter des Olivenbaums zittern.

Dann aktiviert er seine Nanobots und lässt sie den Tisch hochheben. Er schwebt kurz und fällt danach mit einem lauten Rumms herunter. Das Geschirr und die Gläser klirren empört wegen der groben Behandlung. Immerhin erlangt er damit die Aufmerksamkeit seiner Freunde. Das Lachen reduziert sich zu einem Kichern.

Endgültig ruhig wird es, als er seinen bodenlangen Umhang in einer schwungvollen Bewegung um sich schlingt und verschwindet. Na ja, nicht ganz. Sein Gesicht schwebt wie von Geisterhand getragen in der Luft. Selbst der Hut ist weg. Zu guter Letzt lässt Sam noch das Essen von der Küche hereinschweben. Es gibt gefüllte Weinblätter, Pitabrot, Schafskäse, Gyros und Bauernsalat. Der Duft der Speisen wird vom Knoblauchodem des obligatorischen Tsatsiki in die hinterste Ecke gedrängt.

»Beeindruckende Vorstellung!«, kommentiert Urs schließlich. »Vor allem das mit dem Tarnmantel. Wie hast du das gemacht?«

»Ah, das möchtest du gerne wissen. Vorhin hast du mich noch ausgelacht. Ich hoffe, dir ist nun klar geworden, wie wichtig meine Arbeit für uns ist. Wie dem auch sei. Das System besteht aus einer Unzahl winziger Kameras und Leuchtdioden. Es stellt auf dem Mantel den Hintergrund aus dem Blickwinkel des Betrachters dar. Es ist allerdings nicht perfekt. Wenn mehrere Leute aus verschiedenen Richtungen darauf schauen, dann muss die Elektronik entscheiden, für welche Person man unsichtbar sein soll. Für alle anderen stimmt dann die Abbildung des Hintergrunds nicht mehr.«

»Wow!«, zeigt sich der Bodybuilder beeindruckt. »Sag bloß, du hast die gesamte Technik dafür in dem bunten Zeugs da untergebracht?«

Der Ausdruck sorgt sofort wieder für ein allgemeines Grinsen und Kichern. Immerhin, bemerkt Sam, ist es jetzt kein schallendes Gelächter mehr.

»Ja, die Energieversorgung für die Nanobots und den Computer für das Holovers befinden sich in meinem unauffällig aussehenden Wanderstab. Der Rechner ist in einem Medaillon, das ich um den Hals trage. Die Kette dafür besteht aus Nanobots und die Antennen für die Funkverbindungen habe ich in den Hut integriert. Die Form von Gandalfs Kopfbedeckung ist dafür optimal.«

Er nimmt das Teil ab und betrachtet es nachdenklich.

»Naja, so ungefähr.«, gibt er schließlich zu. »Das ist aber nicht entscheidend. Hier habe ich etwas Neues ausprobiert. Das Besondere daran ist die Oberfläche. Sie besteht aus einer Schicht mit negativem Lichtbrechungsindex.«

»Dann müsste er aber immer unsichtbar sein.«, bringt Urs seine Fachkunde zum Ausdruck.

Sam wirft dem Bodybuilder einen kühlen Blick zu.

»Das ist nicht nur ein einfaches Metamaterial, das das Licht um die Kleidung herumleitet. Man kann es mit einem elektrischen Puls aktivieren und deaktivieren.«

»Geil!«, lobt Paul. »Das ist besser als der Tarnumhang von Harry Potter. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie hast du das gemacht?«

Ein Lächeln stiehlt sich auf Sams Gesicht. Die bewundernden Blicke seiner Freunde sind die Genugtuung für ihren vorangegangenen Spott.

»Das bleibt mein Geheimnis. Ich verrate nur so viel: Ohne Nanoprinter wäre es nicht möglich, so ein Material herzustellen.«

»Das will ich auch haben!«, kommt es von seinen Freunden unisono.

Nur Vilca ist noch nicht ganz zufrieden.

»Aber an deinem Styling müssen wir noch arbeiten. So lasse ich dich nicht aus dem Bunker und unter die Leute.«

Evolution 5.0 - Selektion

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