Читать книгу Seewölfe Paket 4 - Roy Palmer - Страница 49
4.
ОглавлениеSie tranken Rum, und es war der beste, der ihnen jemals präsentiert worden war.
Nur Siri-Tong trank nichts. Ihr Gesicht war eine steinerne Maske. Das hing nicht damit zusammen, daß sie sich über die rumtrinkenden Männer ärgerte oder etwa damit, daß diese Männer sie abgeschirmt hatten. Nein, es hing damit zusammen, daß sie, die Rote Korsarin, die bisher stolz über Männer geherrscht hatte, hier eine Rolle spielte, die anscheinend immer nebensächlicher wurde. Der blauäugige Teufel Killigrew ignorierte sie geflissentlich und war im übrigen die alles überragende Persönlichkeit in dieser Grotte der wilden Gesellen.
Eine knisternde Spannung war entstanden.
Bis in den letzten Winkel der „Schildkröte“ schien spürbar geworden zu sein, wer künftig die Karibik beherrschen würde. Der grausame, von vielen gehaßte Caligu gehörte der Vergangenheit an. Ein Freibeuter anderen Schlages war aufgetaucht: der Seewolf. Er lebte und war doch schon eine Legende, eine Legende, die nicht dunkel, sondern hell schimmerte.
Diese Legende erzählte nichts von brutaler Unterdrückung, von gemeiner Gewalt, von Grausamkeit, Folter oder bestialischem Blutdurst. Nein, sie erzählte etwas von Freiheit, von Würde, Ritterlichkeit, Trotz und verwegenem Mut, der selbst dem Tod in das grinsende Gesicht lachte.
Siri-Tong zog die Schultern zusammen. Der Seewolf und seine Männer waren Freibeuter wie alle hier, und doch waren sie anders.
Was es war, begriff sie nicht so ganz, aber eins begriff sie: keiner der Karibik-Wölfe hier in der Felsgrotte getraute sich an den Tisch heran, den die Seewölfe besetzt hatten. Und damit würde auch kein Mann erscheinen, um sich für ihre Siri-Tong-Mannschaft anzubieten.
Diese verdammten Seewölfe schirmten sie ab wie eine Mauer, die niemand zu übersteigen wagte. Sie beherrschten die „Schildkröte“, als gehöre sie ihnen. Und sogar Diego, der niemals irgendeine Partei ergriffen hatte, war von seiner Generallinie abgewichen und ließ eindeutig erkennen, wen er uneingeschränkt bewunderte: die Seewölfe.
„Madame!“
Siri-Tong schreckte aus ihren Grübeleien hoch und blickte in die eisblauen Augen Philip Hasard Killigrews.
„Madame“, wiederholte der Seewolf, „ich fürchte, wir haben jene verschreckt, die vielleicht mit Ihnen sprechen möchten und die Absicht haben, unter Ihrem Befehl zu segeln und zu kämpfen. Ich erlaube mir daher, vorzuschlagen, daß meine Männer und ich sich zurückziehen. Ich habe das Gefühl, daß wir im Wege sind.“ Er lächelte. „Ich glaube nicht, daß Sie noch gefährdet sind, Madame.“
Was für ein Mann! dachte Siri-Tong. Er hat Rum getrunken und ist von einer heiteren Gelassenheit. Dabei liest er Gedanken, blickt einem in die Augen, daß man meint, in einem Gletscher zu versinken und dennoch Wärme zu spüren, und er lächelt, als spräche er mit einem Kind, das nach Trost verlangt, weil es Schmerzen hat.
Ein Vater, dachte Siri-Tong. Nein, ein Bruder. Nein, auch das nicht. Ein Freund? Nein, nein – ein Geliebter, ein Mann, ein Mann! Ein Vater, ein Bruder, ein Freund, ein Geliebter – ein Mann. Alles das, o Gott, alles das …
Das wechselnde Bild war brutal.
Der Mann mit den gelben Augen, der Halbglatze und den verknorpelten Ohren war ein Alptraum. Er war plötzlich da, stand hinter dem großen, blonden Mann, der Stenmark hieß, und hielt ihm ein zweischneidiges Messer an die Kehle.
Dieser Mann sagte: „Steh auf, du kleines, geiles Luder, sechs Pisser sind zuviel für dich. Einer genügt, und der bin ich, klar? Und keine Mucken, ihr Pisser, sonst schneid ich dem hier die Gurgel durch. Na, komm schon, du kleine Hure, wird’s bald?“
Siri-Tong saß wie erstarrt.
Die Seewölfe rührten sich nicht, aber sie lauerten.
Auf der Theke klirrte etwas, dann knackte es metallisch, als würde ein Hahn gespannt.
Diego, der Fettwanst, der Mann, der niemals Partei ergriff und sich aus den Gewalttaten heraushielt, sagte: „Hier ist eine Muskete, und die habe ich auf dich gerichtet, Bombarde. Wenn du dem blonden Mann die Kehle durchschneidest, jag ich dir ein Stück Blei zwischen die Rippen. Hier sind andere Zeiten angebrochen, du Hundesohn. Hier regiert kein Caligu mehr. Tritt zurück und sage, was du willst. Und wenn gekämpft wird, dann wird hier in der ‚Schildkröte‘ mit den gleichen Waffen gekämpft.“
Bombarde, der mit dem Rücken zur Theke stand, saß in der Klemme, und zwar in einer Klemme, mit der er nie gerechnet hätte. Denn da war plötzlich Diego im Spiel, in einem Spiel, in dem er noch nie mitgemischt hatte, solange er hier war.
„Bist du verrückt?“ fauchte er über die Schulter.
„Nein“, sagte Diego hart, „aber ich will nicht mehr, daß da, wo ich meine Geschäfte betreibe, die Schweinehunde ihre Dreckspfoten drinhaben. Ihr könnt hier saufen und huren und euch die Schädel einschlagen, aber wenn ihr euch die Schädel einschlagt, dann kämpft wie Männer und nicht hinterrücks mit ungleichen Waffen. Spuck’s aus, was du willst und verschwinde – oder kämpfe. Aber tritt von dem Blonden zurück.“
Bombardes Blick huschte über die Seewölfe. Was er in deren Augen las, war die gnadenlose Entschlossenheit, ihn zu Hackfleisch zu verarbeiten. Undeutlich begriff er, daß es ihm gar nichts nutzen würde, den Blonden umzubringen.
Vielleicht würde Diego nicht oder vorbeischießen. Aber den Rückzug bis zu den Stufen des Ausgangs würde er nicht mehr schaffen.
Er trat mit einem schnellen Schritt zurück und sagte: „Ich will dieses Weib da mitnehmen.“ Er deutete mit dem Messer auf Siri-Tong. „Und den Kapitän des anderen Schiffes, wenn er dabei ist.“
Hasard stand auf. „Der ist dabei.“ Er umging den Tisch und blieb lässig etwa vier Schritte vor Bombarde stehen. „Was willst du von Siri-Tong, und was willst du von mir?“
Bombarde grinste. „Mit euch hat jemand eine Rechnung zu begleichen – und ich kassiere dann.“
„Sehr schön“, sagte Hasard eisig. „Jetzt fragt es sich nur, wie du drekkige Ratte die Rote Korsarin und mich dazu bringst, mit dir zu gehen. Hast du darüber schon nachgedacht?“
Bombarde starrte ihn an, irritiert, perplex, daß dieser Mann nicht vor ihm und dem Messer kuschte, ja, gar nicht daran dachte, mitzugehen.
Hasard zuckte mit den Schultern. „Hau ab, du Messerschreck, oder soll ich vielleicht nachhelfen?“
Bombarde duckte sich und streckte das Messer vor.
„Gleich kriechst du freiwillig vor mir her, du Bastard“, keuchte er, „du und deine Hure, oder ich kitzele deine Rippen.“
Der Riese vor ihm glitt plötzlich zur Seite, griff blitzschnell zum rechten Stiefel und hatte ein Messer in der Faust.
„Versuch’s mal“, sagte er leise, aber mit einem gefährlichen Unterton.
Bombarde wich zurück. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber dann packte ihn jähe Wut. Mit einem Aufschrei schleuderte er sein Messer auf den Riesen, den er gar nicht verfehlen konnte.
Entsetzt sah er, daß dieser Mann mit der Schnelligkeit eines flüchtigen Lidschlags aus der Messerbahn verschwunden war. Das Messer klirrte auf die Felstreppen und fiel scheppernd auf die Dielen.
Der Riese ging zu dem Messer, drehte es etwas mit der Stiefelspitze, gab ihm einen Tritt und beförderte es zu Bombarde zurück.
Ein Raunen lief durch die Kneipen-Grotte.
Bombarde starrte mit einem seltsam dümmlichen Ausdruck in seinem brutalen Gesicht auf den Seewolf, dann auf das Messer zu seinen Füßen und wieder auf den Seewolf.
„Heb’s auf und kämpfe weiter“, sagte Hasard kalt. „Oder laß es liegen und verschwinde und bestell demjenigen, der meint, mit mir eine Rechnung begleichen zu müssen, die besten Grüße von mir. Ist er zu feige, selbst die Rechnung zu präsentieren?“
Langsam bückte sich Bombarde und ließ Hasard dabei nicht aus den Augen. Er hob das Messer auf. Wieder schoß die Wut in ihm hoch. Noch keiner war mit dem Messer besser gewesen als er. Es gab keinen. Die es dennoch versucht hatten, waren tot, aufgeschlitzt, abgestochen, erdolcht.
Diesen schwarzhaarigen Teufel würde er in Streifen schneiden, ob es Maria Juanita paßte oder nicht. Scheiß auf die narbengesichtige Hure! Die andere da war besser, viel, viel besser. Die war Extraklasse, eine wilde Katze, aber die würde er schon zähmen, diese kleine Bestie.
Sein Blick huschte zu Siri-Tong hinüber. Sie sah ihn an, hochmütig, angewidert, die schmalen, scharfgezeichneten Augenbrauen verächtlich hochgezogen. Sie wandte den Kopf und musterte aufmerksam den Riesen. Bombarde war für sie abgetan, Luft, ein Stück Dreck, das sie nicht interessierte.
Dieses Weib machte Bombarde rasend.
Mit einem Wutschrei stürzte er auf Hasard los. Der glitt geschmeidig zur Seite, das Messer leicht angewinkelt und etwas vorgestreckt.
Jetzt ging es auf Leben und Tod.
Bombarde hatte seine Chance gehabt, den Kampf abzubrechen. Als er eben waffenlos gewesen war, hatte ihn sein Gegner geschont. Diese Geste hatte Bombarde verkehrt ausgelegt, nämlich als Schwäche. Daß es Überlegenheit war, begriff der sture Totschläger nicht.
Sie umkreisten sich lauernd. Bombarde keuchte. Dieser Kerl war nicht zu fassen und gab sich keine Blöße. Bombarde glitt nach links, stoppte aber plötzlich die Bewegung und sprang jäh vor. Als er zustieß, war der Riese wieder weg. Dafür zuckte etwas Blitzendes auf Bombarde zu – wie ein silberner Mondstrahl –, und ein ätzender Schmerz raste über seine linke Brustseite.
„Du Schwein!“ zischte Bombarde. Seine Linke tastete zur Brust und wurde klebrig. Blut! Sein Blut!
Bombarde brüllte wie ein angestochener Stier. Haß, Wut und Schmerz raubten ihm jegliche Besinnung. Er stürmte blindlings los, vorangetrieben von der Gier, das Blut des anderen fließen zu sehen, ihn zu zerhakken und zu zerstückeln.
Er vergaß seine Deckung. Das Messer schwang er in der erhobenen Rechten wie ein Enterbeil.
Hasard stach sein Messer wie eine Lanze vor.
Bombarde rannte hinein und spießte sich auf.
Hasard glitt zurück. Das Messer ließ er dort, wo es steckte: über dem Bauchnabel des bulligen Kerls. Nur der Griff ragte heraus.
Bombardes Mund war zum Schrei aufgerissen, aber es wurde nur ein Gurgeln daraus. Das Messer fiel aus seiner erhobenen Rechten. Er krümmte sich zusammen. Seine Hände zuckten zu dem Griff in seinem Bauch und umkrampften ihn.
„N-nein – n-nein“, gurgelte er, „ich – ich will nicht …“
Er zerrte an dem Griff, brach in die Knie, zerrte weiter – und kippte um.
Als Hasard ihn umdrehte, blickte er in glanzlose Augen. Bombarde hatte kassieren wollen, aber der Tod hatte ihn kassiert.
Hinter Hasard schnippte Diego mit den Fingern.
„Pedro! Felipe!“ rief der dicke Wirt. „Bringt den verdammten Bombarde nach draußen!“
Ein Neger und ein Kreole tauchten aus den hinteren Grottenräumen auf, packten den Toten am Kopf und an den Beinen und trugen ihn hinaus.
„He, dein Messer!“ rief Ed Carberry.
Hasard schüttelte den Kopf. Er ging zu seinem Platz zurück und setzte sich. Sein Gesicht war unbewegt, aber in seinem Kopf arbeitete es.
Wer hatte mit ihm und Siri-Tong eine Rechnung zu begleichen? Caligu war tot. Hatte vielleicht einer von seinen Kerlen überlebt? Dann fiel Hasard das Weib ein, das Caligus Geliebte geworden war. Siri-Tong hatte ihr eine furchtbare Wunde im Gesicht beigebracht. Sollte diese Frau wider Erwarten nicht ertrunken sein?
Er stand wieder auf und ging quer durch die Grotte zu dem Tresen. Siri-Tong blickte ihm verwundert nach.
Hasard blieb vor dem Tresen stehen und sagte leise zu dem Dicken: „Darf ich Sie etwas fragen, Senor?“
„Natürlich.“
„Sie kannten Caligu, nicht wahr?“
Der Dicke nickte.
„Auch die Frau, die an seiner Seite war – Maria Juanita?“ fragte Hasard.
„Die auch“, erwiderte Diego. Dann stutzte er und sagte: „Warum fragen Sie, Senor?“
„Dieser Bombarde handelte im Auftrag eines anderen. Ich überlegte, ob dieser andere Maria Juanita sein könnte. Aber dann müßte sie unser Gefecht mit Caligu überlebt haben.“
„Sie hat überlebt“, sagte Diego, „jedenfalls wurde mir das erzählt. Sie soll wieder hier in Tortuga aufgetaucht sein und sich mit zwei Kerlen herumtreiben. Einer war Bombarde.“
„Und der andere?“ fragte Hasard.
„Wenn ich das wüßte!“ erwiderte der Dicke, und seine Antwort klang ehrlich. „Mein Mann, der mir die Nachricht über Maria Juanita brachte, nannte nur Bombarde. Ich fragte auch nicht weiter, weil es unwichtig war. Und jetzt ist es für Sie wichtig, nicht wahr, Senor?“
„Ja“, sagte Hasard, „denn wo dieses Weib ihre Fäden spinnt, da gibt’s Mord und Totschlag.“
Nachdenklich kehrte er zu dem Tisch zurück. Diego stellte Ölfunzeln auf die verschiedenen Tische und in die kleinen Nischen der Felswände. Hasard sah, wie tiefverzweigt die Grotte war. Was am Tage im Halbdämmer oder Dunkel lag, wurde jetzt erhellt.
Hasard wollte sich schon hinsetzen, tat es aber dann doch nicht, sondern schlenderte durch die vordere Grotte zum hinteren Teil.
Er musterte die Männer, die dort saßen.
Sie starrten stumm zu ihm hoch. Einige blickten rasch weg, wenn sein eisiger Blick sie traf, andere hielten seinem Blick stand.
Er sah in verderbte, hämische, wüste und tückische Gesichter, aber er entdeckte auch Kerle, die er zu der guten Sorte zählen würde.
Hier waren gut und gern an die fünfzig Karibik-Wölfe versammelt. Ein paar Frauen waren darunter – vom ältesten Gewerbe der Welt. Ihre Gesichter glichen verödeten Landschaften.
Eine rutschte vom Schoß eines spindeldürren Kerls, stieß ihn weg, als er sie festhalten wollte, und steuerte Hasard an. Sie war üppig, ihre Brüste hingen aus der Bluse, ihre blonden Haare waren strähnig und verfilzt.
„Was für ein Wiedersehn, Kapitän Killigrew“, sagte sie mit tiefer, heiserer Stimme.
Hasard starrte sie an. Etwas in diesem verwüsteten, lasterhaften Gesicht erschien ihm bekannt.
„Grand Cayman“, sagte das Weib. „Denk nach, Großer. Ich hab dich sofort erkannt. Du hast uns damals auf der Insel zurückgelassen, nachdem du die verdammte ‚San Josefe‘ gekapert hattest.“
„Alana“, sagte Hasard. „Du bist Alana.“
„Ja, ich bin Alana“, sagte das Weib. Ein heiseres, erbittertes Lachen drang aus ihrem Mund. „Die Hure Alana, die letzte von zwölf Huren, die einmal mit der ‚San Josefe‘ zurück nach Spanien wollten, aber da war der englische Kapitän Killigrew, der unseren Traum zerstörte.“
„Die letzte?“ fragte Hasard ruhig. „Und Maria Juanita?“
Alana lachte höhnisch. „Die stirbt jeden Tag mehr, dieses Dreckstück. Sie hat uns dem Schwein Caligu ausgeliefert, ihm und seiner Horde brünstiger, tollwütiger Hengste – Joana, Mona, Roberta und so weiter, umgekommen, ermordet, ertrunken oder freiwillig in den Tod gegangen.“
„Du haßt mich?“
Plötzlich wurde dieses verwüstete Gesicht weich. Sie blickte zu Hasard hoch.
„Dich hassen? Nein, jetzt nicht mehr. Konntet ihr wissen, daß sich zwölf Huren auf der ‚San Josefe‘ befanden? Nein. Keiner von euch hat sich an uns vergriffen. Wir hätten gut auf der Insel leben können, aber dann erschien Caligu.“
„Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte Hasard.
Sie schüttelte den Kopf. „Mein Traum war Spanien. Aber genau dorthin wirst du nicht segeln, du schwarzer, schöner Bastard.“ Sie lächelte, und es war kein vulgäres Lächeln.
„Ich habe Valdez nach Spanien gebracht“, sagte Hasard. „Erinnerst du dich an ihn?“
„Valdez.“ Ihre Augen leuchteten auf. „Das war ein Mann!“ Ihre Hand beschrieb einen Kreis. „Kein Scheißkerl wie diese stinkenden Köter und Hurenböcke.“ Ihre Augen flatterten. „Wo ist er in Spanien?“
„In einem Dorf am Guadalquivir, nur ein paar Meilen von der Küste entfernt.“
„Am Guadalquivir“, flüsterte sie, „dort, wo ich auch aufwuchs.“ Sie schluckte. „Ist er verheiratet?“
Hasard lächelte. „Das könnte ich mir eigentlich nicht vorstellen.“
„Ich möchte zu ihm“, sagte die Hure Alane.
Hasard blickte sich um. Dort links von ihm war eine Nische, die im Schatten lag. Er legte seinen Arm leicht um Alanas Schultern und führte sie in die Nische.
„Ich kann dich nicht zu Valdez bringen“, sagte er leise, „aber vielleicht hilft dir das hier weiter.“ Er zog einen Lederbeutel aus dem Wams und gab ihn ihr. „Perlen. Nimm sie und setze sie gut ein. Versuche, eine Passage nach Havanna zu finden. Vielleicht segelt eine Schaluppe aus Tortuga dorthin. Vielleicht auch hilft dir Diego. Er muß gute Verbindungen haben. Von Havanna aus mußt du mit einem der Geleitzüge nach Spanien segeln – falls kein Killigrew auftaucht.“ Er grinste sie an. „Wenn du es schaffst, dann grüße Valdez von mir. Was heißt ‚wenn‘? Du schaffst es bestimmt.“
Sie umklammerte den Lederbeutel und starrte zu dem großen Mann hoch. Zwei Tränen traten aus ihren Augen und rannen langsam über die Wange.
Hasard tupfte sie mit dem Zeigefinger weg und lächelte.
„Gute Fahrt, Alana“, sagte er.
„Gott möge dich beschützen, Philip Hasard Killigrew“, sagte sie leise und strich scheu mit der Rechten über sein Gesicht. Dann huschte sie aus der Nische, lief durch die Grotte, hastete die Stufen zum Ausgang hoch und war verschwunden wie ein Blatt, das der Wind entführt.
Hasard verließ die Nische und trat auf den Tisch zu, an dem der spindeldürre Kerl saß und zu ihm hochschielte, aber nichts sagte.
Hasard nickte ihm freundlich zu und sagte: „Alana besucht einen alten, gemeinsamen Freund. Falls dir das nicht paßt, dann spuck’s aus. Aber ich wünsche nicht, daß du ihr nachstellst. Wenn du es doch tust, dann frißt dich der Seewolf, klar?“
Der Kerl zuckte zurück und flüsterte: „Schon gut, schon gut, ich bin ja ganz friedlich, wirklich. Ich wußte ja nicht, daß Alana dich kennt.“
„Du bist ein kluger Mann“, sagte Hasard. „Und kluge Männer leben länger, nicht wahr?“
„Jawohl“, sagte der Spindeldürre, der so aussah, als würde er doch nicht lange leben, denn er hustete und schien es auf der Brust zu haben.
Hasard grinste und drehte sich um.
„Herhören“, sagte er laut. „Die Rote Korsarin sucht Männer, die ehrlich sind und Mumm in den Knochen haben. Sie müssen zupacken und ein Schiff durch die Hölle segeln können. Sie müssen jene hassen, die drüben an den Küsten der Neuen Welt Schätze zusammentragen und wie gierige Haie sind. Sie müssen Freibeuter sein – Freie unter Freien, bereit, als Gleiche die Beute untereinander zu teilen. Männer vom Schlage eines Caligu lehnt die Rote Korsarin ab. Sie lehnt heimtückischen Mord, Verrat, sinnlose Gewalttaten aus Lust oder Blutgier ab. Sie braucht Kerle, die mit einem Eimer Wasser bereit sind, die Hölle auszulöschen. Wer meint, ein solcher Kerl zu sein, der soll bei ihr anheuern. Wer seine eigene Suppe kochen will, der soll wegbleiben. Überlegt es euch! Entscheidet selbst, was ihr wollt – Freiheit oder ein jämmerliches Ducken unter die Peitsche eines größenwahnsinnigen Piraten, wie es Caligu war.“
Hasard wandte sich um und verließ die hintere Grotte.
Er sah nicht die Gesichter hinter sich. Er wollte sie gar nicht sehen. Die Männer vom Schlage Caligus hatten sowieso nichts begriffen. Die Gleichgültigen würden ihre Fahne nach dem Wind hängen. Nur jene zählten, die das spürten, was Hasard hatte sagen wollen.
Carberry grinste Hasard an, als er sich setzte und nach dem Becher mit dem Rum griff. Alle Seewölfe grinsten – nur Madame Siri-Tong hatte eine eisige Miene aufgesetzt.
Carberry sagte: „Sie wollte wissen, wer die Blonde sei, mit der du in die Nische abgezogen bist.“
„Du hast sie nicht erkannt, Ed?“ fragte Hasard lächelnd.
„Nein.“
„Eine Hurenschlampe!“ Das war Siri-Tong. Sie stieß es heraus, als habe sie einen schleimigen Eiterklumpen im Hals.
„Mag sein“, sagte Hasard, mehr nicht.
„Wer ist sie?“ fragte Ed Carberry.
„Eine der zwölf Ladys, die wir vor zwei Jahren auf Grand Cayman zurückließen, Ed.“ Hasard kippte den Rum herunter. „Von diesen zwölf überlebten zwei – Alana, eine ‚Hurenschlampe‘, wie ich eben hörte, und noch eine – Maria Juanita!“
„Nein!“ schrie Siri-Tong.
„Doch“, sagte Hasard kalt. „Und sie hat diesen Bombarde aufgeheizt, Madame, der hier erschien und darauf scharf war, Sie und mich mitzunehmen – wegen einer Rechnung, die jemand mit uns begleichen wollte.“
„Dieses Weib ist tot!“ stieß Siri-Tong hervor.
„Eben nicht“, erwiderte Hasard. „Und deswegen ist sie noch gefährlicher. Darum auch meine ich, daß wir hier verschwinden sollten. Sie hat hier Anhänger.“
„Und was ist mit dieser blonden Schlampe?“ fauchte Siri-Tong.
„Ich habe ihr Perlen geschenkt“, sagte Hasard ungerührt.
„Perlen für eine Hure!“ Siri-Tong war empört, außer sich, ein kochender Vulkan.
„Irrtum, Madame“, sagte Hasard. „Perlen für einen Menschen, der einen Traum hat. Haben wir nicht alle Träume? Alana erzählte mir ihren Traum, einen Traum, den gerade ich achte. Sie wollte nichts weiter, als nach Hause, in das Land ihrer Kindheit, zurückzukehren. Merkwürdig, daß ihre Heimat ein Dorf am Guadalquivir ist. Meine Heimat ist nirgendwo, denn ich weiß nicht, wo ich geboren wurde. Darum gab ich ihr die Perlen.“
Siri-Tong senkte den Kopf. In dieser Haltung sagte sie: „Entschuldigen Sie bitte, Hasard.“