Читать книгу Seewölfe Paket 4 - Roy Palmer - Страница 50
5.
ОглавлениеEs war auf Tortuga üblich, die Toten jenem Element zu übergeben, auf dem sie auch einen Teil ihres wilden Lebens verbracht hatten – dem Meer. Das war ja auch Brauch auf den Schiffen, warum sollte es dann auf einer Insel anders sein?
Westlich des Hafens war eine Steilklippe, die – eine Laune der Natur – mit einer glattgeschliffenen, mehr als körperbreiten Rille versehen war. Sie führte schnurgerade ins Meer.
Die Karibik-Wölfe nannten sie mit grimmigem Humor die „Totenrutsche“. Auf ihr verließen die Toten die schnöde Welt und sausten in rascher Fahrt dem Totenreich entgegen.
Die Haie kannten diesen Platz. Wenn am Ende der Totenrutsche ein Aufklatschen erklang, war das wie ein Signal für die grausamen Räuber, die dann von allen Seiten in rasender Freßgier heranschossen und einen wirbelnden furchtbaren Tanz um den absinkenden Toten veranstalteten. Der Tote verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.
Zu dieser Totenrutsche waren der Neger und der Kreole mit dem toten Bombarde unterwegs.
Sie begegneten dem Marquis und sieben raubgesichtigen Beutelschneidern.
„He!“ sagte der Marquis und strahlte, als sei die Begegnung mit den beiden Leichenträgern und ihrer entseelten Last ein freudiges Ereignis. „Das ist doch nicht etwa unser guter alter Bombarde?“
„Doch“, sagte der Kreole.
„Und mausetot?“
„Mausetot“, bestätigte der Kreole.
„Ja, ja“, sagte der Marquis mit gesalbter Stimme, „er war mir ein lieber Freund, und nun ist er von hinnen gegangen, dahingeschieden in der Blüte seiner Jahre, herausgerissen aus frohem Schaffen …“
„Und niedergefahren zur Hölle, Amen“, sagte einer der Galgenvögel und grinste.
Der Marquis grinste auch.
„Da seh ich doch ein Messerchen“, sagte er. „Sollte er sich etwa selbst entleibt haben?“
„Hat er nicht“, sagte der Kreole. „Er hat sich mit einem Mann duelliert, den sie den Seewolf nennen. Und da hat er sich wohl etwas zuviel vorgenommen.“
Der Marquis nickte. „Du sagst es. Sein größter Fehler war, daß er einen Holzkopf hatte. Das hat er nun davon – ein Messer in seinem Bauch – ts, ts! Bringt ihr ihn zur Totenrutsche?“
„Ja“, erwiderte der Kreole.
Der Marquis kicherte und deutete auf das Messer. „Die armen Haie, wie? Wer das Stück mit dem Messerchen erwischt, wird eine arge Verdauung haben.“
Die sieben Beutelschneider lachten roh. Das war wirklich ein Spaß: ein Hai, der ein Messer verschluckte.
„Leb wohl, Bombarde“, sagte der Marquis fröhlich.
Dann setzten sie sich wieder in Marsch, während der Kreole und der Neger ihre tote Last weiterschleppten.
Zehn Minuten später trat Bombarde seine letzte Reise auf der Totenrutsche an. Als er ins Wasser klatschte, segelte eine Einmastschaluppe etwa hundert Yards entfernt an der Steilklippe vorbei westwärts.
Am Steuerbordschanzkleid der Schaluppe stand eine blonde Frau und nahm Abschied von Tortuga. Sie sah das Aufklatschen und wußte, was es bedeutete. Sie sah auch die Dreiecksflossen, die auf die Steilklippe zupfeilten. Sie schloß die Augen.
Das alles ließ sie jetzt hinter sich – Mord, Gewalt, Brutalität, das Böse schlechthin, das wie ein Sumpf war, der einen erstickte. Aber sie würde nicht ersticken.
Ein Mann hatte ihr die Zukunft geschenkt, die für Alana nicht mehr sichtbar gewesen war. Sie konnte wieder träumen.
„Madame“, sagte der Marquis und verbeugte sich mit der Grazie eines italienischen Tanzmeisters vor der Roten Korsarin, „ich bin entzückt, zu hören, daß Sie Männer suchen, die zu segeln und zu kämpfen verstehen. Man nennt mich den Marquis!“ Er blickte Siri-Tong tief in die Augen und noch tiefer in die Bluse und dachte, was für ein superbes Weib!
Dann richtete er sich wieder auf, drehte sich etwas und deutete mit Grandezza auf die sieben Halsabschneider, die hinter ihm am Tresen aufgereiht waren und wie zerrupfte, hungrige Habichte aussahen.
„Das ist meine Mannschaft“, sagte er stolz, „erstklassige, sturmerprobte, mit allen Wassern der Karibik gewaschene Kämpfer, hartgesotten, gesalzt und gepfeffert, zäh, treu und absolut zuverlässig. Wir stehen zu Ihrer Verfügung, Madame!“
Siri-Tong zog eine Augenbraue hoch und musterte die sieben „sturmerprobten Kämpfer“.
Zuverlässig? Treu? Sie seufzte und dachte an Don Ravella und seine Kumpane, die es fast geschafft hätten, mit einem erklecklichen Teil der letzten Beute von der Schlangen-Insel zu verschwinden.
Wie zuverlässig und treu Männer waren, stellte man meistens erst fest, wenn es bereits zu spät war.
Der linke Flügelmann dieser Sieben-Mann-Garde war einäugig, breitschultrig und pockennarbig. Die Klappe, die seine leere Augenhöhle verbarg, gab seinem kantigen Gesicht einen furchterregenden Ausdruck. Das gesunde Auge, rechts, blickte starr und wirkte so kalt wie Eis.
Neben ihm stützte sich ein Kerl mit beiden Ellbogen auf den Tresen und grinste schief. Er war dürr und mager und hatte ein Gesicht wie ein Totenkopf. Er war völlig kahl bis auf einen Haarzopf, der einsam aus seinem Hinterschädel wuchs und dreikardeelig geflochten über seine Schulter hing. Will Thorne, der Segelmacher auf der „Isabella“, hätte diesen Zopf bewundert. Denn in den Zopf waren Zierknoten eingespleißt, zum Beispiel ein sogenannter Diamantknoten, der die Haare wie ein Ring umkleidete. Dieser Kerl war bestimmt ein Seemann.
Der dritte neben ihm war das Gegenteil – ein kleiner Dickwanst mit einem öligen Vollmondgesicht, Wurstarmen, Wurstfingern und ebensolchen Beinen mit der Paßform eines Salzfasses, nämlich gerundet. Auch dieser Kerl grinste. Von der Größe her reichte er dem dürren Zopfmann neben ihm bis unter die Achsel.
Nummer vier und fünf dieser erlesenen Garde waren totaler Durchschnitt oder noch darunter. Sie hatten so sture Gesichter wie eingeschlafene Stiere, die auch in diesem Zustand noch wiederkäuen. Sie bewegten ihre Kinnladen im Dauerrhythmus, als gelte es, eine Wiese zu Spinat zu verarbeiten.
Der sechste Kämpfer war eine Spitzmaus mit flinken, unruhigen Augen, klein, schlank, nervös. Das Gesicht dieser Spitzmaus zuckte ständig, wirkte ängstlich, dann wieder aggressiv oder frech oder gemein oder eben einfach spitz.
Nummer sieben war ein Bürschchen von etwa sechzehn, siebzehn Jahren, das aber wie ein Greis aussah – ein Giftkerlchen mit einer verderbten Visage, schmutzigen Augen und einem harten, messerscharfen Mund, der jetzt ein laszives Grinsen zeigte. So jung dieses Bürschchen sein mochte, es hatte bereits alle Laster dieser Welt genossen und kennengelernt und war von diesen Erfahrungen her wahrscheinlich so ausgekocht wie eine Hure im dritten Berufsjahrzehnt.
Siri-Tong hatte ihre Musterung beendet und blickte wieder den Seewolf an, der immer noch feuchte Kringel auf die Tischplatte malte. Er zeigte eine Gleichgültigkeit, die ihr Blut zum Kochen brachte.
Erst erzählte er den Kerlen da hinten in der Grotte, was sie, die Rote Korsarin, für eine Mannschaft suche, und dann setzte er sich hin und tat, als ginge ihn das alles nichts an.
Oder paßten ihm dieser Marquis und seine sieben Männer nicht?
Siri-Tong betrachtete noch einmal den Marquis, der mit einem schmelzenden Lächeln in dem hübschen, brutalen Gesicht vor ihr stand und sich jetzt, als sie ihn anblickte, zum zweiten Male höflich und mit Eleganz vor ihr verneigte.
Dann legte er die Rechte auf sein Herz und sagte: „Madame, Sie zaudern? Lassen Sie mich eins aussprechen: Ich bewundere Sie! Ich bewundere Sie um so mehr, weil Sie es waren, der uns alle von dieser Geißel namens Caligu befreit hat. Was niemand von uns gewagt hat – Sie haben es vollbracht. Mein Respekt und meine Hochachtung gehören Ihnen, Madame.“
O ja, vom Süßholzraspeln verstand dieser durchtriebene Schurke eine ganze Menge, mehr als für Siri-Tong gut war. Ihr gefielen Männer, die gute Manieren hatten und noch dazu gut aussahen.
Lächelnd sagte sie: „Sie sind Franzose?“
„Jawohl, Madame.“
„Und gewiß von hohem Adel, nicht wahr?“
Der Marquis verneigte sich stumm, immer noch die Rechte auf dem Herzen.
Hasard sagte brutal: „Wenn dieser Mann ein Marquis ist, dann bin ich der Sohn der Königin von England. Und diese sieben Schnapphähne da sind weder erstklassig noch sturmerprobt noch sonst was und schon gar nicht treu oder zuverlässig. Lassen Sie die Finger von diesen Kerlen, Madame. Ich warne Sie!“
Siri-Tong explodierte.
„Stellen Sie eine Mannschaft ein oder ich, Mister Killigrew?“ fauchte sie.
„Sie“, sagte Hasard ungerührt und zuckte mit den breiten Schultern, „natürlich Sie, denn Sie suchen ja eine Mannschaft, nicht ich. Und wenn Sie mit solchem Gesindel zur See fahren wollen, dann ist das Ihre Angelegenheit, meine aber nicht mehr, damit wir uns klar verstehen.“
„Was soll das heißen?“
„Das soll heißen, daß ich auf weitere gemeinsame Operationen verzichte. Meine Männer und ich haben nicht die Absicht, eine Kumpanei mit diesem Lumpenpack einzugehen …“
„Jetzt reicht’s aber“, sagte der Marquis scharf. „Wären wir in Frankreich, dann würde ich Sie jetzt wegen dieser Beleidigung vor meine Klinge holen, Monsieur!“
„Was Sie in Frankreich tun würden, interessiert mich nicht“, sagte Hasard kalt, „aber wenn Sie sich mit mir duellieren wollen, dann stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Und noch etwas, mein Freund. Sie haben einen falschen Zungenschlag. Sie sind zu erpicht darauf, mit Ihren Kerlen in die Mannschaft der Roten Korsarin aufgenommen zu werden. Was steckt dahinter? Vielleicht eine Hure namens Maria Juanita? Ich hörte, daß sie zwei Liebhaber hat. Der eine namens Bombarde wollte sich auch mit mir duellieren – er war so dumm, in mein Messer zu rennen. Jetzt tauchen Sie auf. Wurden Sie von der Hure dazu aufgehetzt?“
Der Marquis war ziemlich bleich geworden und außer Fassung geraten. Aber er fing sich ziemlich schnell.
„Ich pflege mit Huren keinen Umgang“, sagte er von oben herab. „Ihre Verdächtigungen sind völlig absurd. Im übrigen unterhalte ich mich nicht mit Ihnen, sondern mit Madame. Und was Ihre infamen Beleidigungen betrifft, Monsieur, werden Sie mir Genugtuung geben müssen, wenn ich meine Verhandlungen mit Madame abgeschlossen habe.“ Er wandte sich wieder Siri-Tong zu. „Madame, dürfte ich Sie dort an den Tisch bitten?“ Er deutete auf einen leeren Tisch an der Seitenwand der Grotte. „Bitte verstehen Sie. Ich möchte mit Ihnen sprechen können, ohne dauernd beleidigt zu werden.“
Siri-Tong stand auf, blickte Hasard herausfordernd an, bot dem Marquis den Arm und ließ sich von ihm zu dem Tisch führen.
Diese Runde war zweifellos an den Franzosen gegangen. Er lächelte triumphierend, während er Siri-Tong einen Stuhl anbot und wartete, bis sie sich gesetzt hatte.
Edwin Carberry, der eiserne Profos, drückte das aus, was sie alle dachten. Er sagte laut und deutlich: „Scheiße!“
„Trinkt aus“, sagte Hasard zu seinen Männern. „Wir sind überflüssig geworden.“
„Was denn!“ knurrte Carberry. „Willst du etwa das Feld räumen und Siri-Tong diesen verlausten Rübenschweinen überlassen?“
„Es ist ihre Mannschaft, Ed“, erwiderte Hasard ruhig. „Ich habe sie gewarnt. Wenn sie anderer Ansicht ist, dann kann ich das nicht ändern. Ich bin nicht ihr Kindermädchen. Sie ist Herr ihrer eigenen Entschlüsse, basta!“
„Sie ist doch nur dickköpfig!“ fauchte Carberry. „Immer mit dem Kopf durch die Wand, verdammt noch mal.“
„Es ist ihr Kopf“, sagte Hasard.
Smoky nickte. „So sind die Weiber. Heute hui und morgen pfui!“
Carberry ruckte zu ihm herum. „Halts Maul, du Hering! Was verstehst du denn schon von Weibern, was, wie?“
Smoky grinste. „Verstehst du denn mehr? Reg dich ab, Ed. Unserer Madame Siri-Tong paßt es nicht, daß wir sie am Gängelband haben. Sie will ihr eigener Kapitän sein, das ist alles.“
„Scheiß drauf“, sagte Carberry wütend. „Wenn diese Rübenschweine da mitkriegen, was wir für eine Beute in einem gewissen Versteck haben, dann geht das ganze Theater wieder los. Schau dir diese Mistfinken am Tresen doch mal an! Ein Galgenstrick neben dem anderen.“
„Weiß ich“, sagte Smoky und gurgelte mit Rum.
Matt Davies polierte seine Hakenprothese an der Hose.
„Wir könnten die Kerle ja mal auseinandernehmen“, sagte er. „Jucken tät’s mich schon.“ Er blickte zu Siri-Tong hinüber. „Nun seht euch das an! Dieser ölige Fatzke kriecht ihr ja bald in die Bluse!“
Sie starrten zu dem Tisch. Der Marquis war auf Tuchfühlung gegangen, redete ununterbrochen und stierte genauso ununterbrochen in den Blusenausschnitt der Roten Korsarin. Siri-Tong lachte silberhell.
„Weiber!“ sagte der Profos grollend.
Hasards Gesicht war undurchdringlich. Er dachte an Gwen und fragte sich, was, zum Teufel, ihn hier in dieser Tortugakneipe noch hielt? Nichts, gar nichts hielt ihn, weder die hübsche Siri-Tong noch sonst etwas. Wenn sie mit den Karibik-Wölfen mitheulen wollte, dann sollte sie es tun. Aber dann würden sie sich trennen müssen.
Schade um die Schlangen-Insel, dachte Hasard. Das Geheimnis dieses Verstecks würde bekannt werden, wenn diese Kerle bei der Roten Korsarin anheuerten. Das zwang ihn, den Seewolf, zu neuen Entscheidungen. Sie würden ihren Beuteanteil aus dem Schlangentempel holen und an Bord der „Isabella“ bringen müssen. Und wohin dann?
Hasard fluchte vor sich hin. Man sollte dieses Weib übers Knie legen und Madame den Hintern versohlen, daß es nur so rauchte.
Merkwürdig, daß solche Frauen immer wieder auf Typen wie diesen Marquis hereinfielen. Gwen würde das nicht tun. Oder doch? Nein, verdammt noch mal. Sie hatte ein Gespür für diese windigen Bastarde, die nur eins exakt beherrschten: mit Balzen, Radschlagen und Schnurren die Frauen herumzukriegen.
Stärker als je zuvor stand plötzlich Gwens Bild vor Hasards Augen. Ein Ozean trennte sie, dennoch war sie bei ihm …
Knapp eine halbe Stunde vor diesem Zeitpunkt war ein schlanker Zweimaster mit Lateinersegeln an langen Rahruten in die Bucht von Tortuga geglitten – von den Männern auf der „Isabella VIII.“ scharfäugig und mißtrauisch beobachtet.
Ben Brighton stand auf dem Achterdeck der Galeone und hatte den Kieker vor dem Auge. Er starrte, wischte sich das Auge und starrte wieder. Dann brüllte er nach Dan O’Flynn, dem Mann mit den besten Augen an Bord der „Isabella“.
Es war früher Abend. Dan flitzte aus der Kombüse, wo ihm der Kutscher einen Vorgeschmack auf das abendliche Essen gewährt hatte. Dan O’Flynn hatte immer noch den meisten Hunger an Bord. Und der Kutscher, dem Dan sonst immer etwas aus der Kombüse geklaut hatte, war längst zu der Einsicht gelangt, daß es für alle Teile besser war, wenn er dem Hunger Dans vorbeugte, als ihn zappeln zu lassen und dabei zu riskieren, daß Dan mit miesen Tricks die Rationen verkürzte.
Dan O’Flynn raste aufs Achterdeck. Wortlos gab ihm Ben Brighton den Kieker und deutete auf den heransegelnden Zweimaster. Dan setzte das Glas gar nicht erst ans Auge. Er starrte und hatte den Mund offen.
„Na?“ fragte Ben Brighton.
„Ich – ich will doch verdammt sein“, stieß Dan O’Flynn hervor. Er kniff die Augen zu und riß sie wieder auf. Das Glas hatte er immer noch in der Hand. „Aber das kann doch nicht wahr sein, so was gibt’s doch gar nicht!“
„Hab ich auch gedacht“, sagte Ben Brighton und grinste breit. „Du hast sie also ebenfalls erkannt, wie?“
„Aber klar, Ben! Das ist unsere gute alte Tante, die „Isabella VII.“, die wir dem alten Hurenbock Killigrew abgeknöpft hatten und dann in Plymouth bei Ramsgate, dem Schiffsbaumeister, ließen, als wir die neue „Isabella“ übernahmen – Moment! Verflucht, da läuft einer an die vordere Drehbasse! Die wollen uns ein Ding verpassen, Ben …“
„Klar Schiff zum Gefecht!“ brüllte Ben Brighton.
Fast herrschte Zustand auf der „Isabella“. Die Männer, die an Oberdeck gewesen waren und alles mitgehört hatten, stürzten an die Culverinen und Drehbassen. Aus dem Vordeck quirlte die Restmannschaft, bereits Entermesser, Musketen und Pistolen in den Fäusten. Mit wilden Augen starrten sie auf den heransegelnden Zweimaster.
Der mochte noch etwa fünfhundert Yards entfernt sein.
„Hopp, hopp, Männer!“ brüllte Ben Brighton. „Beeilt euch! Nicht so lahmarschig, wenn ich bitten darf! Batuti! Shane! Klar bei Brandpfeilen! Glotzt doch nicht so blöd, ihr verdammten Bastarde! Ran an die Kanonen, mannt das Pulver herauf, zack-zack!“
Wumm!
Aus der Bugdrehbasse des Zweimasters löste sich ein Schuß, Qualm wölkte auf, das dunkle Etwas der Kugel stieg beinahe senkrecht in den Himmel – aber in die entgegengesetzte Richtung der ankernden „Isabella“.
„Ein Verrückter“, murmelte Dan O’Flynn, „der ballert Löcher in die Luft, so ein dämlicher Quatsch.“
„Mir lieber, als wenn er uns mit dem Ding füttert“, knurrte Ben Brighton.
Ferris Tucker enterte aufs Achterdeck, keuchend und völlig außer Atem.
„Das war ein Salutschuß!“ stieß er hervor. „Klarer Fall! Das sind Engländer, achtern zeigen sie unsere Flagge! Sie winken!“
„Klar“, sagte Dan O’Flynn und grinste schief. „Unsere königliche Lissy besucht uns, nicht wahr? Die hat solche Sehnsucht nach den Seewölfen …“
„Maul halten!“ Ben Brighton hatte wieder den Kieker und starrte hindurch. Dann ließ er ihn sinken und sagte völlig fassungslos: „Ich werd verrückt! Das ist Jean Ribault, unser guter alter Jean Ribault – und bei ihm sind Karl von Hutten und die Bastarde Nils Larsen, Sven Nyberg, Jan Ranse und Piet Straaten. Die anderen kenne ich nicht …“
„Batuti Pfeil auf Sehne!“ brüllte der riesige Gambia-Neger von der Back her. „Frage Feuererlaubnis?“
„Nein!“ brüllte Ben Brighton zurück. „Nicht schießen! Weg von den Waffen! Seid ihr wahnsinnig?“
Vorn auf der Back starrte Batuti Big Old Shane an und schüttelte den Kopf. „Was jetzt? Hat Bootsmann Vogel im Kopf oder was? Erst stänkern wie Profos und dann …“
Auch er wurde unterbrochen. Oben im Hauptmars stand plötzlich der Schimpanse Arwenack Kopf und führte sich auf wie eine Horde seiner Brüder, die eine zur Paarung bereite Horde von Schimpansenweibchen entdeckt. Er raste die Wanten herauf und hinunter, schlug im Mars Kobolz, trommelte sich auf die Brust und keckerte, fletschte grinsend das Gebiß, rollte mit den Augen, fegte über die Rah, sauste wieder nach unten und führte seinen Affentanz auf der Kuhl auf.
„Affe auch verrückt“, sagte Batuti. „Alle hier verrückt, nur Batuti noch normal. Du verstehen, Shane?“
„Nein“, sagte Big Old Shane. „Ich versteh überhaupt nichts mehr. Aber eins seh ich verdammt gut. Dieser Kasten führt die englische Flagge.“ Big Old Shane kniff die Augen zusammen „Und dann seh ich noch etwas.“
„Was denn?“
Big Old Shane ließ den Bogen sinken und lachte röhrend.
„Das ist unsere alte ‚Isabella‘, mein Junge!“ brüllte er. „Hier in diesem verdammten Piratenkaff kreuzt unsere alte ‚Isabella‘ auf! Ist das noch zu fassen?“
Jetzt erkannten sie es alle – und wie Arwenack, der Schimpanse, führten sie ihren Affentanz auf, winkten, brüllten, schrien und hüpften herum.
Die schlanke Zweimastkaravelle ging in den Wind, dicht bei der „Isabella“, die Segel fielen und vorn rauschte der Anker mit der Trosse aus.
Jean Ribault, schlank und kerzengerade, stand neben dem exotischen Karl von Hutten auf dem Achterdeck und grüßte zu der „Isabella“ hinüber.
Aber sein Gruß war verhalten. Sein Gesicht spiegelte Freude, und doch war es ernst.
Eine Ahnung kommenden Unheils beschlich Ben Brighton, als er dieses Gesicht sah.