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6.

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In dieser Nacht tat keiner ein Auge zu. Es wurden Stunden der Verbundenheit und besiegelten Freundschaft mit den Polynesiern von Hawaii, Stunden des Berichtens, Erklärens, Verstehens.

Hasard lernte nun endlich Thomas Federmann kennen und war überwältigt von der Menschlichkeit und Klugheit dieses Mannes. Zuerst begaben sich die Seewölfe und Siri-Tong mit ihren Männern gemeinsam mit den neuen Bundesgenossen in das Dorf auf der großen Insel. Und hier wurden auch die neun gefangenen Piraten in eine solide Hütte gesperrt. Hasard erfuhr den Namen des Schwarzbärtigen – Ciro de Galantes.

Die Eingeborenen versammelten sich auf dem Platz zwischen den Hütten. Der zuckende Schein von, Lagerfeuern verlieh ihren Gestalten einen bronzenen Glanz.

„Ich stelle dir den Häuptling der vereinten Stämme von Hawaii vor“, sagte Federmann zu Hasard. „Es hat mehrere Dörfer auf der Insel gegeben, aber seit der Bedrohung durch die Piraten haben sich alle Bewohner hier zusammengedrängt.“

„Wäret ihr denn für den Fall eines Kampfes ausreichend bewaffnet gewesen?“ erkundigte sich Hasard.

„Wir haben Speere und Messer.“

„De Galantes und seine Kerle hätten euch im Handumdrehen überwältigen können. Ich begreife nicht, warum sie gewartet haben.“

„Es gibt hier wenig zu holen“, erwiderte Federmann ernst. „Keine materiellen Reichtümer, meine ich.“

„Und die Frauen?“

„Ja, natürlich wollten diese Halunken über sie herfallen und schlichen mit der Galeone um die Insel herum. Sie warteten auf einen günstigen Augenblick und weideten sich im übrigen an der Angst unserer Mädchen und Frauen.“

Federmann führte ihn zu einem großen, muskulösen Mann, der nach Hasards Schätzung um die Mitte Fünfzig sein mußte. Er stand im Zentrum des Platzes. Die Inselmenschen umringten ihn, Hasard und Thomas Federmann, und nun traten auch die Crews der beiden Schiffe hinzu. Die Szene geriet zu einem Zeremoniell von schlichter, jedoch ergreifender Feierlichkeit.

„Zegú, der König von Hawaii“, sagte Federmann. „Er spricht recht gut englisch und beherrscht auch ein bißchen Spanisch. Ich habe es ihm beigebracht.“

Zegú nickte, lächelte, hob die Hand und beschrieb eine Geste zu Siri-Tong hin. „Warum näherst du dich nicht? Zegú und seine Brüder haben großen Respekt vor Frauen. Du bist die Führerin des Schiffes mit den schwarzen Segeln, Perle der See, und wir wollen auch dir danken für alles, was du getan hast.“

Siri-Tong schob sich zwischen Hasard und den Deutschen. „Das ist sehr nett und höflich“, erwiderte sie sanft.

Federmann blickte sie überrascht an. Diese Frau war also nicht nur resolut und kaltschnäuzig.

„Aber ich habe in den Kampf gar nicht mehr eingegriffen“, fuhr die Korsarin fort. „Das Ganze ist Hasards Verdienst.“ Sie wies auf den großen, schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen. „Philip Hasard Killigrew – der Seewolf.“

Zegú blieb unbeirrt. „Ihr beide habt verhindert, daß die Piraten die Menschen von Hawaii auslöschten. Die Götter haben euch gesandt.“ Er verneigte sich tief. „Wir sind euch – ewig ergeben.“

Hasard wollte etwas entgegnen, aber in diesem Augenblick ertönte ein unterschwelliges Grollen. Es näherte sich, unterlief den Dorfplatz und brachte ihm zum Vibrieren. Zegú und seine Untergebenen fielen auf die Knie und hoben die Hände zum Himmel.

„Pele, allmächtige Göttin!“ rief der Häuptling aus. „Die Gefahr ist gebannt, und ich werde dein Orakel befragen – über das Schicksal, das diesen Übeltätern gebührt.“ Anklagend wies er mit der Hand auf die Hütte, in der sich die neun Gefangenen befanden. „Wenn du bereit bist, mich zu empfangen, so gib mir ein Zeichen, große Pele – nur ein einziges Zeichen noch!“

Thomas Federmann hatte die Worte, die der Häuptling in seiner Muttersprache ausgerufen hatte, gedämpft ins Englische übersetzt. Jetzt fügte er hinzu: „Pele – das ist die feuerspeiende Götting der Vulkane. Die Polynesier sind davon überzeugt, daß sie in den Bergkratern haust und brennenden Schleim ausspuckt, wenn sie wütend ist. Man kann ihnen diesen Glauben nicht nehmen.“

„Vulkane?“ wiederholte Bob Gray, der nicht weit vom Seewolf entfernt stand. „Das hat uns noch gefehlt.“

„Wie könnt ihr hier wohnen?“ fragte Siri-Tong.

„Die Vulkane sind schon lange nicht mehr aktiv gewesen“, entgegnete der Deutsche. „Und nach meinen Berechnungen wird Pele auch noch längere Zeit friedlich bleiben, höchstens mal ein bißchen grollen – so wie eben.“

„Berechnungen?“ Thorfin Njal trat näher. „Wie berechnest du denn so was? Und wie kannst du so sicher sein?“

Federmann lächelte. „Das setze ich dir bei Gelegenheit noch genauer auseinander, Wikinger.“

„Wir haben mit Vulkanen jedenfalls üble Erfahrungen gesammelt“, sagte Carberry. „Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären mitsamt dem Piraten O’Lear und seiner verdammten Galeone verschlungen worden.“

„Augenblick“, sagte Federmann. „Selbst wenn ein Ausbruch erfolgen sollte, wären wir an dieser Seite der Insel nicht gefährdet. Bei Eruptionen läuft die Lava immer zur anderen Seite der Insel ab – nach Nordosten.“

„Dorthin, wo der Strand schwarz ist“, vervollständigte Hasard. „Ja, das hört sich logisch und plausibel an. Im. übrigen solltet ihr euch wirklich nicht beunruhigen, Männer. Wie es scheint, ist Pele uns wirklich wohlgesonnen. Sie hat uns eben wohl nur eine gute Nacht wünschen wollen. Jetzt schweigt sie wieder.“

Thomas und die Rote Korsarin lachten leise, aber Carberry und ein paar andere schauten immer noch ziemlich verdrossen drein. Seegefechte und Entermanöver, Stürme und jede Art von Entbehrungen an Bord ihrer „Isabella“ waren etwas, das sie nicht mehr aus der Fassung brachte. Nur die verborgene, lauernde Gefahr, die sie nicht bewältigen konnten und die Anlaß zu Aberglauben und Spökenkiekerei gab – die konnten sie nicht leiden.

Pele gab kein Zeichen mehr, das Grollen war verebbt. Zegú und die anderen Eingeborenen erhoben sich wieder. Der König von Hawaii – wie er sich offenbar ohne jegliche Selbstüberschätzung nannte – trat wieder zu Hasard und Siri-Tong und sagte in seinem holperigen Englisch: „Wie können wir euch huldigen? Wie können wir unseren Dank am besten ausdrücken?“

„Ich habe eine Idee“, erwiderte Hasard. „Ich lade euch auf mein Schiff ein – euch alle. Wir werden ein Bankett feiern und dabei alles besprechen, was es zu besprechen gibt. Wir müssen nur Wachen einteilen, die sich im Turnus von drei, vier Stunden vor der Hütte der Gefangenen ablösen.“ Er lächelte. „Ja, Häuptling Zegú, wir könnten auch hier in deinem Dorf den Freundschaftspakt feiern, aber von Bord der ‚Isabella‘ aus behalten wir die See besser im Auge. Dort fühlen wir Seewölfe uns sicherer.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl“, antwortete Zegú.

Er klatschte zweimal in die Hände. Sofort setzte emsiges Treiben ein. Die Frauen trugen Krüge mit Getränken und Körbe mit Eßwaren auf, die Männer schleppten frisch erlegtes Wildbret an Tragestöcken heran. So bildete sich eine Prozession aus lachenden, fröhlichen Menschen, die sich schließlich durchs Dickicht zur Ankerbucht der Schiffe hin in Marsch setzte.

Der Profos schritt neben dem Kutscher, stieß diesen mit dem Ellenbogen an und raunte ihm zu: „Übrigens, was die Sache mit der Proviant- und Trinkwasserbeschaffung betrifft, so brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu bereiten.“

„Wirklich nicht?“

Carberry wies mit dem Daumen auf die Frauen, die hinter ihnen hertrippelten und ihre Lasten auf den Köpfen balancierten. „Da, siehst du nicht, wie ich so was organisiere?“

Das große Festbankett auf der „Isabella VIII.“ wurde keineswegs zu einem herrlichen Besäufnis, wie man es sich bei Nathaniel Plymson daheim in der „Bloody Mary“ von Plymouth vorstellen mochte – nein, das hier, in dieser lauen Tropennacht, das war etwas ganz anderes. Ein Traum voll exotischem Zauber, das war die treffende Bezeichnung.

Die Getränke, die die Eingeborenen servierten, waren mild und hatten wenig Alkoholgehalt. Wein, Bier, Whisky und Rum aus den Beständen des Seewolfs und der Roten Korsarin flossen auch, aber es ließ sich keiner über den Pegelstand des Verträglichen vollaufen. Nicht einmal Missjöh Buveur. Und das war schon ein kleines Wunder.

Vielleicht lag es an der Anmut der Mädchen. Sie kredenzten nicht nur Flüssiges aus Krügen und Fisch, Wild und Früchte, sie tanzten auch zu den Klängen einfacher Instrumente, die von ein paar jungen Männern zum Tönen gebracht wurden. Die Polynesier waren musikalische, künstlerisch hochbegabte Menschen. Ihr Gemüt war ausgeglichen und von vollkommener Harmonie.

Carberry saß mit verzücktem Gesicht auf der Kuhlgräting und schaute den Tänzerinnen zu.

„Mann, ich kann das gar nicht fassen“, sagte er zu Dan O’Flynn. „So was Hübsches hier auf dem Oberdeck unserer ‚Isabella‘ – das ist das Allergrößte …“

„Ja, so etwas sehen und sterben, was, Ed?“ meinte Dan.

Arwenack kauerte hinter ihm auf der Holzroste und hatte einen noch verträumteren Gesichtsausdruck als der Profos. Sogar Sir John sah entrückt aus. Er hockte in den Hauptwanten und rührte sich nicht mehr vom Fleck.

„Sterben, wieso das denn?“ fragte Carberry.

„Ach, nur so. Irgendwer hat den Spruch mal aufgebracht.“

„Versteh ich nicht. Ich fühle mich so jung wie Bill, unser Moses.“

„Na, nun übertreib mal nicht.“

Eins der Mädchen näherte sich mit schwingendem Schritt. Sie bückte sich, hängte dem verblüfften Profos einen Kranz aus Blumen um und trippelte wieder davon. Carberry fuhr ganz behutsam mit der Hand über die frischen Blumen. Man traute ihm soviel Feinsinn gar nicht zu.

Er nahm einen Schluck Wein aus seinem Becher, seufzte und sagte: „Das ist schöner als Weihnachten und Ostern zusammen, Leute.“

Hasard, Siri-Tong, Shane, Ben Brighton, Ferris Tucker, Old O’Flynn, Thorfin Njal, Juan, der Boston-Mann und ein paar andere saßen auf dem Achterdeck bei Zegú und Thomas Federmann. Auf Hasards Drängen hin hatte Thomas über seine Vergangenheit zu sprechen begonnen.

„Ich bin auf abenteuerlichen Wegen hierhergelangt“, begann er. „Das ist eine sehr lange Geschichte. Die Kurzfassung lautet folgendermaßen: Als ich aus verschiedenen Gründen nicht länger in Neu-Granada bleiben wollte, schlich ich mich auf dem Landweg bis nach Panama und dort, als blinder Passagier auf ein Schiff. Das war eine Galeone, die mit Kurs auf die Philippinen auslief.“

„Etwa die Manila-Galeone?“ fragte Ben Brighton.

„Du meinst – die ‚Nao de China‘?“

„Ja, die.“

„Nein“, erwiderte Thomas. „Auf jenem Schiff befanden sich kaum Güter, von Wertvollem ganz zu schweigen. Vorwiegend diente es dazu, Menschen von Neuspanien nach Manila umzusiedeln. Also, unterwegs wurde ich entdeckt und von dem strengen Kapitän in einer Nußschale ausgesetzt. Wäre ich nicht durch Zufall auf diese Insel zugetrieben, wäre es mit mir aus gewesen. Die Eingeborenen empfingen mich auf See wie einen Gast, luden mich in eins ihrer Auslegerboote um, und seitdem lebe ich hier.“

„Wie lange ist das her?“ fragte Hasard.

„Drei oder vier Jahre. Ich habe die Tage seit meiner Ankunft nicht mehr gezählt. Die Zeit hat hier einen relativen Wert.“

„Verstehe. Warum bist du aus Neu-Granada geflohen?“

„Weil meine Eltern getötet wurden und ich nicht mein restliches Leben bei Mönchen in einem Kloser verbringen wollte.“

„Wie alt bist du?“

„Vierundzwanzig.“

„Federmann“, murmelte der Seewolf. „Dieser Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich glaube, Karl von Hutten erwähnte ihn mal …“

„Von Hutten?“ Thomas setzte sich auf. „Du kennst einen von Hutten? Das ist ja kaum zu fassen!“

„Wieso, du auch?“

„Mein Onkel war Nikolaus Federmann. Ein Welser, der an der Seite von Dalfinger, Philipp von Hutten und Bartolomäus Welser Venezuela eroberte, dann die Kordilleren überstieg und bis nach Neu-Granada vordrang.“

„Ja. Diesem Nikolaus Federmann will man sogar ein Denkmal setzen, habe ich gehört.“

Thomas zuckte mit den Schultern. „Mag sein. Aber es wäre besser gewesen, die Deutschen hätten nie an der Conquista teilgenommen. Aber lassen wir das. Wann kann ich einmal mit diesem Karl von Hutten reden? Gehört er zu einer eurer Crews?“

„Er fuhr unter Hasards Kommando“, erwiderte die Rote Korsarin. „Aber jetzt ist er zusammen mit Jean Ribault Kapitän auf einem eigenen Segler und kreuzt in der Karibik.“

„Ach so …“

„Er ist der Sohn Philipps von Hutten und einer indianischen Häuptlingstochter“, ergänzte der Seewolf. „Philipp von Hutten war, wie du ja sicher weißt, der letzte Generalkapitän der deutschen Kolonie des Handelshauses der Welser in Venezuela. Er wurde von den Spaniern umgebracht – seine Frau auch. Karl haßt die Spanier deswegen wie die Pest. Übrigens wurde er tatsächlich von Mönchen großgezogen. Später lief er ihnen aber davon und kämpfte mit den Indianern gegen die Spanier. Wir befreiten ihn aus spanischer Gefangenschaft, aber das liegt auch schon wieder ein paar Jahre zurück.“

„Vielleicht lerne ich Karl von Hutten eines Tages kennen“, sagte Thomas. „Er hat also den Weg des Kampfes, der Rebellion gewählt, um sich gegen die spanischen Herrscher zu behaupten. Nun, ich bin gegen Gewalt. Ein Dasein wie das auf Hawaii beweist, daß man in Frieden leben kann. Auf Jahrzehnte hinaus. Jahrhundertelang.“

Old Shane beugte sich vor. „Schön, aber was ist, wenn du dich verteidigen mußt? So, wie im Fall einer Auseinandersetzung mit de Galantes?“

„Ja, das wäre ein Problem geworden, wie ja auch schon der Seewolf gesagt hat.“ Thomas nahm einen Schluck von seinem Becher und fuhr fort: „Die Harmonie dieser Inselwelt bleibt eben nur solange intakt, wie keine Einflüsse von außen sie stören. De Galantes und seine spanischen Spießgesellen waren ein solcher störender Einfluß. Denn vor ihrem Eintreffen waren auch die Eingeborenen von Oahu friedfertig.“

„Ich nehme an, dieser de Galantes ist ein Meuterer“, sagte Hasard. „Seinem Aufzug nach muß er früher an Bord eines spanischen Seglers gedient haben. Als Bootsmann, schätze ich.“

„Das stimmt. Wir haben dies alles von einem jungen Polynesier erfahren, der von Oahu geflüchtet ist“, erwiderte der Deutsche. „Er traf vorgestern auf Hawaii ein. Er hatte eins der Mädchen unserer Insel kennengelernt und sich in sie verliebt. Sie verbrachten eine Nacht im Wald, dann konnte sie ihn überreden, zu uns ins Dorf zu kommen …“

„Aha“, sagte Siri-Tong. Triumphierend schaute sie in die Runde. „Was sagt ihr jetzt – ich meine, was die Spuren im Wald und meine weiblichen Eingebungen betrifft?“

„Frauen haben grundsätzlich recht“, antwortete Old O’Flynn.

„Der junge Oahu-Mann berichtete“, sagte Thomas Federmann. „Vor ein paar Wochen waren die Meuterer bei ihnen gelandet – zwölf Mann in einer Pinasse. Sie berauschten die Männer des Stammes mit scharfen Schnäpsen, die sie irgendwie von Bord ihres Schiffes hatten mitschleppen können, nahmen sich ihre Frauen und hausten wie die Vandalen.“

„Und die Galeone? Woher hatten sie die?“ fragte Ferris Tucker.

Thomas sagte: „Es ist noch nicht sehr lange her, da lief dieser Segler die Inseln an. Er befand sich auf Trinkwassersuche, glaube ich. Er geriet nach Oahu. De Galantes stellte der Besatzung eine raffinierte Falle, brachte sie um und kaperte das Schiff. Er löschte den Namen an den Bordwänden aus und entfernte auch die anderen Zeichen, die auf dessen Herkunft hindeuteten.“

„Von da an betätigte sich de Galantes als Pirat“, sagte Hasard. „Er glaubte wohl auch, sämtliche Inseln des Archipels vereinnahmen zu können und hier sein Reich zu errichten.“

„Ja, das nehme ich auch an.“

„Nur hat er sich für zu gerissen gehalten“, meinte Thorfin Njal. „Er dachte, bei uns reiche Beute reißen zu können. Damit hat er ja auch gar nicht mal unrecht. Nur was das Kräfteverhältnis betraf, da hat er sich ins eigene Fleisch geschnitten und den Fehler seines Lebens begangen.“

„Ich möchte, daß die Gefängnishütte ständig bewacht wird“, sagte der Seewolf. „Thomas, Zegú – wir dürfen diesen spanischen Lumpenhund auch jetzt nicht unterschätzen.“

Der Häuptling nickte lächelnd und breitete die Arme aus. „Zegú wird Sorge tragen – für alles. Keine Angst.“ Er beschrieb ein paar Gesten in der Luft. „Es ist viel gesprochen worden heute nacht. Darüber haben Thomas und der König von Hawaii aber eines nicht vergessen – ein Geschenk für die weißen Freunde.“

Hasard wehrte mit einer Gebärde ab. „Nein, nein, ich nehme von euch nichts an. So haben wir nicht gewettet.“

Thomas lächelte nur dazu. Der Häuptling klatschte wieder zweimal in die Hände, und zwei Mädchen sonderten sich daraufhin von der Tanzgruppe auf der Kuhl ab, liefen nach Steuerbord, wo die Krüge und die Körbe abgestellt waren, und hoben einen großen Korb hoch.

Hasard protestierte wieder. Zegú aber wandte sich an Siri-Tong und sagte: „Eine schöne Frau darf es nicht abschlagen, von einem König ein Geschenk anzunehmen.“

„Aber ich darf mich auch dafür revanchieren“, erwiderte sie.

„Paß auf“, raunte Ben seinem Kapitän zu. „Du kriegst hier noch einen echten Rivalen.“

„Mister Brighton“, sagte der Seewolf. „Behalte deine Weisheiten für dich, ja?“

„Ich – äh, Verzeihung, Sir. Das muß am Wein liegen.“

„Glaube ich auch“, sagte Hasard ziemlich grimmig.

Die Mädchen waren heran und wickelten aus, was sie vorsichtig dem Korb entnahmen. Es handelte sich um mehrere flache, eckige Gegenstände. Langsam reichten sie der Korsarin einen nach dem anderen, jedesmal mit einer Verbeugung.

Als Siri-Tong das erste Objekt in Händen hielt, erkannte Hasard ein rechteckiges Stück Leinwand, auf dem jemand in dezenten Farben etwas festgehalten hatte – eine Szene aus dem Leben der Inselbewohner. Auch aus diesem Gemälde sprach die Harmonie und Beschaulichkeit, die dieser Welt zu eigen war.

„Faszinierend“, sagte er.

„Einfach fabelhaft“, meinte nun auch die Eurasierin. „Wer hat denn das gemalt?“

Thorfin Njal grinste wie ein Faun aus den nordischen Tannenwäldern. „Darf ich mal raten, ja?“

Ferris sah ihn entgeistert an. „Woher willst denn ausgerechnet du wissen, wer der Künstler ist, du behelmter Nordpolaffe?“

„Glaubst du, ich habe keine Ahnung von solchen Sachen?“ fragte der Wikinger drohend zurück.

„Jawohl.“

„Dir werde ich’s beweisen. Thomas Federmann ist der Maler.“

Alle sahen zu dem Deutschen, und der wurde jetzt ein wenig verlegen.

„Donnerwetter“, sagte Hasard. „Du bist ja ein richtiges Genie, Thomas. Meinen Glückwunsch.“

„Ich studiere nicht nur die Natur und das Leben der Polynesier, ich will dies alles auch für die Nachwelt festhalten.“ Thomas blickte zu Siri-Tong. „Nur um eins möchte ich euch bitten. Verratet nie jemandem, wo diese Inseln genau liegen. Dann wäre es nämlich mit dem Paradies zu Ende.“

„Das versteht sich von selbst“, versicherte sie ihm ernst. „Hasard und ich werden diese Gemälde wie Schätze verwahren. Aber du kannst uns nicht verwehren, daß wir dir und dem Häuptling auch etwas hinterlassen – als Andenken.“

Hasard hatte Bill, dem Schiffsjungen, der gerade auf dem Achterdeck erschienen war, einen Wink gegeben. Bill trat heran, nahm die Order seines Kapitäns entgegen und verschwand rasch wieder in Richtung Kuhl.

Siri-Tong hielt wieder ein Bild vor sich hin, es war das vierte, das die Mädchen ihr gereicht hatten.

„Hier hast du dich ja sogar selbst porträtiert, Thomas“, sagte sie begeistert. „Und die jungen Frauen hier, die Kinder, die dich umringen – ist das deine Familie auf Hawaii?“

Jetzt lächelte Federmann verschmitzt. „Wir sind eine einzige, große Familie. Ein Mann hat hier nicht nur eine Frau, mit der er zeitlebens in Partnerschaft lebt.“

„Das mußt du mir unbedingt genauer erklären“, meinte sie.

„Moment“, sagte der Seewolf. Er erhob sich und griff nach dem letzten Bild. „Darf ich das mal sehen? Was ist denn das? Ein Schiff?“

Er betrachtete das Gemälde. Es zeigte die Ankerbucht, in der sie jetzt mit der „Isabella“ und dem schwarzen Segler lagen. Auf dem Bild, das eine Szene in der Abenddämmerung darstellte, erschien das fremde Schiff fast nur als Schattenriß – und doch hatte er es plötzlich einwandfrei identifiziert.

„Das ist ja Drakes ‚Golden Hind‘“, sagte er verblüfft.

Seewölfe Paket 6

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