Читать книгу Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden - Rudolf Nährig - Страница 15
Das Los der Volksfesttombola
ОглавлениеZu der einen der beiden Millingertöchter, Veronika, von mir und den Dorfbewohnern nur Vroni genannt, hatte ich ein sehr starkes Vertrauen. Wann immer es möglich war, schloss ich mich diesem inzwischen etwa zweiundzwanzigjährigen Mädchen an. Sie war gottergeben und gottesfürchtig wie ihre Mutter und von einer wohltuenden Güte gesegnet.
Ein- bis zweimal im Jahr gab es im etwas baufälligen Gettsdorfer Pfarrsaal, wo auch die Tanzveranstaltungen stattfanden, eine Theateraufführung. Vroni hatte dabei immer eine Hauptrolle zu spielen. Groß gewachsen, mit ihrem schwarzbraunen, zu einem Kranz geflochtenen Haar und den dunklen, blauen Augen, war sie das, was man ein hübsches, anständiges Mädchen nannte. Diese lautere Figur spielte sie auch in den jeweiligen Bauernstücken im Pfarrsaal. Entweder endeten die Stücke so, dass Vroni den Filou auf den rechten Weg brachte, oder sie bekam am Ende des Stückes, nach allerlei Umwegen und bezwungenen Hürden, den charakterlich ohnedies guten Burschen und heiratete ihn. Ihr tagtägliches Leben war freilich anders und eher das genaue Gegenteil, wenn sie im grauen Kittel, mit grauer Schürze und grauem Kopftuch, eine Butte auf dem Rücken, sich den Schweiß aus der Stirne wischend, im Freien arbeitete und die Feldarbeit sie gebückt und krumm erscheinen ließ. Doch selbst diese Kleidung hat sie immer mit Würde getragen: den grauen Kittel wie einen Purpurmantel und das Kopftuch wie eine Krone auf dem Haupt.
All die wunderschönen Theaterstücke, die die Bauern und den Bauernstand nie als tollpatschig und unbeholfen, sondern immer als gute, rechtschaffene, größtenteils fromme, gottesgläubige Leute darstellten, stammten übrigens aus der Feder unseres Lehrers, des Oberlehrers Gedesberger – desselben Mannes, Vorbild für die Schulkinder dreier Dörfer, der während des Unterrichts, wenn wir ein in seinen Augen strafenswürdiges Vergehen begangen hatten, so lange mit der Weidenrute die Hände und Finger von mir und meinen Mitschülern schlug, bis die Striemen platzten und die Wunden bluteten.
Unvergesslich ist mir ein Volksfest mit Vroni in Ziersdorf geblieben. So ein Volksfest war immer etwas Außergewöhnliches und eine willkommene Abwechslung für die Bewohner all der kleinen Dörfer ringsum. Eine riesige Menschenmenge aus Bauern, Kaufleuten und Beamten jeden Alters versammelte sich da, aus Kindern, Frauen, Burschen und Mädchen, die aus den Ortschaften der Umgebung zusammenströmten. Zur Belustigung boten die Schausteller allerlei Fahrgeschäfte an, wie Schiffschaukeln und Ringelspiel, auch Kettenkarussell genannt. Das Fest dauerte drei Tage und stets bis weit in die Nacht. Die Wein- und Bierbuden animierten die jungen Burschen und Mädchen zum Trinken. Bei all den schönen Dingen kam die Liebe nicht zu kurz, und neun Monate später wurde so manches unerwünschte Kind geboren, oft mit geistiger Behinderung. Neuer Redestoff für die Bänke vorm Haus in den kleinen Dörfern.
Vroni und eine ihrer Freundinnen hatten mich mitgenommen. Ein vier Kilometer langer Fußmarsch war zu bewältigen. Auf diesem Fest gab es auch eine Tombola. Es wurden Lose verteilt und die Gewinnnummern nach und nach aufgerufen oder angeschrieben. Auch Vroni hatte unter ihren Losen einen Gewinner und bekam einen Gutschein, der den Erhalt von fünf Stanitzeln Eis – also Eistüten beziehungsweise Waffeln – aus der nahe gelegenen Gelateria beinhaltete. Das war für mich ganz was Wunderbares. Eis war eine seltene Delikatesse. Bisher hatte ich Eis nur einmal im Jahr, beim Gettsdorfer Kiritag, einem anderen Volksfest, bekommen. Dieses Eis hatte ich mir mit einem Teil der zehn Schillinge gekauft, die ich, ebenfalls einmal im Jahr, von meiner Mutter bekam. Taschengeld für ein ganzes Jahr.
Ein zusätzliches Taschengeld hatte ich mir von meinen Botengängen für Frau Seibinger erhofft. Frau Seibinger, die ich auch viele Male zu ihrem Weinkeller begleitet habe, der als der letzte außerhalb des Dorfes lag, gab mir jeden Sonntag zehn Schilling, die allerdings natürlich nicht für mich bestimmt waren, sondern die ich vor meinem Kirchgang im Gettsdorfer Gemeindehaus auf ihr Sparbuch einzahlte. Am Ende des Jahres bekam die Seibingerin dann 520 Schilling plus Zinsen ausbezahlt, die sie auf ihre vier Kinder verteilte. Und ich bekam für meine sonntäglichen Botendienste am Auszahlungstag zehn Schilling als Jahreslohn, die ich sorgsam aufbewahrte, um am nächsten Kirchtag etwas mehr zu haben. Darauf freute ich mich das ganze Jahr. Statt nur die zehn Schilling von meiner Mutter hätte ich nun das Doppelte. Doch da meine Mutter wusste, dass ich von Frau Seibinger zehn Schilling bekommen hatte, verkündete sie mir nun, mir diesmal keine zehn Schilling, wie sonst, zu geben; ich hätte ja schon zehn. Ihre arg bedrängte finanzielle Situation konnte ich zwar verstehen, aber traurig war ich trotzdem. Fühlte mich für eine kleine Weile regelrecht betrogen. Doch nun hatte ja Vroni ihr Gewinnlos gezogen und ich bekam Eis noch vor dem heiß ersehnten Kiritag in Gettsdorf.
Wir waren zu dritt und hatten fünf Eis, es war also reichlich vorhanden, und so ließ mich Vroni auch noch eine zweite Tüte nehmen. Doch bald musste ich feststellen, dass auch die seltenste Köstlichkeit zu viel werden kann, wenn es sie plötzlich im Überfluss gibt. Als sich bei mir nun allmählich Sättigung einstellte, wollte ich Vroni meine Dankbarkeit erweisen und bot ihr an, auch einmal an meinem schon zur Hälfte abgelutschten Eis zu lecken, woraufhin sie etwas erstaunt schaute und mich dann belehrte, dass man anderen kein bereits angelutschtes Eis anbietet. Meine erste Benimmerziehung in meinem vielleicht siebten Lebensjahr. Dafür bin ich der Vroni nach all den vielen Jahren noch heute dankbar. Damals wollte ich Vroni heiraten, um immer bei ihr sein zu können.
Es war ein glutheißer Sommernachmittag. Auf einem etwa zehn Meter hohen Holzgerüst war ein großer viereckiger, hausähnlicher Würfel, ebenfalls aus Holz, aufgebaut, in dem ein junger Mann saß, der die von einer Jury aus dem Kübel gezogenen Losnummern der Tombola auf große weiße Kartons schrieb, die er dann in die dafür vorgesehenen Fenster steckte, damit die unten stehende Menschenmenge sehen konnte, welche Nummern gewonnen hatten. Die sengende Hitze hatte den jungen Burschen müde gemacht, und als er nun eine Zigarette rauchte, fiel etwas Glut zwischen die Holzlatten und Pappkartons. Er bemerkte es nicht gleich, und als ihm schließlich die Rauchentwicklung unter ihm auffiel, hatte der ganze Aufbau auch schon zu brennen begonnen. Bald schossen die Flammen lichterloh aus dem zehn Meter hohen Holzturm.
Einer der bereitstehenden Feuerwehrmänner reagierte sofort und griff, wie er dachte, nach einem der vielen vorsorglich für einen möglichen Brandfall vorbereiteten Kanister mit Löschwasser. Doch die Bauern, die mit ihren Traktoren zum Fest gekommen waren, hatten für sich ebenfalls Kanister mitgebracht, mit Diesel, um Treibstoff für die Rückfahrt zu haben, und der scheinbar so geistesgegenwärtige Feuerwehrhauptmann hatte in der Eile statt des Wasserkanisters einen dieser Dieselkanister erwischt, und als er nun das vermeintliche Wasser energisch in die Flammen schüttete, verwandelte er, statt zu löschen, das züngelnde Feuer vielmehr vollends in ein alles vernichtendes Flammenmeer. In seiner Not sprang der junge Bursch mit brennendem Hemd und brennender Hose den zehn Meter hohen Turm herunter und brach sich unten das rechte Bein. Schlimmer allerdings waren die Verbrennungen, die er überall am Körper erlitt.
Das chaotische Geschrei in der Menschenmenge wurde immer lauter und hysterischer. Der sich schon von fern mit heulender Sirene ankündigende Rettungswagen war schnell zur Stelle. Die nach Wein und Bier riechenden Sanitäter mit ihren rot aufgedunsenen Gesichtern und den wässrig hervorquellenden Augen sprangen aus dem Wagen und brüllten immer wieder in die gaffende Menge: „Aus dem Weg, aus dem Weg!“ Dann hüllten sie den Burschen, der sich unter seinen versengten Kleidern einen Großteil seiner Haut verbrannt hatte, in weiße Leinentücher und legten ihn auf die mitgebrachte Krankentrage. Die Freundin des Burschen kämpfte sich kreischend und flennend mit den Ellbogen aus der Menge heraus und umschlang mit beiden Armen den verbrannten Körper ihres Freundes, der vor Schmerzen wimmernd auf der Bahre lag und nun, als sie ihn so fest umarmte, sogleich nur noch lauter aufschrie. Der brennende Holzturm brach krachend in sich zusammen. Vroni nahm mich fest bei der Hand, zog mich zum Ausgang, um den Heimweg anzutreten, und wir fingen an zu beten.
Nach etwa einem Dreivierteljahr – man hatte ihm aus den verletzten, aber nur teilweise verbrannten Schenkeln gesunde Hautsegmente auf das Gesicht transplantiert – kam der Bursch wieder aus dem Krankenhaus. Man hatte sich beim Zusammenflicken alle Mühe gegeben, dennoch war sein Gesicht so entstellt, dass es kaum noch eine Ähnlichkeit mit seinem vorherigen Aussehen aufwies.
In der Zwischenzeit hatte sich seine Freundin, die sich damals auf dem Volksfest mit den Ellbogen aus der Menschenmenge gekämpft und ihn flennend umarmt und umklammert hatte, bis er aufschrie, einen anderen, nicht entstellten Liebhaber gesucht und ihn auch gefunden.