Читать книгу Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden - Rudolf Nährig - Страница 6
Nach dem Kirchgang leerte er den Toilettenkübel
ОглавлениеDem alten Schickler, dem Vater vom Schickler-Ferdl, der den Leopold und die Ursl in der Schutzhütte droben auf dem Berg im Weingarten belauscht hatte, waren wegen eines unheilbaren Wundbrandes beide Beine im unteren Drittel des Oberschenkels abgetrennt worden. Mit fünfundsechzig Jahren war er ein Pflegefall. Man hatte ihn in die „Ausnahme“ ausquartiert, die Unterkunft für sieche, alte Menschen. Seine Frau und ihr im Haus gebliebener Sohn, der dumpfe Ferdl, Vater von Gerti, wollten ihn im Haus nicht länger ertragen.
In seiner winzig kleinen Ausnahmekammer, vom Hof aus gegenüber dem Misthaufen gelegen, hatte der alte Schickler alles, was er in den Augen seiner Frau und seines Sohnes als Krüppel brauchte. Ein Bett aus braunem Eichenholz, in dem ein durchgelegener Strohsack eine tiefe Grube bildete, über die ein gelb-graues durchgewetztes Leintuch gebreitet war. Die Federn in der Tuchent, dem Federbett, waren schon so klumpig, dass sie auf beiden Seiten wie schwerer Ballast herunterhingen und in der Mitte, die doch den Körper vor Kälte schützen sollte, nur noch das schmutzige, zerschlissene Leinen blieb. Im Winter war der Körper des Alten nicht nur vom Wundliegen im rauen und feuchten Strohsack rot, sondern auch blau und violett vor Kälte und Erfrierungen. Ein Sessel stand neben dem Bett, damit der alte Schickler vom Bett auf den Sessel und vom Sessel weiter auf seinen verzinkten Blech-Toilettenkübel rutschen konnte, der ein- oder zweimal pro Woche auf den Misthaufen im Hof geleert wurde.
Oftmals kam es vor, dass der alte Schickler in seiner Siechkammer zwischen Bett und Sessel auf den Boden fiel und nicht mehr aus eigener Kraft in sein Bett zurückkonnte. Seine Hilferufe wurden nicht gehört, niemand war im Haus. Er versuchte dann immer wieder, den am Boden liegenden Rumpf an den Armen in die Strohgrube seines Bettes zu ziehen. Die Kraftanstrengung ließ die dicken, aufgequollenen Adern auf dem erhitzten roten Gesicht an Stirn und Schläfen dunkelblau bis schwarz anlaufen. Die beinahe blinden Augen waren weit aufgerissen, und aus den Winkeln des zahnlosen Mundes lief rinnsalartig schäumender Speichel. Dicke Schweißperlen rannen über Wangen und Hals. Das schmutzig graue, unter den Achselhöhlen löchrige Nachthemd, dessen kragenloser Saum rundherum ausgefranst war, klebte triefend nass am verschwitzten Leib.
Als er einmal so zwischen Bett und Sessel lag, kamen zufällig die beiden Millingertöchter vorbei, Vroni und Else. Das war seine Rettung, jedenfalls für diesen Tag. Die beiden jungen Schwestern versuchten mit aller und letzter Kraft, den in sein zerfetztes Nachtkleid gehüllten, am Boden liegenden und röchelnd nach Luft ringenden Mann wieder in sein Bett aus feuchtem Stroh und einem zerschlissenen Jutesack zurückzuhieven. Immer wieder glitschte den schwachen Mädchen der schweißnasse, plumpsackartig schwere Körper aus den Händen. Unter größter Anstrengung gelang es ihnen schließlich, den Beinlosen, mit dem Gesicht nach unten, in sein Bettloch zu rollen. Schwer atmend blieb er dort für einige Zeit auf dem Bauch liegen, bis er wieder genug Kraft gesammelt hatte, um sich auf den Rücken zu drehen. Da war er auch schon wieder allein in seiner winzig kleinen Ausnahmekammer. Der beißend strenge Fäkaliengeruch des Mannes und seiner Behausung hatte die Millingermädchen mit Ekel erfüllt und gezwungen, fluchtartig die Kammer zu verlassen.
Am Kopfende des Bettes stand ein Nachtkastel mit einer Kerze drauf, die aber jeden Abend nur zwei Stunden brennen durfte, und zum Anzünden gab es pro Tag nur ein Streichholz. Zu den Mahlzeiten wurde dem Beinlosen das Essen von seiner strengen Frau auf einem emaillierten braunen, verbeulten Blechteller mit stilisierten, teilweise abgeriebenen roten Rosen darauf grußlos durch die Tür geschoben und auf das am Eingang stehende Stockerl, einen kleinen Schemel, gestellt. Die tägliche Weinration von einem halben Liter Haustrunk bekam er am Mittag. Sie musste bis zum Einschlafen ausreichen. Zigaretten gab es keine mehr, was für den zeitlebens starken Raucher – deswegen hatte er auch beide Beine verloren – ein tagtägliches Martyrium war. Doch da half kein Bitten und kein Betteln. Die Frau blieb hart. Obwohl es jetzt doch eigentlich schon egal war, ob er noch rauchte oder nicht, er hatte ja eh keine Beine mehr zum Amputieren.
Ab fünf Uhr früh ging im Schicklerhaus, schräg gegenüber von dem unseren, das Geschrei und Geplärre seiner Frau los, der Mutter der beiden Söhne des alten Schickler, Ferdinand und Gustav. Gustav allerdings hatte sich schon frühzeitig aus dem Staub gemacht. Er war der Sensiblere und besaß zumindest ein gewisses Potenzial an Intelligenz, das er aber nicht zu nutzen vermochte. Nun führte der dumpfe und leicht beschränkte Ferdinand, meist Ferdl genannt, zusammen mit seiner Mutter und später seiner Frau ihre verwahrloste Klitsche von Hof. Die einzige Kommunikation von Mutter und Sohn bestand darin, sich gegenseitig mit niederträchtigen Gemeinheiten und den wüstesten Beschimpfungen anzuschreien. Der etwa fünfunddreißigjährige abgemagerte Ferdl – debiler Gesichtsausdruck, schmale Lippen, spitze, kurzrückige Nase, blasse, tote Haut, ein larvenähnliches Gesicht – war in dieser Disziplin der einzige Sparringspartner der Alten; zumindest so lange, bis er seine Frau Fanny heiratete, mit der die alte Schickler nun jemand Neues zum Anschreien und Beschimpfen gefunden hatte.
Ferdls Gehabe hatte etwas von einem Neandertaler. Beim Gang zur Sonntagsmesse endete sein krummer, immer nach vorn gebeugter Körper schließlich stets im Wirtshaus. Dort war der Narr des Dorfes gern willkommen. Die wieder und wieder hin und her verdrehten, uralten Neuigkeiten, wie sie sich die Alten in der Abendsonne auf den Bänken erzählten, lieferten ihm und den anderen willkommenen, gut verdaulichen Redestoff. Wirtshaustischgespräche. Sonntags war der Tag, an dem er sich rasierte und umzog. Dann wechselte er seine graubraune, nach Schweinestall und Mist stinkende Alltagshose, die er eng um die Unterschenkel wickelte, um sie dann in die Gummistiefel hineinzustecken, gegen seinen einzigen Anzug. Der war grau gestreift und abgeschabt und die Hose war zu kurz, so dass zwischen den schwarzen, bis über die Knöchel reichenden und an den Absätzen schief abgetretenen Schnürschuhen die dünnen, kalkweißen Schienbeine etwa fünf Zentimeter weit hervortraten. Dazu zog er ein ungebügeltes Hemd an und band sich seine Krawatte wie einen Strick um den Hals. Statt der alten Tellerkappe, die er jahrein, jahraus trug, ob Sommer oder Winter, setzte er sonntags einen grauen Hut auf, der an der vorderen Krempe speckig war, und an den „Hutaugen“ – den Stellen, wo er zufasste, wenn er den Hut zog, um einen des Weges kommenden Bauern zu grüßen – waren links und rechts fingergroße dunkle Verfärbungen und Löcher. Das um den Hut geschlungene Ripsband war rundherum zerstochen von den vielen Abzeichen, die er mit den daran befindlichen Nadeln am Hut befestigte. So stapfte und stackelte er, unentwegt laut oder leise irgendetwas Sinnloses vor sich hinmurmelnd, mit ungelenken, auf dem Rückweg dann oft leicht torkelnden Schritten die Dorfstraße entlang.
Die Mutter hingegen, die Frau vom alten Schickler, Martha hieß sie, machte zwischen Wochentag und Sonntag keinen Unterschied. Tagaus, tagein lief sie mit mehreren verschiedenen um den dicken Leib gewickelten Kleidern, Röcken und Schürzen verwirrt umher, immer eine aufgeregte Rastlosigkeit und Unzufriedenheit in sich. Die fetten, schmutzig graugelben Haare bildeten ein vogelnestähnliches Gewirre, mit einem Band zusammengehalten, das aus einem blauen, ausgefransten Kopftuch gedreht worden war. Ihrem verwitterten Gesicht hatte die Zeit zahlreiche Falten und Male der Verbitterung eingeprägt. Aus den großen und kleinen Warzen, die sich über das ganze Gesicht verteilten, sprossen einzelne kurze oder lange Haare, die grau und borstenähnlich waren. Immer hatte sie irgendein Werkzeug in den Händen, das ihr bei Bedarf als schnell bereite Waffe diente – einen Rechen oder eine Mistgabel, eine Schaufel oder eine Sichel. Die friedlich um den und auf dem Misthaufen mitten im Hof einherstolzierenden Hühner verscheuchte sie immer und immer wieder. Von links nach rechts, von vorn nach hinten, von oben nach unten. Völlig sinn- und grundlos. Der Hahn zeigte Merkmale von Nervosität – ihm schwoll der Kamm und verfärbte sich violett bis schwarz. Die Hühner gaben statt einem Ei täglich höchstens drei oder gar nur zwei pro Woche.
Unterdessen schrie der Alte, so laut er konnte, aus seiner dunklen Kammer, die nur ein kleines Fenster hatte, welches mit dünnen Holzverstrebungen wiederum in vier winzige Fensterchen unterteilt war; eines dieser Fensterchen war zersprungen und einige der Scherben waren herausgefallen. „Hallo, hallo! Martha, Martha!“, schrie er, was sich anhörte wie ein Krächzen und Röcheln, wobei er zwischendurch hustete und immer wieder an seiner die Beinstummel bedeckenden und ein gutes Stück über sie hinaus baumelnden langen Unterhose zerrte. Seine Frau, gerade damit beschäftigt, ihre aufgestaute Wut an den Hühnern oder einem anderen Menschen auszulassen, indem sie ihn beschimpfte, schlug, mit Mistgabel, Schaufel, Sichel bedrohte oder ihm irgendetwas anderes Gemeines, Hinterhältiges antat, schrie widerwillig: „Halt dei Pappen“, und warf, stand gerade die Tür offen, zugleich mit dem auf der Mistgabel liegenden Mist auf ihn.
Eine Stunde später kam der mehr oder weniger dumme Sohn Ferdl angetrunken die Dorfstraße entlangstapfend aus dem Wirtshaus zurück, das er nach dem Kirchgang aufgesucht hatte. Wenn er betrunken war, wurde er leutselig, hatte für seinen alten, verkrüppelten Vater in der Kammer immer ein offenes Ohr und redete mit ihm. Der Alte zeigte ihm seine völlig durchnässte lange, über seine Stümpfe baumelnde Unterhose und versuchte sie sich vom Leib zu zerren.
Der Toilettenkübel war bis zum Rand voll, schwappte über. Schwappte seinem betrunkenen Sohn auf die bis über die Knöchel reichenden Schnürschuhe und die kalkweiß unter der zu kurzen Hose hervortretenden Schienbeine.