Читать книгу Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden - Rudolf Nährig - Страница 9
Dazu Fondantringe in Rosa und Weiß, das Rückenteil in Schokolade getaucht
ОглавлениеUnsere beiden hellbraunen kleinen, gedrungenen Haflingerpferde taugten gut für allerlei landwirtschaftliche Arbeiten. Nachdem der Stiefvater seine Fuhre mit zwanzig Säcken Gerste und Weizen ins vier Kilometer entfernte Genossenschaftslagerhaus gebracht hatte, ging er ins Wirtshaus Bier trinken bis in die finstere Nacht. Sein Pferdewagen hatte keine Beleuchtung, und eines Tages fuhr ihm auf dem Heimweg ein entgegenkommendes, ebenso unbeleuchtetes Motorrad frontal in den Wagen, und die Lenkstange des Fuhrwerks bohrte sich mitten in den Brustkorb des Motorradfahrers. Der viel zu spät kommende Rettungswagen konnte den bewusstlosen Motorradfahrer, dem außerdem beide Arme gebrochen waren und links und rechts schlaff zu Boden hingen, mit Mühen von der Lenkstange ziehen. Doch mittlerweile hatte er so viel Blut verloren, dass er bei Ankunft im Krankenhaus verstarb. Mein Stiefvater indes kam mit dem bloßen Schrecken davon. Vielleicht auch war es für ihn ja nicht einmal ein Schrecken, sondern eher nur ein unangenehmes, störendes Ärgernis gewesen.
Eine unweit der Unfallstelle wohnende Bäuerin kam am nächsten Tag mit drei Kübeln heißem Wasser, um die „Schande“, wie sie sagte, von der Straße wegzuwaschen. Als sie die rotbraunen Blutflecken nicht wegbekam, holte sie zwei Kübel mit Sägespänen und verteilte sie über den Blutflecken. Das musste in Ordnung gebracht werden, das war ihr sehr wichtig.
Nach einiger Zeit erhielt mein Stiefvater vom Gericht eine Vorladung. Der Stiefvater, der nie eine Schule besucht hatte, gab sie meiner Mutter zum Lesen. Meine gute Mutter hat sein Analphabetentum ein Leben lang zu verstecken gewusst. Das Gericht verurteilte den Stiefvater schließlich wegen Fahrens ohne Beleuchtung zu drei Wochen Gefängnis, die er vierzehn Tage nach der Verhandlung antreten und absitzen musste. Da der Motorradfahrer ebenfalls ohne Beleuchtung gefahren war, wurde meinem Stiefvater nur eine Teilschuld zugesprochen, und so fiel die Strafe relativ gering aus.
Mittlerweile war es Anfang Dezember geworden. Um sechs Uhr früh zog er seinen dicken Mantel an, setzte eine Baskenmütze auf, die er nur zu besonderen Anlässen aus dem Schrank nahm, streifte sie mit beiden Händen bis über die leicht nach innen gewölbte Stirn und verabschiedete sich von meiner schluchzenden, weinenden Mutter. In die Manteltaschen steckte sie ihm noch rasch eine Knackwurst, eine Semmel und eine Flasche Bier, die sie am Vortag gekauft hatte – im Gegensatz zum Wein, den man selbst kelterte, war Bier eine regelrechte Kostbarkeit –, und er verschwand mit schnellen, leicht hinkenden Schritten. Ich konnte nicht verstehen, warum meine Mutter weinte. Sie sollte doch froh sein, diesen widerlichen Menschen, der sie immer und immer wieder beleidigt und gedemütigt hatte, eine Zeit lang nicht sehen, hören und fühlen zu müssen.
Kurz vor Weihnachten kam er wieder aus dem Gefängnis zurück. Abgemagert, blass, aber keineswegs geläutert. Er war derselbe. Er blieb sich treu, im bösesten Sinne.
Am 24. Dezember war ich Vier- oder Fünfjähriger so aufgeregt wie lange nicht mehr. Nachmittags durften meine zwei Jahre ältere Schwester und ich unser Schlafzimmer nicht mehr betreten. Es war zugesperrt. Meine Mutter sagte: „Das Christkind wird heute kommen, um den Baum zu putzen. Wann, weiß ich leider nicht, weil es doch alle Tannenbäume im Dorf schmücken muss.“ Aus diesem Grund blieb das Zimmer so lange geschlossen.
Stören durften wir das Christkind nicht. Ich gab mir alle Mühe, einen Blick auf es zu erhaschen, probierte alle Möglichkeiten durch. Ich versuchte durch das Schlüsselloch zu schauen und stellte mich draußen vor die Tür, um zu sehen, wo das Christkind gerade flog. Selbst den Kuhstall hatte ich im Auge, weil ich wusste, dass das Christkind am Heiligen Abend auch die Tiere besucht. Ich habe es nicht gesehen.
Um sechs Uhr hörte ich im Zimmer ein Klingeln, die Tür ging auf, und meine liebe Mutter, die rasch das Kopftuch abgelegt und ihre schmutzige Schürze abgebunden hatte, mit der sie eben noch zum Füttern der Tiere im Stall gewesen war, stand lächelnd vor dem prächtig glitzernden, leuchtenden Christbaum. Mir sprang schier das Herz aus der Brust. Mein Gott, was hing da alles an dem Baum! Schokolade in farbenprächtigem Stanniolpapier. Bonbons, gewickelt in buntes Seidenpapier mit Fransen am oberen und unteren Ende und in der Mitte in ein zusätzliches rotes, blaues, grünes oder goldenes Papier eingeschlagen. Mit verschiedenfarbigen Zuckerstreuseln bestreute Windbäckereien baumelten an silbernen Fäden von den äußersten Enden der Zweige. Dazu Fondantringe in Gelb, Rosa und Weiß, das Rückenteil in Schokolade getaucht, sowie von meiner Mutter gebackene Kekse in verschiedenen Formen wie Halbmonden, Sternen, Herzen und weiß Gott was noch allem. An der Baumspitze steckte ein silberner Stern mit einem aufgeklebten Engelsgesicht.
Alle stellten wir uns rund um den Baum und begannen das Vaterunser zu beten. Meiner Mutter rannen die Tränen über die Wangen und Stiefvater konnte nach den ersten Worten den Text nicht mehr. Er murmelte etwas vor sich hin, so dass man es nicht verstehen konnte. In diesem Augenblick spürte ich unter all seinem alltäglichen Machtgehabe eine erbärmliche Unsicherheit. Anschließend sangen wir noch: „Stille Nacht, Heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar …“
An diesem Heiligen Abend war er nicht betrunken. Dann durften wir die Geschenke nehmen und auspacken. Es war nicht viel unter dem Baum. Ich hatte einen neuen Anorak bekommen. Auch an ein Spielzeugauto aus dunkelrot bemaltem Blech erinnere ich mich noch sehr genau. Wenn man einen großen Schlüssel in das an der Seite befindliche Loch steckte und das Spielzeugauto wie ein Uhrwerk aufzog, rollte es eine Weile auf der grün gesprenkelten Resopaltischplatte im Kreis herum.
Das Besondere daran war, dass das dunkelrote Spielzeugauto sich in eine andere Richtung drehte und weiterlief, wenn es an der abgestoßenen Tischkante angekommen war. Vom Tisch fiel es nie.