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Wir lagen im kühlen Moos und schauten den Eichhörnchen zu

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Die Dorfstraße war etwa dreihundert Meter lang. Linksseitig reihten sich die teils näher an die Straße gebauten, teils zurückgesetzten Häuser und Höfe auf, mit knorrigen Holzbänken davor, wo abends die Alten saßen, sowie kleinen Gärten, in denen von April bis Oktober prächtige, farbenfrohe Blumen blühten. Auf der rechten Seite dagegen befanden sich lediglich die kleine Kapelle in romanischem Stil, das Gemeindehaus, unser Haus mit der Scheune sowie dahinter die Häuser der Sandigers und der Debringers. Dazwischen noch das schmale, enge Haus der betrogenen und von ihrem Mann mit der Bratpfanne beworfenen Ehefrau, unserer unmittelbaren Nachbarin, sowie, hinter den Sandigers, das Haus der Huberkas, wo mein Freund Franz mit seiner Mutter und seinen Geschwistern lebte. An ruhigen Tagen – und ruhig waren die meisten Tage im Dorf – sowie bei günstigem Wind konnte ich manchmal das leise Geplätscher des nahen Flüsschens Schmida und das Geschnatter der Enten hinter den Häusern auf der rechten Seite hören.

Gegenüber von unserem Haus lagen das Millingerhaus, wo die Witwe Millinger mit ihrem Sohn Georg und ihren Töchtern Vroni und Else wohnte (die zu zweit den alten Schickler aus seiner misslichen Lage zwischen Bett und Sessel errettet hatten), sowie der Dorfladen vom Greißler Knötler, das große, neue Wohnhaus der Peterkas und links daneben die verwahrloste Klitsche der Schicklers. Dort, auf der anderen, linken Seite der Straße, führte „hintaus“, also hinter der Dorfstraße parallel zur Hinterfront der dortigen Häuser, Scheunen und Ställe, noch ein zweites Gässchen entlang, die Kellergasse.

Die Dorfstraße und die Kellergasse waren die beiden einzigen Straßen im Dorf, und zumeist lag eine lastende, bedrückende, ja hoffnungslose Stille über ihnen. Lediglich das Geschrei und Geplärre der alten Schicklerin, wenn sie mit ihrem beinlos in der Ausnahmekammer siechenden Mann und ihrem Sohn, dem dumpfen Ferdl, keifte und brüllte, war beinahe tagtäglich von frühmorgens bis spätabends zu vernehmen. Zwischendurch hörte man auch aus dem Haus direkt neben dem unseren Gepolter und laute Wortwechsel, danach leises Wimmern, Jammern und Weinen, bis sich erneut Totenstille über die Dorfstraße legte. Dort, im Haus direkt neben uns, wohnte noch die betrogene Ehefrau bei ihrem Mann, dem Leopold, bis sie dann eines Tages ihre paar Sachen und ihren Sohn packte und drei Ortschaften weiter zog.

Manchmal wurde die über dem Dorf lastende Stille auch von einem ratternden Ochsengespann unterbrochen, mit Rüben oder Erdäpfeln beladen und gezogen von zwei braun gefleckten Ochsen, neben denen der Bauer träge dahintrottete. Oder der Greißler Knötler fuhr knatternd auf seinem alten Zündapp-Motorrad, das ohne die Hilfe von uns Dorfbuben meist nicht zum Anspringen zu bewegen war, zu Einkäufen nach Ziersdorf. Etwa alle zwei Monate kam außerdem das alte, verrostete Auto der vazierenden rumänischen, bulgarischen oder kroatischen Zigeuner mit ihren sonderbaren bunten Kleidern in das Dorf und hielt oben am Ortseingang. Da kam Leben in das Dorf und hastig trugen die Leute sofort alle Habseligkeiten ins Haus, schlossen knallend Türen und Fenster.

Und wenn wieder jemand aus dem Dorf gestorben war, nahm der Totengräber Radlinger, der sein Wohnhaus neben dem Bieringerhaus am oberen Ortsende hatte, seinen Leiterwagen, legte ihn mit einem schwarzen Samttuch aus, band schwarze Moirébänder an alle vier Ecken, steckte ein langstieliges Kreuz auf das Sitzbrett, wofür er eigens ein Loch gebohrt hatte, und fuhr mit dem Sarg von oben in die Kellergasse hinein bis in das untere Dorf, wo er schließlich nach rechts abbog und die Dorfstraße wieder zurückrollte – ehe dann, am Tag darauf, der oder die Verstorbene nach Gettsdorf zum Friedhof gebracht wurde. Während die Toten dergestalt ihre letzte Ehrenrunde durch das Dorf zogen, schauten die alten, schwachen, kränkelnden Frauen und Männer, die zu alt, schwach und kränkelnd waren, um noch auf dem Feld arbeiten zu können, aus dem Fenster oder kamen, wenn sie immerhin dazu noch rüstig genug waren, aus dem Haus heraus, machten ein Kreuzzeichen, nahmen den stets bereitliegenden Rosenkranz in die Hand und beteten, so lange der Wagen in Sicht war. Bei jeder nächsten Runde des Totengräbers Radlinger fehlte dann wieder die eine oder der andere an Fenster oder Tür und fuhr auf dem Leiterwagen mit.

Am Abend, wenn die Bauern vom Feld zurück waren, kam regelmäßig aus Ziersdorf der Fleischhauer Speidler mit seinem chromblitzenden neuen Borgward-Auto, stellte es neben dem Laden vom Greißler Knötler ab und ging von Haus zu Haus mit der Frage: „Haben wir was?“, womit er wissen wollte, ob denn wieder eine Sau zu verkaufen sei. Dabei schnalzte er wie ein Gutsbesitzer mit einer Gerte, die er immer in der linken Hand hatte, gegen seine Knickerbockerhose und gegen den Schaft seiner blank geputzten Lederstiefel. Mit der rechten nahm er andeutungsweise seine karierte Kappe vom Kopf, bevor er dann mit dem meist eingeschüchterten Bauern in den Schweinestall ging und sich die Sau zeigen ließ. Während er das Tier eingehend musterte, strich er sich über seinen grauen, kurz gestutzten Oberlippenbart und meinte: „Zwei Monate noch, dann hole ich sie.“ Gab dem Bauern die Hand, womit er praktisch bereits den Kaufvertrag besiegelte, und verschwand, „Haben wir was?“, schon wieder ins nächste Haus.

An manchen Samstagen nach der Erntezeit, während die Mägde und Mädchen mit ihren aus Reisig gebundenen Riadlbesen fein säuberlich die lehmig-erdigen Trottoirs kehrten, fuhren die wohlhabenderen Bauern aus den umliegenden Ortschaften mit ihren Traktoren durch den Ort, um am Hollabrunner Volksfest teilzunehmen. Über den riesigen Kotflügeln links und rechts saßen auf den angeschraubten hölzernen Sitzen Frauen in Sonntagskleidern mit festgebundenen, bunten Kopftüchern. In unserem Hundertseelendorf jedoch gab es nur einen Traktor – den Traktor der Peterkas in ihrem großen, neuen Wohnhaus neben dem knötlerschen Greißlerladen –, was zusätzlich dafür sorgte, dass über Dorfstraße und Kellergasse meist Totenstille lag.

Jeder Hof im Dorf hatte auf der gegenüberliegenden Seite der Kellergasse seinen Weinkeller. Die Keller waren dort, an der rechten Gassenseite, aufgefädelt wie die Perlen eines Rosenkranzes. Die kleinen Kellerhäuschen, in denen Treppen in die eigentlichen Kellergewölbe darunter hinabführten, ähnelten mit ihren abgerundeten Spitzdächern ein wenig den Trulli, den Rundhäusern im italienischen Apulien. Meist weiß getüncht und mit grünen oder braunen Eingangstüren versehen, neben denen links oder rechts oder beidseitig ein kleines Fenster hervorlugte, erinnerten sie an große, freundliche Gesichter. Von diesen kleinen Kellerhäuschen führte oftmals auch ein Weg zu den angrenzenden Äckern und Weingärten. Die Häuser im unteren Bereich des Dorfes hatten ihre Wein- und Kartoffelkeller weit draußen, außerhalb des Dorfes, und der letzte war der von Frau Seibinger, mit der ich viele Male diesen Weg gegangen bin.

Der Wein war eine der wichtigsten Einnahmequellen der Bauern. Im Sommer kam noch das Getreide dazu. Ein einziges heftiges Gewitter mit Hagel konnte, was oft passierte, die gesamte Ernte zerschlagen und die erhofften und überlebenswichtigen Einnahmen eines ganzen Jahres vernichten. Die wenigsten Bauern hatten hierfür eine der teuren Versicherungen abgeschlossen. Im Laufe der fünfziger Jahre breiteten sich nun die Raiffeisengenossenschaften aus, die den Bauern die Ablieferung und den Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Produkte – wie Erdäpfel, Rüben, Getreide und eben Weintrauben und Wein – sehr viel leichter machten und sie vor den unseriösen Machenschaften der damaligen Großhändler schützten.

Am anderen Ende des Dorfes führte der Weg zu den Weingärten am Hüterberg, der etwa dreihundert Meter von unserem Wohnhaus entfernt lag. Man musste von der Hauptstraße nach links und dann wieder nach links in den Raingraben abbiegen und dann ging es ungefähr fünfzig Meter bergauf. Der Weingarten selbst war ein steiles Grundstück, das mein Stiefvater von der Gemeinde gepachtet hatte. Wenn die Ernte nicht gut war, musste er die Pacht von dem Geld bezahlen, das mein leiblicher Vater, den ich nie kennengelernt habe, als „Kostgeld“ für mich an meine Mutter zahlte. Auch sonst lebten wir im Grunde fast immer von diesem Geld, das meine Mutter für mich erhielt. Eigentlich war es allein für meine Bedürfnisse gedacht, für mein Wohlergehen. Doch nun musste es die ganze Familie mehr schlecht als recht ernähren.

Bevor man nach links in den Raingraben einbog, gab es einen kleinen Wald mit Birken, Robinien, die wir Akazien nannten, und anderen Laubbäumen. Am Waldboden blühten wunderschöne kurzstielige Leberblümchen. Sie hatten sechs- bis siebenblättrige, blassblaue Blüten mit kleeblattähnlichen, sattgrünen Blättern. In vielen Jahren habe ich an dieser Stelle ein kleines Sträußel gepflückt und es meiner Mutter zu ihrem Ehrentag, dem Muttertag, geschenkt. Sie lachte und meinte, wie schön diese Blümlein doch seien. Mehr Lieblichkeiten gab es nicht.

Für mich und die Bieringer-Emma, gewissermaßen meine erste Liebe, sollte dieses Wäldchen zu einem geheimen Treffpunkt werden, an dem wir viele, vielleicht sogar glückliche Stunden verbrachten. Wenn wir ganz drin im kleinen Wald waren, konnte man uns vom Gehweg aus nicht sehen. Die dichten Bäume und Büsche versperrten jede Sicht. Lange lagen wir dort im kühlen Moos und beobachteten die emsigen Ameisen, die unbeirrbaren Käfer und die trägen Schnecken, die sich vom Weinberg über den Gehweg in den Wald verirrt hatten. Schauten den possierlichen Eichhörnchen bei ihrem spielerischen Treiben zu und entzückten uns an allerlei Waldvögeln, die über die Zweige flatterten oder deren Gesang wir lauschten. Diese Stunden ließen mich den bösen Stiefvater und mein ungeliebtes Zuhause oftmals ganz vergessen.

Ein Stück den Raingraben weiter führte ein Weg nach oben zu dem anderen Weingarten am „Berg“. Von dort hatte man rundum einen freien Blick. Hoch hinaus ragten der Getreidesilo der Gettsdorfer Guggenbergermühle sowie der Zwiebelturm der barocken Valentinskirche, in der ich oftmals während der heiligen Messe ministrierte. Am Horizont thronte die gotische Kirche von Wartberg, die dem heiligen Sankt Leonhard, Schutzpatron der Kühe und Pferde, geweiht ist. Von unserem langgestreckten Hundertseelendorf dagegen war nur ein kleiner Teil zu sehen, der übrige Ort wurde durch den großen Bogen eines Hügels verdeckt. Wenn die Abendsonne golden schien, erinnerten Stimmung und Anblick an Joseph von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“: „Als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst.“

Während der Weinlese war auch die Hütte des Hüters, der durch die traubenvollen Gärten strich, um die Diebe von ihren schändlichen Taten abzuhalten, verschlossen. Die verschlossene Hütte bedeutete für den Huberka-Franz, meinen Freund, und mich einen besonderen Anreiz hineinzuschauen. In Hütten wie dieser wurde so manches ungewollte Kind gezeugt, und auch die Mirkan-Ursl hatte sich ja dort mit ihrem verheirateten Liebhaber Leopold getroffen, bevor sie von ihm schwanger geworden war. Durch die Ritzen und Astlöcher im Holz konnte man den mit roten, weißen und blauen Bändern geschmückten Hut des Hüters sehen. Eine durchgebogene Holzpritsche diente dem Hüter zur kurzzeitigen Erholung und für seine Schlafpausen, die er am Tag einlegte. Denn des Nachts war er damit beschäftigt, Wache zu halten. Ein langer, knorriger Birkenstock, mit ebensolchen bunten Bändern versehen wie der Hut, diente ihm als einzige Waffe gegen die Traubendiebe.

Die wirkungsvollste Waffe gegen die Diebe freilich war der Aushang an der Tür des Gemeindeamtes, der ihren vollständigen Namen nannte, wenn sie beim Traubenstehlen erwischt worden waren. Dieses An-den-Pranger-gestellt-Werden bedeutete für die Dorfbewohner einen empfindlichen Ehrverlust und war daher sehr abschreckend.

Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden

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