Читать книгу Das Geheimnis von Fuensanta - Krimi - Rudolf Stratz - Страница 11
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ОглавлениеMale rannte die Treppe hinauf. Auf dem Flur hörte sie schon aus dem Salon die erhitzte Stimme der Mutter. Dazwischen das kräftige Kanzelorgan des Onkels Theodor, des Pfarrers aus der Altmark:
„Gott ist allwissend, Amalie, aber die Menschen nicht!“
„Wo der Hellseher mir doch damals genau gesagt hat, wie das gestohlene Teeservice aussah . . .“
„Das ist so echt euer Berlin! In die Kirche geht ihr nicht . . .“
„. . . wo er mir Stück für Stück beschrieben hat — die Silberkanne . . . das Sieb . . .“
„. . . aber zu solch abergläubischem Getue . . .“
„Ich hab’ mein Silber doch wieder!“
„Durch die Polizei!“
„. . . nachdem der Hellseher die nötigen Winke gegeben hat! Ich schwör’ auf den Strohmeyer!“
„Herr — vergib ihr!“ Der Pfarrer Schuh wandte sich mit einem Seufzen von seiner Schwester. Er war ein langer, dünner Mann mit einem ganz feinen, rosig zarten, in einer graublonden Vollbartwildnis kaum erkennbaren Gesicht. Frau Matteis war jünger al ser, Anfang fünfzig, mittelgross, beweglich, lebhaft wie ihre Tochter, auf die sie mit gerungenen Händen losstürzte.
„Male! Endlich! Da bist du! Um Gottes willen . . . Erzähle . . . Erzähle . . .“
„Ich hab’ dir ja schon alles am Telefon erzählt! Mehr weiss ich selbst nicht!“ Das junge Mädchen warf aufgeregt Hut und Handschuhe auf den Rundtisch, hinter dem auf einem Sofa die Tanten Minna und Aurelia sassen, die eine, das alte Fräulein Schuh, die Schwester ihrer Mutter, die andere, die Frau des Pfarrers, ihre Schwägerin. Der Polytechniker Schuh, deren Sohn, stand daneben. Da war noch die Primanerin Lotte und der junge Bankbeflissene Karl Matteis, Kinder des auch achon verstorbenen, vervetterten Kommerzienrats Matteis — alle teils ohnedies zu Besuch im Haus, teils telefonisch zusammengetrommelt, alle Aktieninhaber des Familienclans der Matteis-Automobil A.-G., alle Frauen und Jugendliche, ausser dem Wort Gottes vom Lande, dem gegenüber den Geheimnissen Berlins weltfremden Pfarrer Schuh. Male hielt sich, in dem allgemeinen Wirrwarr, die Ohren zu.
„Kinder — tut mir den einzigen Gefallen und schreit nicht alle durcheinander!“ sagte sie. „Mit dem Gerede und Gejammer um die Elfi kommen wir nicht weiter! Es muss gehandelt werden! Ich muss handeln! Ich bin der einzige Mann in der Familie! Verzeihe, Onkel Theodor — ich meine natürlich nur in solchen Abenteuern und Gefahren, wie sie jedem bevorstehen, der sich in diese dunkle Mordsache hineinmengt! Wie?“ Sie wandte sich zu ihrer Mutter. „Offenbar hat er sie in der Nähe von Fuensanta ermordet! Ich fahre sofort hin und stelle Nachforschungen an . . .“ Sie klingelte. „Laufen Sie rasch hinüber ins Büro, Martha!“ befahl sie dem eintretenden Mädchen. „Ich lasse Herrn Gilg, den spanischen Korrespondenten, bitten, sich sofort zu mir hierher zu bemühen! . . . Ja. Er hat die Elfi ermordet, Mama! Augenblicklich ist er hinter mir her, wahrscheinlich, um mich auch auszurotten! Er ist auf dem Weg! Er wird gleich da sein!“
„Um Gottes willen . . . die Polizei . . .“
„Die Polizei gibt ja ihren Segen dazu! Vorhin hat er mich schon in der Stadt am Hals gepackt gahabt und gebeutelt! Sie haben ihn auf die Wache gebracht! Da ist er wieder! Aus dem Sanatorium ist er auch ausgebrochen! Nichts gegen ihn zu machen! Nein — lass nur, Mama! Ich graule mich nicht vor ihm! Er soll nur kommen! Ihr braucht euch nicht jetzt schon unter die Stühle zu verkriechen! Ich empfange ihn unter vier Augen! Ich lasse ihn nicht aus dem Zimmer, ehe er mir gesteht, was er mit der Elfi gemacht hat.“
„Was sagt er denn bis jetzt?“
„Mit eiserner Stirne und schlecht gespielter Überraschung: Er wisse von nichts!“
„Und wenn er dabei bleibt?“
„Dann wüssen wir mit allen Kräften auf andere Weise die Wahrheit entschleiern! Wie, Mama? Dein Gedankenleser — von damals — mit dem gestohlenen Teeservice — ach — ich bitt’ dich — das ist ja reiner Unsinn! Herr Gilg!“ Male Matteis eilte dem eintretenden glattrasierten und respektablen Fünfziger entgegen. „Bestellen Sie Ihr Haus! Verabschieden Sie sich von Ihrer Familie! Sie müssen heute noch nach Spanien fliegen. Ich brauche Sie dort, weil ich doch kein Wort Spanisch verstehe. Ich komme mit achthundert Kilometer täglich im Auto hinterher. Bitte, schicken Sie mir mal gleich den Werkmeister, den Giesebrecht! Ich treffe mich mit Ihnen an der Pyrenäengrenze! Wie? Ja! Ich muss in Spanien das Rätsel des Verschwindens meiner Schwester lösen! Mama — lasse mich um Gottes willen mit deinem Hellseher Strohmeyer in Ruhe! Schreiben Sie mir genau die Route auf, Herr Gilg! Ich schicke Ihnen meinen Pass! Besorgen Sie die ganze Wirtschaft auf dem Konsulat! Verlieren Sie keine Minute! Ich hab’ jetzt nicht die Zeit, Ihnen alles zu erklären! Also auf nachher! Adieu! Adieu! —
„Herrgott! Ihr macht mich direct nervös mit eurem Gedankenleser!“ Male Matteis wandte sich zu der Mutter und den zappelnden Tanten. „Das weiss ich, dass der gute Mann drüben in der Frankfurter Allee wohnt — nur ’ne Viertelstunde mit dem Auto von hier! . . . Aber mir ist jetzt die Zeit wirklich für solche Kindereien zu kostbar!“
„Du hast recht! Das sind heidnische Experimente, aber nichts für gutr Christen!“ bestätigte der Pfarrer. Male warf ungeduldig den Kopf zurück.
„Du machst einen ganz rebellisch, mit deiner salbungsvollen Art, Onkel! Du erreichst gerade das Gegenteil! Ich bin ein ganz moderns Mächen! Warum sollte ich nicht an Hellseherei galuben? Ich tu’s bloss nicht, weil ich zu nüchtern veranlagt bin! Das ist mein persönliches Pech! Gott sei Dank, Giesebrecht: Da sind Sie! . . . Kommen Sie mal fix daher!“
Paul Giesebrecht, der Berufsrennfahrer der Fabrik, war ein breitschulterig untersetztes, langsames, nervenloses Geschöpf, Voll eherner Ruhe auf dem vollmondrunden, gutmütig bartlosen, hamsterbärtigen Antlitz mit den kleinen, schläfrig halbgeschlossenen Augen. Male nahm ihn vertraulich bei der Hand.
„Wir müssen zusammen nach Spanien fahren, Paule,“ sagte sie atemlos. „Wann? Heute noch! In ein paar Stunden! Richten Sie unseren mordsbesten Wagen! Wir lösen uns gegenseitig am Steuer ab! Dann kommen wir schon schnell genug durch Europa! Es ist ja jetzt im Juni so lange hell! Herr Gilg fliegt voraus! Auf Wiedersehen! Martha — packen Sie meine Sachen in den Autokoffer! Martha! Wo steckt denn wieder die Martha?“
„Es hupt draussen!“ verkündete die Primanerin Lotte bang.
„Es fährt ein Taxameter vor!“ Die Stimme des Pfarrers schwankte unsicher.
„Der Onkel Christof sitzt darin!“ schrie der Bankbeflissene.
„Er springt heraus!“
„Er läuft ins Haus!“
„Martha . . . sind Sie endlich da?“ sagte Male Matteis ruhig. „Herr Vohwinkel? Ja. Ich habe ihn schon gesehen! Führen Sie meinen Schwager in das grüne Zimmer! Ich komme gleich!“
Der schöne Mann stand stumm in der Mitte des Gemachs. Leise öffnete sich die Tür ein wenig. Males hübscher Kopf spähte misstrauisch durch den Spalt nach dem Besucher.
„Geh mal bitte bis zum Fenster hin!“ sagte sie. „So! Danke!“ Sie trat vorsichtig, auf den Fussspitzen ein und setzte sich hart neben der Türe auf einen Stuhl, den Blick immer fest, wie eine Löwenbraut im Käfig, auf den dunklen Schattenriss ihres Schwagers drüben vor der hellen Scheibe gerichtet.
„Bitte — nimm dort Platz! Auf dem Fauteuil neben dem Fenster! Komme mir nicht näher! Du erlaubst schon, dass ich der Vorsicht halber die Breite des Zimmers zwischen uns lege! Ich bin darin komisch! Ich hab’ es nicht gern, am Hals gewürgt zu werden. Auch nicht von den nächsten Verwandten! —
Was diese Art von Familienleben betrifft,“ Male Matteis öffnete, unter einem Stoss Zeitungsblätter, die sie in der Linken hielt, hervor die rechte Faust. In der Handfläche ruhte schussgerecht ein winziger Revolver. „Bilde dir nicht ein, dass das ein Kinderspielzeug ist! Das Ding ist scharf geladen! Es schiesst und trifft! Ich hab’ es auf den Lendstrassen immer im Auto mit! Das nur beiläufig! Du verstehst . . .“
„Ich habe gar keine Waffe bei mir!“ Der Architekt Vohwinkel murmelte es in einem müden, beinahe gleichgültigen Ton. Er sass, in der Haltung eines ganz erschöpften Menschen, am Fenster, die Hände auf den Knien ineinander gekrampft, bleich in dem hellen Tageslicht. Vonder Wand blickte, in Öl und Gold, der verstorbene Fabrikant Matteis, ein bärtiger, energischer Charakterkopf, auf seine hübsche Tochter und seinen schönen Schwiegersohn nieder. Der schwieg. Starrte vor sich hin. Es zuckte unstet über seine verstörten Züge. Sein Mund stand halb offen. Er schluckte zwei-, dreimal, bis er ihm gequält ein paar leise, gepresste Worte abrang.
„Ich weiss, Male . . . Du bist innerlich ein leidenschaftlicer Mensch . . . Bei dir geht alles tief . . .“
„Von mir ist nicht die Rede!“
„. . . wenn du auch nach aussen noch so kühl und flott auftrittst!“ Christof Vohwinkel holte sich sein Taschentuch heraus und trocknete sich den kalten Schweiss von der Stirne.
„Bitte — komm zur Sache!“
„Ich weiss, dass du mich hasst, so wie du eben hassen kannst — weil du die Elfi geliebt hast, so wie du lieben kannst . . .“
„Was willst du hier?“
„. . . und dass du sie furchtbar an mir rächen willst . . .“
„Ein Verbrechen rächt man nicht, sondern man bestraft es. Und das ist nicht meine Sache, sondern die der Gerichte, die dich unbegreiflicherweise immer noch auf Berlin loslassen . . .“
„. . . weil sie wissen, dass ich unschuldig bin! Und das weisst auch du!“ Der Architekt warf seiner Schwägerin einen verzweifelten Blick zu. In seinen weichen, südlich dunklen Augen flehte die stumme Angst eines gehetzten Tiers. „Du bist doch eine Frau! Du bist doch ein Mensch! Du kannst doch nicht kaltblütig, wider besseres Wissen, einen Menschen morden . . .“
„Ich?“
„. . . indem du behauptest, ich hätte meine Frau ermordet!“
„Sage doch, wo du während ihres Todes warst! Aha — du schweigst!“
„Sage du lieber . . .“ Christof Vohwinkel richtete sich, wachsgelb im Gesicht, langsam, wie ein erwachender Scheintoter auf. Male Matteis umfasste umwillkürlich, mit einem prüfenden Blick auf ihn, den Kolben ihres Damenrevolvers. „. . . Sage du lieber, ob du nicht in der Zeit, wo ich nicht dort war, in Fuensanta warst und im Einverständnis mit der Elfi ihren angeblichen Tod in Szene gesetzt hast!“
„Glaubst du immer noch an den hellen Unsinn?“
„Die Elfi selber ist ja zu so etwas unfähig! Du must ihr geholfen haben!“
„Warum bist du nicht, wenn du in dieser Geistesverfassung bist, im Sanatorium geblieben?“
„Du hast es dort fertig gebracht, den leeren Sarg zu verschliessen . . .“
Male Matteis stand behutsam auf, ging Fuss vor Fuss bis in die Mitte des Zimmers und legte die Zeitungen, die sie in der Hand hielt, dort auf den Tisch. Dann schritt sie rücklings, mit dem Gesicht gegen ihren Schwager, nach der Türe zurück und setzte sich.
„Es sind alte Nummern, vom vorigen Jahr, die daliegen!“ sagte sie. „Hole sie dir und lese sie bitte am Fenster! Du findest in jeder Nummer, durch acht Tage, meinen Namen als Teilnehmerin an der österreichischen Zuverlässigkeitsfahrt genannt. Es sind genau die Tage, in denen die Elfi, fern in Spanien, gestorben ist. In Linz bekam ich die Depesche und brach die Fahrt ab undd fuhr mit dem Schnellzug nach Berlin zu Mama. Vorher hatte ich vier Wochen ununterbrochen in Berlin trainiert. Jeder Mensch sah mich täglich in der Fabrik. Ich kann also unmöglich in dieser Zeit in Spanien gewesen sein. Ich war überhaupt nie dort. Ich spreche keine Silbe Spanisch. Ich habe keine Ahnung von den dortigen Menschen und Dingen. Leute, die dir glauben, dass ich in Fuensanta die Hand im Spiel hatte, wirst du allenfalls in ’ner Gummizelle auftreiben — aber sonst nirgends auf der Welt!“
„Ich werde bald selbst verrückt!“
„Aber dann spiele bitte nicht gegen mich den wilden Mann und versuche nicht, dein Schuldbewusstsein auf mich abzuwälzen! Das Unterfangen ist kindisch! Das musst du selbst in deinem ersten lichten Augenblick begreifen . . . Ich glaube, du hast jetzt gerade einen . . .“
„Ja. Ich sehe es ein . . .“ Christof Vohwinkel sprach mühsam, den Blick ins Leere. „. . . Ich . . . kann . . . diesen Verdacht . . . nicht aufrecht erhalten . . . diesen Verdacht gegen dich . . . Er kam mir so . . . in meinem Fieberzustand . . . Man klammert sich an einen Strohhalm . . .
Nein. Nein. Nein. Dann ist alles beim alten! Dann ist die Elfi wirklich tot!“ Der schöne Mann am Fenster schrie es auf. Er brach plötzlich zusammen. Er legte im Sitzen die Stirn auf die Knie. Er weinte hell wie ein Kind. Seine Stimme schluchzte erstickt. „Ich weiss ja, dass sie tot ist . . . tot . . . tot . . . tot . . .“ Der Architekt Vohwinkel stöhnte es auf. Er hatte tränenfeuchte Augen. Er schaute wirr zur Zimmerdecke. Er trommelte mit den Fäusten auf den Knien und sank plötzlich wieder wie ein zuckender Klumpen Kleider in einen neuen fassungslosen Weinkrampf zusammen. Seine Schwägerin beobachtete ihn forschend und feindselig vom anderen Ende des Zimmers. Sie schob dabei langsam ihren kleinen Revolver in die Seitentasche ihrer weissleinenen Jacke zurück.
„Nee — der Mann ist nicht mehr gefährlich . . .,“ versetzte neben ihr, wie aus ihren Gedanken heraus, eine halblaute Stimme. Der Rechtsanwalt Burhem war eingetreten. Er senkte den hageren, bartlosen Kopf zu seiner Klientin hinab. Auf seinen beweglichen Zügen zuckte jetzt nicht die gewohnte nervosa Ironie. Die klugen Augen hefteten sich durch den goldenen Zwicker durchdringend ernst auf den still weinenden Mann am Fenster.
„Laufen Sie Sturm!“ flüsterte er. „Er ist jetzt weich! Nutzen Sie die Zeit! Stellen Sie sich vor ihn hin! Reissen Sie ihm das Geständnis aus der Seele . . . So . . .“ Er folgte Male Matteis, die hastig aufsprang und durch das Zimmer auf den Architekten Vohwinkel zulief. Er satnd schutzbereit hinter ihr und schaute ihr über die Schulter. Sie beugte sich zu dem gebrochenen Mann auf dem Stuhl.
„Einmal muss es doch sein! . . .“ sagte sie entschlossen zwischen den Zähnen. „Warum quälst du noch dich und andere? . . . Sprich die Wahrheit . . .“
Eine wilde, entsetzte, abwehrende Bewegung unter ihr. Male Matteis schüttelte den Kopf. Sie beharrte, mit ihrer klaren, hellen Stimme: „Erleichtere dein Gewissen! Du hast dich doch in deinen eigenen Schlingen verstrickt! Du kannst die Widersprüche nicht aufklären! Es bleibt dir nichts übrig, als zu gestehen! Du wirst viel ruhiger werden, wenn du die Last von der Seele hast!“
„Ich war es doch nicht! Ich will nicht sterben!“ Die Stimme Christof Vohwinkels gellte durch das Zimmer. Er sprang empor. Er stand wildkeuchend da. Er griff sich mit der Hand zwischen Hals und Kragen, wie um sich in einem Ersticknungsanfall Luft zu schaffen. „Lasst mich in Ruhe! Verstanden? — Ich hab’ hier schon Leute um mich genug! Was wollen Sie denn auch noch hier, Sie Gerichtsschreiber oder wer Sie sind? . . . Ich brauche Sie nicht . . . Ich will allein sein! . . . Ich . . . ja . . . ich werde jetzt also wieder gehen!“ Der Architekt tat mechanisch ein paar Schritte zur Tür. „Mein Auto ist unten!“
„Meines auch!“ sagte der junge, blonde Referendar. „Der Untersuchungsrichter hat es sehr missfällig vermerkt, dass Sie heimlich das Sanatorium verlassen haben! Er wünscht, Sie daraufhin sofort einem Verhör zu unterziehen! Ich wollte mich, in seinem Auftrag, hier bei Ihren Verwandten, nach Ihrem mutmasslichen Verbleib erkundigen, und hatte die Chance, Sie gleich persönlich anzutreffen! Darf ich bitten, mir zu folgen!“
Christof Vohwinkel erwiderte nichts. Er ging schleppend, dumpf ergeben, mit gesenktem Haupt, ohne sich um die Anwesenden zu kümmern, über die Schwelle. Auf ihr verbeugte sich der blonde, junge Referendar korrekt nach rückwärts in das Zimmer und folgte ihm. Male schaute hinter ihrem Schwager her.
„Aus dem ist nichts herauszukriegen!“ sagte sie, in ihre Gedanken verloren. „Überhaupt hier in Berlin nichts! Nur an Ort und Stelle. In Spanien . . .“
Dann hefteten sich plötzlich ihre lebhaften braunen Augen betroffen auf den Rechtsanwalt Burhem.
„Und womit kann ich Ihnen dienen, Herr Doktor? Verzeihen Sie die Frage! Aber da ich alle Hände voll zu tun habe . . . Sie hatten doch in dieser Sache gestreikt . . .“
„Ja — aber — ich telefonierte vorhin schon vergeblich . . . Es handelt sich um meinen Sozius! Der Mann ist nämlich nicht ganz taktfest auf der Leber! Eine Nervenmühle wie den Fall Vohwinkel hält er nicht aus!“
„Komisch . . .“ sagte Male Matteis.
„. . . Dass der Dohmke nach Karlsbad muss?“
„Nein: Dass Sie dabei rot werden? Warum werden Sie denn rot?“
„Ich denke nicht daran!“
„Aber natürlich! Sie werden ja noch röter!“
„Lassen wir das bitte, gnädiges Fräulein!“
„Ich dachte, so abgebrühten Rechtsanwälten wie Ihnen könnte so was gar nicht mehr passieren!“
„Bleiben wir bei der Sache! Also es bleibt mir da keine Wahl: Ich muss nolens volens statt des Dohmke . . .“
„Ich dachte, Sie wären dazu viel zu blasiert! Sind Sie ja auch! Sensationsprozesse sind Ihnen ein Greuel . . .“
„Aber dieser nicht . . .“
„— ein Greuel — haben Sie selber heute früh gesagt! Also lassen wir’s bei Ihrer guten Absicht bewenden, Herr Doktor! Ich danke Ihnen schön! Ich will auch die Leber Ihres Herrn Dohmke nicht unnötig belasten! Ich finde schon noch heute, ehe ich wegfahr’, hier in Berlin einen wirklich schneidigen Rechtsanwalt während meiner Abwesenheit!“
„Aber, gnädiges Fräulein . . .“
„Ach — du grosser Gott! . . . Geht meine Armbanuhr richtig? Ja? Dann muss ich schleunigst hinüber in die Fabrik! Sonst gehen mir dort die Direktoren durch die Binsen! Wie? Ob Sie mitkommen können?“ Male Matteis sprang schon, zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinab. „Wir haben uns doch eigentlich alles gesagt!“ Sie hastete mit blossem Kopf an der Garage hinter der Villa vorbei. „Nein? Noch nicht? Ja — was denn noch? Ob ich mir meine Ablehnung nicht noch überlegen will? Ja, warum denn?“ Sie eilte durch ein aufklirrendes Eisentor, dem salutierenden Wächter zunickend, in den Fabrikhof. „Vorhin hatten Sie keine Lust! Jetzt hab’ ich keine Lust mehr! Das ist doch furchtbar einfach!“
„Nein, Fräulein Matteis! Die Angelegenheit ist nicht einfach! Die Angelegenheit erfordert eine ganz gewiegte Kraft! Und zwar — entschuldigen Sie die Offenheit — keine andere als die meinige!“ Der Rechtsanwalt Burhem trabte atemlos nebenher und musste dabei schreien. Rings um sie beide donnerte jetzt und flammte und rauchte das Reich der Arbeit. Die Hämmer tanzten. Die Drehbänke sangen. Die Treibriemen surrten. Die Fräsmaschinen kreischten. Rotglut aus offenen Öfen und kalter Windzug durch offene Fenster schlugen ineinander. Purpurheisse Stahlstücke wanderten an Ketten durch die Luft. Weisse Augäpfel rollten in russigen Gesichtern. Male Matteis lief durch Hitze, Lärm, Pfützen, Staub, Rauch wie durch ihre gute Stube. Sie sprang elastisch über die Eisenbahnschienen am Boden. Sie schirmte mechanisch die Augen mit gespreizter Hand gegen das Funkensprühen der zischenden Schweisskolben. Sie deutete stehenbleibend mit dem linken Zeigefinger auf einen Motorblock und schrie, die Rechte als Sprechrohr an den Mund legend, durch den Spektakel einem Arbeiter etwas von Zylindern ins Ohr, das der Rechtsanwalt Burhem nicht verstand. Sie hatte seine letzten Worte gar nicht mehr gehört. Sie stürzte auf einen älteren Herrn zu, der in einem Hof eine Reihe von Eisenbahnwagen abschritt, und redete stürmisch auf ihn ein.
„Das war nämlich unser Finanzminister! Der schickt mir in einer Viertelstunde das nötige Kleingeld für die Reise hinüber!“ sagte sie, zu dem Verteidiger zurückkehrend, durch die plötzliche Stille hier im Freien, ausserhalb der Maschinensäle. „Diese Reise nach Spanien geht natürlich über mein Privatkonto. Ich nehme von der Fabrik nichts geschenkt!“
„Sie verdienen ja auch genug!“
„Da — bitte!“ Die Augen des jungen Mädchens glänzten. Sie wies auf die vielen Güterwagen hintereinander, von denen jeder eine Holzkiste von der Grösse einer Schlafkammer trug. „So geht das jetzt jeden Tag! Jeden Tag geht, alles in allem, ungefähr ein Güterzug mit Matteis-Sechs hinaus an unsere Kunden — alles unser neues Kleinauto, seitdem ich damit das Bergrennen gemacht hab’! Fein — was?“
Das junge Mädchen vergass für einen Augenblick Not und Drang des Tages. Sie schaute stolz durch ihr Reich. Und es war dem melanchlolischen Rechtsanwalt neben ihr, als sei sie selbst ein Stück dieses Reichs von Feuer und Stahl, eine schöne Blüte, die dieser heisse, zitternde Boden der Arbeit trieb, das Kind einer neuen Welt von Nerven, Kohlen, Massen, Muskeln, mit neuem Lebenswillen und neuem Ichgefühl. Sie stand jetzt etwas abseits im Gespräch mit dem technischen Direktor. Sie verhandelte mit diesem ungemütlich bestimmt aussehenden Herrn im langen Leinenkittel, dessen Wort sonst kurzer Befehl und blinder Gehorsam hiess, vertraulich und sachlich wie ein jüngerer Kamerad mit dem älteren, und trennte sich von ihm mit kräftigem Händedruck.
„Es muss nämlich jetzt jemand anderer statt mir die neue leichte Rennmaschine einfahren helfen!“ sagte sie, auf dem Rückweg nach der Villa, zu dem Rechtsanwalt Burhem. „Dumm — aber nichts zu machen! . . . Paule! . . . Paule!“ Sie winkte dem Werkmeister Giesebrecht, der an einem mächtigen Tourenwagen herumbastelte. „Denken Sie um Gottes willen an unsere Triptyques für Frankreich und Spanien! Schon beim Klub unterwegs? Na schön! Dann bin ich hier fertig!“
„Fräulien Matteis,“ begann Albert Burhem eindringlich, während sich die beiden dem Fabrikgitter näherten, „es klingt ja komisch, wenn ein Rechtsanwalt meines Kalibers sozusagen um Beschäftigung bittet . . . Ich wimmele mir ja im Gegenteil die Sachen ab, wo ich nur kann!“
„Ja. Das sagten Sie heute morgen schon!“ Male Matteis betrat zerstreut den Hofraum vor der Garage.
„Aber diese Sache heute macht eine Ausnahme! Diese Sache beschäftigt mich in einem Masse . . . Ich möchte diese Sache nicht aus der Hand lassen! Sie sollten mir deise Sache ruhig anvertrauen!“
Das junge Mädchen stand, ohne auf ihn zu hören, und betrachtete misstrauisch das kleine, dunkle Stadtcoupé, das eben, von dem Chauffeur gesteuert, dumpf tutend aus der Garage um die Villa herum nach der Vorfahrt rollte.
„Mama fährt aus?“ murmelte sie. „. . . In ’ner Stunde wie dieser? Ohne mir was zu sagen? Wenn nur nicht da ’ne Dummheit . . . Ich muss doch mal nachsehen!“ Sie lief leichtfüssig dem Rechtsanwalt Burhem voraus, nach vorn. „Gott — Mama — da stehst du ja schon — du — Mama — Ich seh’ dir was an! . . . Du bist auf bösen Wegen . . .“
„Nenn’ es, wie du willst!“ sagte Frau Amalie Matteis, im Begriff, in ihren Wagen zu steigen, mit leidenden Entschlossenheit. „Hier — die Tante Minna begleitet mich! . . .“
Das alte Fräulein Schuh sass schon in dem Auto. Die anderen Verwandten, der Pfarrer und seine Frau, die Primanerin, der Bankbeflissene, standen auf der Freitreppe. Male drängte sie zur Seite und musterte kopfschüttelnd ihre Mutter. Die beharrte: „Ich schwöre nun mal auf den Strohmeyer!“
„Und da willst du jetzt wirklich zu dem Hellseher hin?“
„Jetzt gleich! Vormittags ist er immer zu Hause!“
„. . . und ihn wegen der Elfi fragen?“
„Vielleicht spart dir das deine ganze Reise nach Spanien! Vielleicht bringt das Licht in die ganze Sache!“
„Der wird die ein schönes Zeug vorreden!“
„Nein. Deswegen eile ich mich ja so, ehe etwas von der Exhumierung heute in der Mittagszeitung steht!“ sagte die Witwe Matteis aufgeregt, den Fuss auf dem Trittbrett. „Jetzt kann er noch nichts von dieser Überraschung wissen! Jetzt ist er auf seine eigenen, okkulten Kräfte angewiesen!“
„Aber dich kennt er doch — von dem gestohlenen Teeservice her, Mama!“ Male tippet sich mit dem Finger gegen die Stirne. „Wahrscheinlich hast du ihm bei der Gelegenheit auch von der Elfi ihrem Tod erzählt! Ja? Na also! Da weiss der gute Mann ja ’ne ganze Menge! Daraus kombiniert er dann munter so weiter! Kinder — da kann ich auch hellsenen!“
„Ja — aber was soll man denn da machen?“
„Vor allem — Mama — es müsste doch jemand hin, den er nicht kennt! Der ihm auch keine Namen nennt, so dass er keinerlei Anhaltspunkte gewinnt. Dann soll er mal zeigen, was er kann!“
„Aber wer sollte das sein, Male?“
„Hat er je die Tante Minne gesehen?“
„Die Tante Minna ist doch viel zu quatsch dazu!“ flüsterte auf der Treppe die Primanerin zu dem Banklehrling. Males Mutter schüttelte mit einem Blick auf das alte Fräulein im Wagen unsicher den Kopf.
„Nein . . . Niemals! Aber ob es die gute Minna allein . . .“
„Also ich fahre in Gottes Namen mit ihr hin, Mama, bloss damit wenigstens diese Sache vor meiner Abreise aus der Welt kommt! Ich habe gerade noch eine Stunde Zeit.“ Male Matteis schlüpfte biegsam in den engen, kleinen Wagen. „Mach’ mal ’n bisschen Platz, Tante! Ich hab’ lange Beine! So! Los!“