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Ein Gewirr schmieriger, vielfach kaum mannsbreiter Hohlgassen trennte damals, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, nachtstill, stinkend und stockdunkel, die beiden elegantesten Teile Peras, die obere Hälfte der Grande Rue und die Gegend um den Munizipalgarten, wo das Stadtpalais des Levantiners Lamba stand.

Für ihn, den Sohn des Mittelmeers und seiner heissen Sonne, gab es sonst eine Fortbewegung nur im Sattel, Wagen oder Kaik. Aber jetzt ging er, von der Angst um die Eisenbahnkonzession gehetzt, in das Bild der Schwimmerin über den Bosporus verglüht, zu Fuss durch das finstere Strassenviertel zwischen der Derwischgasse und der Rue Venedik.

Er stolperte über ein paar knurrende wilde Hunde. Ihre Augen funkelten grün vor Hunger aus dem strohgelben Pelz. Er stiess an etwas Rauhhaariges, Grosses, Lebendiges und fühlte drüber an den Ohren: da stand im Weg ein schlafender, verlaufener Esel. Kein Treiber dabei. Kein Mensch weit und breit. Doch jetzt hörte, durch Konstantinopels nie endendes, mächtiges, vieltausendfaches Hundegebell fern und nah, der einsame Millionär deutlich hinter sich das wiegende Klatschen blosser Sohlen. Er umkrampfte den Revolvergriff in der Hosentasche und schon sich zitternd rücklings weiter, die Augen auf den unheimlichen Schatten gerichtet.

„Komme mir nicht nahe oder ich schiesse!“ Dreifach der Sicherheit halber — auf türkisch, griechisch und armenisch — die Drohung aus erstickter Kehle.

Die Gestalt drüben antwortete nicht. Sie behielt ihren Abstand bei. Lamba atmete auf. Er stand an der Ecke seines eigenen vornehmen Villenviertels geborgen unter dem trübgelben Mond der ersten Öllaterne. Aus dem Kellerschwarz der engen Gasse, bis an die Grenze des Zwielichts, schlich ein Derwisch. Keiner der landläufigen Heuler und Tänzer in kaffeebrauner Kutte und Kegelmütze. Das war einer der „Gesetzlosen“, der wilden heiligen Landstreicher aus Kleinasien und Persien, die sich in zusammengenähte bunte Fetzen aus dem Strassenstaub kleideten und beim Betteln drohend den schuhlangen stählernen Stab mit dem gehörnten Satanskopf schwangen.

„Schiessen Sie nicht auf mich, Monsieur Lamba!“ Es kam leise auf französisch aus dem verwilderten Bart.

„Mein Gott . . . Exzellenz . . .“

„Sie entgehen mir nicht!“

„Wie sollte ich erkennen, dass Sie es sind? Ich sah Sie heute mittag bei mir draussen am Bosporus als persischen Teppichhändler . . .“

„Ich wechsle täglich mehrmals meine Verkleidungen! Abd ul Hamid hat tausend Augen!“

Fuad Pascha, der nach Damaskus verbannte Hofintendant des Sultans, trat etwas näher. Ein Aasgeruch der farbigen Kleiderlappen entströmte seinem Körper. Fanatisch sein Blick:

„Sie versprachen, mir heute abend Nachricht zu geben! Sie sind ein Levantiner. Also brachen Sie Ihr Wort!“

Lamba schwieg.

„Aber wir halten Sie beim Wort, Monsieur Lamba!“

Den Levantiner erfasste die Wut der Angst. Er beugte sich vor:

„Wann gelobte ich euch, den Grossherrn erdrosseln zu helfen — he?“

„Sie gaben mir Hoffnung auf Hilfe!“

„Mit Abscheu wandte ich mich ab! Bei der heiligen Dreifaltigkeit!“

Eine Schulterbewegung der Verachtung drüben.

„So verzichten Sie auf die Eisenbahnkonzession, Monsieur Lamba?“

„Ich werde die Konzession erhalten! Aber nicht durch euch!“

„Nur durch uns! Jeder Eseljunge weiss, dass Rhodokanaki und der ganze Senat gegen Abd ul Hamid machtlos sind! Es gilt, Abd ul Hamid die Pulsadern aufzuschneiden, wie er es mit seinem Onkel tat!“

Und ganz leise, dringend:

„Gebt uns das Gold, das wir zur Bestechung des Jildis-Kiosk brauchen! Während wir ihn überrumpeln, besetzt ihr mit eurem armenischen Geheimbund ,Gregor der Erleuchter‘ die Ottomanische Bank und holt euch dort das Geld wieder und die Eisenbahnkonzession dazu!“

„Sei Allah befohlen!“ Lamba stöhnte in seiner Verzweiflung auf türkisch den Abschiedsgruss. Er hastete aus der Nähe des Teufels-Derwischs. Der wagte nicht, ihm in das Zwielicht der Öllaterne zu folgen, und verschwamm als ein Nachtschatten im Dunkel der Ecke.

Der Levantiner betrat, immer noch mit Herzklopfen, sein Stadtpalais, dessen übermoderner Prunk den Allerweltsluxus eines beliebigen Rivierahotels missverstand.

Er lehnte einsam an einem der vielen hohen Saalfenster. Über die ferne, kahle Kammhöhe des Pfeilplatzes und seiner Schiessstände ging der Mond auf und wanderte weiter am Himmel. Er übergoss mit seinem taghellen, bläulichen Licht das Silbergeschuppe des Goldenen Horns und des Bosporus. Er beschien dort am Bosporus einen weissen Palast inmitten eines Gartens Eden. Wagenrollen näherte sich dem Portal. Die schöne Madame Lamba, die Königin der Levantinerinnen, kehrte von dem Stelldichein mit ihrem Liebhaber von heute zurück und schlüpfte in das Haus, ohne nach ihrem abwesenden Gatten zu fragen.

Und auf der andern Seite des Bosporus, in ihrem Haremsstübchen im alttürkischen Konak des Marschalls Schükri, sass Claire Froidure, die kleine französische Gouvernante, und rechnete, wann ihre Geheimgelder für sie und den Oberkellner Brigolaud zum Ankauf des Hafenhotels in Marseille reichen würden.

Und in dem Armenierdorf nicht weit davon überblaute der Mond das hölzerne Häuschen des armenischen Gemüsegärtners, und im oberen Stockwerk lag ein blonder Kopf friedlich auf den Kissen, und Imme Reyck, die Durchschwimmerin des Bosporus, schlief den Schlaf der Gerechten.

Und drüben in Pera, vor dem Cercle d’Orient, schwang sich nach Mitternacht Paul Buddenhaus, der deutsche Russe, auf ein gesatteltes Mietpferd, wie sie an jeder Strassenecke bereit standen, und galoppierte heim nach seinem Gasthaus Thotfalussy neben der russischen Botschaft, so frisch wie heute morgen noch auf der Höhe des Schwarzen Meeres, keine Schatten der Ermüdung in den stählernen blaugrauen Augen.

Und über einen einsamen, vergitterten, rings von Bewaffneten umschrittenen Palast hinter hohen Mauern schien der Vollmond. Die Fenster des Jildis-Kiosk erhellten und verdunkelten sich in rätselhaftem Spiel. Abd ul Hamid, der Grossherr, wechselte heute nacht schon zum drittenmal aus Furcht vor Verrat das Schlafgemach. Pagen leuchteten ihm. Odalisken liefen nebenher. Die Säbel der schwarzen Eunuchen klirrten. Draussen kreischten warnend wie Käuzchen die Papageien im Laub der Platanen.

Bis zum Marmarameer erleuchtete mild der Mond das Land. Von nah und fern bellten unzählige Hunde. Still standen die Sterne über Stambul.

Wer baut die Bahn?

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