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Fern drüben im Bosporus blinkte aus dem flaschengrünen, flachen Strandwasser von Ortaköi ein winziger feuerroter Strich. Die Schwimmerin lag jetzt auf dem Rücken und trieb sich gemächlich mit weissen Beinstössen dem ganz nahen Ufer zu.

Von da hörte sie die vielsprachigen Gurgellaute des Orients, die Zurufe der vorausgeruderten Landsleute und Freunde. Sie sah die Menschen dort nicht, sondern nur gerade über sich das unergründliche Blau des Maihimmels und um sich die sonnenflimmernde, silberzitternde Leere des nun ganz stillen Meeres.

Nur der einzige hochgebäumte Schnabel eines Luxuskaiks glitt beharrlich und lautlos, mit absichtlich langsamen Ruderschlägen eines halben Dutzends schweissspiegelnder Bronzekerle, auf zwanzig Schritt Abstand hinter ihr her. Der Eigentümer lehnte im Heck vor der Kajüte. Er starrte sie unverwandt an. Sein bräunliches, regelmässiges Gesicht war unter dem hohen, krapproten Tarbusch unruhig leidend, fiebrig gespannt. Sie erkannte den Levantiner, der ihr schon vorher, im Kielwasser der „Zariza“, in den Weg gekommen, und sagte vor sich im Wasser:

„Ekelhafter Kerl!“

Dann stiess sie plötzlich mit dem blondhaarumwogten Hinterkopf an etwas Hartes. Sie griff danach und fasste eine grosse rosige, trompetenartig geformte Muschel in nur noch ein paar Zoll Wassertiefe auf buntem Kieselgrund. Der Bosporus war zu Ende. Sie richtete sich auf und watete lachend an Land, gross und schlank, von Wassertropfengeglitzer in der grellen Sonne triefend.

Wie eine Mauer stand, da das Morgenland: die armenischen Gemüsebauern, die jüdischen Papier- und Glashändler und Schneidermeister von Ortaköi, die Armenierinnen in Weiss, die Jüdinnen in meerblauen und pfirsichrötlichen Kleiderröcken und grasgrünen goldgestickten Jäckchen. Davor pfefferundfalzfarben die Europäer. Ein kraushaariger griechischer Photograph brachte eilig seinen Apparat gegen das Mädchen im Meer in Stellung. Sie winkte ihm drohend zu.

„Wollen Sie wohl!“ Und dann, sich umschauend und ungeduldig in die Hände klatschend: „Indschi — Elmas — wo steckt ihr denn?“

Und Indschi, „die Perle“, und Elmas, „der Diamant“ — zwei junge Armeniermädchen mit seidenen weissen Tüchern über den kohlefarbenen Scheiteln, liefen eilig mit einem grossen schwarzen Frauenmantel herbei und reichten ihn ihr, die gelben Pantoffelspitzen am Wassersaum, in das Meer hinüber, und sie wickelte sich hinein und sprach: „So! — Nun können Sie mich knipsen!“ Und dann, gelassen dastehend, auf türkisch: „Habe dich nicht so, Sohn der tausend Jahre!“

Ein steinalter, verwitterter türkischer Ziegenhirt hatte sich, die Herde drüben seinem riesigen Wolfshund überlassend, keuchend vor Angst zwischen sie und den schwarzverhangenen Kasten gestellt, um im Namen Allahs das Abbild eines Menschen zu verhüten! Aber der Ordnung haltende Gendarm von der neuen blauen tscherkessischen Stadtpolizei zu Pferde jagte den Greis im zerrissenen, weissen Hemd zu seinen Böcken zurück und öffnete ehrerbietig seine Hand zum Backschisch:

„Belieben Eure hohe Person, aus dem Wasser zu steigen!“

Die hohe Person stieg aus dem Wasser und schüttelte sich wie ein Pudel, dass die Spritzer flogen, und sagte befriedigt:

„Also das wäre der Bosporus!“

Sie drückte kameradschaftlich den Deutschen und den andern Franken die Hände. „Vater — du streust Blumen aus deinem Munde!“ dankte sie auf türkisch dem glückwünschenden armenischen Gärtner, bei dem und seinen Töchtern, der Perle und dem Diamant, sie wohnte.

Sie begrüsste mit Händegeschüttel den kaftangegürteten, rotschärpigen Rabbiner der Judengemeinde von Ortaköi, und mit einem freundlichen: „Na — ihr Spitzbuben!“ ihre Jagdfreunde, die beiden riesigen, aus ihrem Raubnest in den Bergen herabgerittenen Tscherkessen, das Adlerhaupt und den Löwenfürsten, in ihren hohen Pelzmützen und langen, schwarzen, mit aufgenähten Patronentaschen besetzten Leibröcken. Dabei sah sie mit einem leisen Unbehagen den langen, schmalen Luxuskaik von vorhin ganz nahe am Ufer, dicht vor ihr, still, mit gesenkten Rudern, auf dem Wasser liegen, und aufrecht in ihm, immer mit dem starren, heissen Blick auf sie, den unheimlichen Levantiner.

Bettler krächzten armeausstreckend im Staub. „Gott wird euch geben! Ich bin in Trikots!“ Sie scheuchte eine Brut nackter nussbrauner Zigeunerkinder nach ihrer nahen Höhle im Kaktusdickicht. „Tut mir den einzigen Gefallen und putzt euch mal die Nase!“ Und wieder zu den Europäern: „Wie’s war? Spielerei!“ Sie überzeugte sich mit einem beruhigten Blick, dass der Kaik draussen jetzt langsam seitwärts davonruderte. „Aber nun muss ich ins Haus! . . . Gott — da kommt mein Bruder eben ’rausgerannt! . . . Klassisch ist er, der Eduard! Der ist imstande und hat von der ganzen Expedition nichts bemerkt!“

Ein jüngerer Mann lief aus dem niederen hölzernen Hause des armenischen Gemüsegärtners. Sein blosser Kopf war blond wie der seiner Schwester, blond sein kurzer Vollbart. Er hatte hinter dem Zwicker denselben blauen Blick wie sie in einem deutschen Gesicht, das im ersten Eindruck träumerisch versonnen schien. Aber dahinter lag dann etwas Stilles, Deutsch-Unbeirrbares, Sachlich-Zähes. Er rief aufgeregt schon von weitem:

„Imme — kann man dich denn nicht eine Sekunde aus den Augen lassen, ohne dass du Dummheiten machst!“

„Dies grosse Kind!“ sagte Imme zu den andern. „Der Eduard wäre ohne mich ja hier verraten und verkauft!“

„Gestern versuchst du, bei dem Schlangenbändiger da oben auf offenem Markt Kobras zu dressieren . . . Ich höre noch das allgemeine Geschrei: ,Elhamed Lillah!’ . . . als Dank, dass nichts passiert ist!“

„Die guten Tiere haben nämlich längst ihren Giftvorrat vertan!“ erklärte Imme den Umstehenden.

„Heute sitze ich über meinen Arbeiten und denke nichts Böses, da stürzt die Indschi herein: ,Herr! Nun darf ich es ja verraten! Die Hanum schwimmt eben durch den Bosporus!’“

„Die Hanum wird sich nun umziehen!“ Imme warf einen Blick des Widerwillens nach dem Anlegeplatz der Küstendampferchen drüben. Dort hatte der lange, schmale Kaik an der Landungsbrücke festgemacht.

„Rege dich bloss nicht auf, Mekkavater!“ sagte sie auf türkisch zu einem Bettelderwisch in kaffeebrauner Kutte, der unter Verwünschungen die Arme über die spitze Kegelmütze zu Allah hob. „Ich bin keine Tochter des Satans, wie du hier irrtümlich aussprengst, sondern harmlos wie ein Holzlämmchen — wie eine eurer vielen Wanzen. Auch mich schuf Gott! Nimm dir ein Beispiel an den ehrwürdigen Babas drüben!“

Weissbärtige Türken hockten da, dass nur die Zipfel ihrer weiten Hosenböden die Erde berührten, und drehten beschaulich die Rosenkranzkügelchen zwischen den Fingern. Als der fröhliche Blick des unverhüllten Mädchengesichts sie traf, sahen sie gramvoll zur Seite, die weiss blendenden Gartenmauern entlang, an denen ein paar wandelnde Glocken von schwarzen Stoffmassen, ihre Frauen und Töchter, sich unsicher dahinschoben.

Der heulende Derwisch trollte sich unter neuem Gebrüll: „Jahû! Jahû! O Er! O Allah!“ Imme fasste ihren Bruder, mit einer unruhigen Kopfbewegung nach dem Landungssteg, am Arm.

„Mach schnell, ins Haus! Da ist so ein grässlicher Levantiner drüben aus seiner Wasserdroschke geklettert und marschiert direkt auf mich los! Zu spät! Da steht er einem glücklich mitten im Weg! Kinder — der Orient ist doch doll!“

Und dann ärgerlich an Lamba vorbeigehend:

„Sagen Sie mal — wollen Sie eigentlich etwas von mir? Sonst lassen Sie mich, bitte, ungeschoren!“

Der Levantiner war blass. Leise seine Stimme, auf französisch wie sie:

„Nur einen Glückwunsch, Madame, zur Bezwingung des Bosporus!“

„Danke!“

„Von einem Sohn des Bosporus wie mir! Dort am andern Ufer steht mein Haus!“

„Der überlebensgrosse weisse Kasten?“

„Ich habe noch ein Palais in Pera, in schönster Lage am Munizipalgarten!“

„Na — da sind Sie ja versorgt!“ Imme wollte weiter.

„Ich wäre glücklich, Ihnen einmal meine Gewächshäuser, meine Teppiche, meine gelben und rosa Diamanten zeigen zu dürfen!“

„Nett von Ihnen! Aber ich danke!“

„Madame — wenn ich Sie bitte . . .“

„Ach — lassen Sie mich nur ruhig hier in meiner Bude über dem Ziegenstall! Ich fühle mich hier sehr wohl!“

„Imme!“ Ihr Bruder trat heran. „Dieser Herr hier vom ,Journal de Péra‘ will durchaus etwas über dich und den Bosporus in seine Zeitung bringen!“

Der Levantiner stand allein. Er schaute stumm und heiss den langen, nassen Goldsträhnen über dem schwarzen Mantel nach. Er ging langsam nach dem Landungssteg und stieg in seinen Kaik. Der bärtige Bootsmann sah ihn fragend an: „Zurück nach dem Palast, Eccellenza?“ Ein bitteres Lächeln um die Lippen des Levantiners: Zurück zu Charis, meiner Frau? — Eine Handbewegung die Meerenge abwärts nach den Moscheenmassen, den Mastspitzen und Turmnadeln von Konstantinopel.

„Nein — du Hund! Fahre mich nach Galata!“

Er kauerte sich in die Kissen der Kajüte und sah in der Ferne etwas Nassblondes in schwarzem Mantel vor einem fast schwindsüchtig hageren, tiefbrünetten, goldbebrillten Herrn vom Typ eines intelligenten französischen Volksschullehrers, stehen.

Nervös dessen Händegefuchtel. Sprudelnd sein gallischer Wortschwall aus dem schütteren schwarzen Krausbart.

„Ah — Madame! Mein griechischer Kollege vom ,Neologos‘ kam zu spät drüben am anatolischen Ufer! Der sehr ehrenwerte Gentleman vom ,Levant Herald’ erwartet Sie umsonst weiter unten auf der christlichen Seite — haha!“

„Wissen Sie: ich friere . . .“

„Ich weiss, was Sie mich fragen wollen: Wo ist die französische Presse Peras? Wo die ,Turquie‘? Der ,Phare du Bosphore‘? Der ,Moniteur Oriental‘? Der ,Stamboul‘?“

„Meine Haare sind pitschnass!“

„Nur wir sind zur Stelle, das ,Journal de Péra‘ — der einsame, wirkliche Vorposten französischer Bildung in dieser bewundernswerten Stadt!“

„Na — hören Sie — ich bin eine Deutsche! Mir liegt gar nichts daran, dass ich in Ihr französisches Blättchen komm’!“

„Nur ein paar Daten, Madame . . . aus Ihrem Leben! Ich notiere!“

„Also in Gottes Namen: Imme Reyck . . .“

„Oh . . . Reyck . . .“

„Dreiundzwanzig Jahre. Ledig. Ja — das wär’ wohl alles!“

„Die Eltern, die das Glück haben, Sie . . .“

„Mein Vater ist Oberförster in Thüringen . . . Von Deutschland haben Sie doch schon mal gehört? Also da liegt Thüringen mitten drin! Da bin ich im Wald im Forsthaus aufgewachsen. Fragen Sie mal die Tscherkessen drüben, wie ich schiessen kann! Na — und auch klettern und reiten und kutschieren und alle brotlosen Künste!“

„Einen Augenblick noch, Madame: Wie kamen Sie hierher?“

„Vor einem halben Jahr mit meinem Bruder, Doktor Eduard Reyck, um ihm den Haushalt zu führen. Er ist Ingenieur und Geologe. Er macht hier Vorarbeiten für eine asiatische Bahn . . .“

„. . . für die bereits, gerade in dieser letzten Zeit, sich das französisch-russische Syndikat gebildet hat, Madame!“

„Das ist ein abenteuerliches Privatunternehmen, sagt mein Bruder . . . das nimmt er nicht ernst. Die Regierungen stehen nicht dahinter!“

„. . . sowenig das Reich hinter euren Plänen, Madame!“

„Nein! Ich sage ja: es ist alles erst im Werden! Aber lasst uns Deutschen nur Zeit! Wir schaffen’s!“

„Deutschland, Madame, hat keine Überlieferungen, die es zu dieser Rolle ermächtigen! Der grossmütige Schutz des Orients ist geschichtliche Ehrenpflicht der älteren europäischen Grossmächte!“

„Da hat Frankreich wohl Algier aus reiner Liebe zum Islam unterworfen?“

„Madame . . .“

„. . . und die Engländer die unzähligen Mohammedaner in Indien?“

„Wir kommen auf Fragen, die . . .“

„. . . und die Russen jetzt eben Zentralasien!“

„Madame — brechen wir ab!“

„Sogar die Österreicher haben sich vor ein paar Jahren Bosnien zu Gemüt geführt!“

„Genug . . .“

„Nur der Deutsche quält keinen Türken zum Scherz!“ Imme Reyck, die bisher französisch gesprochen hatte, wandte sich auf türkisch an das umstehende Morgenland. „Deutschland hat noch nie einem Moslem ein Haar gekrümmt! Deutschland liebt die Türken! Dem Padischah tausend Jahre!“ Und wieder zu dem Franzosen: „Und nun adieu! Haben Sie mal die nassen Haare! Ich muss ins Haus!“

Und vor dem Haus, sich noch einmal umdrehend:

„Deutschland baut die Bahn!“

Wer baut die Bahn?

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