Читать книгу Wer baut die Bahn? - Rudolf Stratz - Страница 8
4
ОглавлениеDer Kaik schoss, lang und schmal wie ein Lineal, mit dem spitz hochgekrümmten Vordersteven durch die spritzenden Wellen. Lamba hielt es auf den bunten Seidenpolstern der Kajüte nicht aus. Er stand breitbeinig auf schwanken Planken hinten im Boot und spähte nach vorn.
Er sah nicht, in der Mitte der Meerenge, das ungeheure Rundbild der beiden Bosporusufer: die weissen Marmorschlösser und schwarzen Zypressenfriedhöfe, die grauen Burgtrümmer, die Landhäuser, die Leuchttürme, die flachen Dächer der Dörfer, die efeudunklen Mauern, die Moscheen und Minarehs, stundenweit, mit bunten, beschaulichen Morgenländern im Schatten der Platanen. Er sah nicht dort drüben sonnenverschwommen Stambul, mit seinen Tausenden von Kuppeln und Türmen und Masten, seinen Botschaftspalästen und Brandstätten und Kasernen. Er drängte nur die schweissglänzenden Bronzegestalten der Ruderknechte:
„Rascher — rascher an den vielen Booten mit Franken vorbei nach Ortaköi!“
Aber dort liess er vor dem Landungssteg der kleinen Raddampfer seine Luxusgondel in einer kurzen Kehre auf den Wogen tanzen und fuhr der Flottille entgegen, die dem goldblonden Schopf im Wasser folgte, und sah, ganz nahe, mit ihren rudernden weissen, dünnen Armen im Spiel der Wellen die Schwimmerin von vorn.
Ein pudelnasses, frisches, hübsches Mädchengesicht, das heiter, aber hartnäckig entschlossen im Sprühen der Wassertropfen mit den Lidern zwinkerte. Die Farbe der Augen konnte er noch immer nicht erkennen.
Aber jetzt öffneten sich ihre verbissenen roten Lippen mit weissen Zähnen, und sie rief atemlos auf deutsch über den Wellenschlag:
„Herrgott — gehen Sie mir doch aus dem Weg!“
Und dann wiederholte sie das in gutem Französisch und bekam dabei den Mund voll Seewasser, direkt noch aus dem salzgesättigten Schwarzen Meer, und gab mit einem „Brr!“ dem Bosporus zurück, was ihm zukam, und Lamba sah, mit einem hastigen Wink an seine Leute auszuweichen: sie hatte wirklich die grossen blauen Augen, die zu dem nassen Gold ihrer Haare, dem klaren Weiss ihres Nackens und ihrer Arme gehörten. Und diese Augen waren ärgerlich auf ihn gerichtet.
„Steuere weiter zur Seite! Belästige die Signora nicht!“ schrie er laut und leidenschaftlich auf italienisch, mit der Rücksichtslosigkeit des Levantiners gegen seine Untergebenen, dem Bootführer zu, und der Bärtige noch lauter, mit einem Händegefuchtel der Abwehr:
„Eccellenza: Soll die ,Zariza‘ uns in den Grund fahren?“
Riesenhaft rauschte da plötzlich, vom Schwarzen Meer her, der Sechstausendtonnendampfer der Odessaer „Freiwilligen Flotte“ heran. Sein Bug ragte hoch wie ein Haus über das Gewimmel der Boote. Er näherte sich ihnen mit gefährlicher Schnelligkeit. Seine Sirenen heulten. Unten gellten in einem halben Dutzend Sprachen Warnungsschreie aus den Nachen. Von der Kommandobrücke oben rief der Kapitän auf russisch einige Freundlichkeiten zu den Nussschalen hinunter, die ihn mitten im Bosporus, dem gefährlichsten Gewässer des Mittelmeeres, auch noch zu Ausweichmanövern zwangen.
Glasgrüne Schaummassen perlten hinter dem herumgeworfenen Steuerruder der „Zariza“. Sie wich brüllend zur Seite. Aber mächtige Wogenkämme des aufgewühlten Meeres liefen mit weissen Mähnen von ihrer Flanke auf die Schwimmerin zu. Der blonde Kopf verschwand in den Wellenbergen und Wellentälern. Es war ein wildes Durcheinandergeschrei da unten: Hilferufe. Zank. Befehle. Ein Rettungsring platschte. Deutsche in den Booten rissen schon ihre Jacken ab, um hemdärmelig sich zur Rettung in die See zu stürzen.
Über die Bordwand der „Zariza“ beugten sich die Köpfe der Passagiere — ein Museum aller Menschen des Mittelmeers — aufgeregt in die Tiefe. Ein Geschrei in vielen Zungen: „Sie ertrinkt . . . sie ertrinkt . . . .“
Aber da tauchte schon wieder zuerst wie treibender blonder Seetang eine weitgefächerte Haarmasse aus den Strudeln, und dann der unbekümmerte lachende junge Kopf, der dazugehörte, und ein langer dünner Arm schnippte tröstend aus den Fluten — ungefähr ein Zeichen: „Unkraut verdirbt nicht!“ — und das Wesen in nassem Feuerrot warf mit neuer Entschlossenheit die weisse Brust wider die blauen Wellen.
Und oben, ganz an der Spitze des Dampfers, lehnte in Bordmütze und windflatterndem Mantel ein junger Mann, mager und straff, mittelgross, zu Anfang der Dreissig. Das stählerne Grau seiner Augen lachte abenteuerlich gleichgesinnt hinüber zu der Schwimmerin. In dem Sonnenbraun des Gesichts zuckte ihm unter dem blonden Schnurrbart die mitfühlende Verwegenheit um die verschlagenen Mundwinkel. Er beugte sich vor und klatschte mit energischen Handflächen Beifall hinab zu dem Mädchen im Meer.
Dann schaute er sich suchend auf dem Deck um. Dort drüben sass weltabgeschieden und erschöpft eine dicke alte Dame. Der Abschiedsstrauss von Blüten der Akazie, des Steppenwahrzeichens Odessas, den sie noch von dem Hafen her neben sich liegen hatte, spottete in seiner Maifreude ihrer Seekrankheit. Der junge Mann trat schnell und entschieden an sie heran.
„Sie erlauben gewiss!“ sagte er mit einer Verbindlichkeit, die gar keinen Widerspruch aufkommen liess, und ergriff die lichtgrün gefiederten Zweige und sandte sie mit weit ausholendem Schwung gerade vor der Schwimmerin ins Meer, dass sie nur die nasse kleine Faust auszustrecken brauchte, um den Gruss von oben zu ergreifen. Da packte sie unten schon die treibende Traube weisser Schmetterlingsblüten, sog einen Augenblick im Wasser ihren süssen Duft, winkte dankend und lachend mit dem Strauss nach oben und schleuderte ihn dann weithin von sich vor den weisskochenden Wasserschwall am Bug der „Zariza“, in der Richtung gegen das Goldene Horn. Eine Gekunde überschatteten sich die Züge des jungen Mannes. Dann erhellten sie sich in blitzschneller Genugtuung: — das war ein glückliches Vorzeichen! Da flogen ihm von Mädchenhand Blumen auf den Kriegspfad gegen Konstantinopel voraus! — und er verbeugte sich dankend und lachte kampflustig und winkte wieder.
Unten schwamm das Mädchen weiter in den hohen Wellen der „Zariza“, die hinter ihr her rollten und sie hilfreich dem Ufer zutrieben, und ganz da oben auf dem Hochdeck des Dampfers wie auf einer Warte stand der junge Mann und schaute ihr nach und hörte, wie der Kapitän im Vorbeigehen sagte:
„Diese unnütze Ente wird dort drüben gerade bei dem Dorf Ortaköi das Land erreichen!“
Eine Stunde weit entrollte sich von Ortaköi bis Stambul das letzte Wandelbild des Bosporus. Da lag zwischen Zypressen und Platanen der altmodische Konak des Marschalls Schükri Pascha. Düster webte der Irrsinn um die ungeheuren maurischen Marmormassen des Palastes Tschiragan. In seinem Schatten umraunte der Mord den Ferije Serai. Und in dem mauerumschlossenen, fenstervergitterten, von ganzen Regimentern bewachten Jildis-Kiosk weiter hinten fand, inmitten seiner Garden, Kammerherren, Eunuchen, Henker, Spitzel in drei Erdteilen, Abd ul Hamid, der Herr der Zeit, keine Ruhe bei Tag und keinen Schlaf bei Nacht.
Der junge Mann auf der leise stampfenden Kielhöhe der „Zariza“ blickte nicht nach der unheimlichen Fata Morgana am Ufer. Er schirmte das lebhafte, aber kühl entschlossene Gesicht mit der Hohlhand gegen den Nordwind und blickte nach Ortaköi zurück — nicht in der Laune eines Verliebten, sondern mit dem freundlichen Interesse eines fixen jungen Kerls, der Wagstücke, welcher Art auch, bei sich und anderen willkommen heisst.
Und drüben vor Ortaköi schnellten die Delphine in triumphierenden Purzelbäumen aus dem bezwungenen Bosporus, und das Siegesgekreisch der heranflatternden Möwen meldete: „Sie schafft’s! Sie schafft’s!“
Ein paar hundert leierförmige Gehörne und silbergraue Rücken von südrussischen Steppenrindern schimmerten, von schwarzen Fliegenwolken umschwärmt, in dem offenen Zwischendeck der „Zariza“. Der Transport war als Schlachtvieh nach der englisch-ägyptischen Armee unterwegs. Der Unternehmer, ein Schwabe aus der Krim, kletterte zornmütig die steile Vorderdecktreppe hinauf zu seiner dicken seekranken Frau.
„Wo isch der Gospodin, der dir die’ Sträussche weggenomme hat? Dem Maladjetz will ich’s weise!“
Er schob sich breitschultrig und breitbeinig über das leise schaukelnde Deck auf den jungen Mann zu, der in flatterndem Mantel vorn, am Bugspriet lehnte und nach dem fernen Dorf Ortaköi hinübersah. Der graubärtige Kapitän der „Zariza“ stand dazwischen. Er konnte etwas Deutsch, und er kannte den Viehhändler. Er hielt ihn am Arm zurück.
„Wenn Sie nicht diesmal mit der Durchfahrt Ihrer Ochsen auf dem russischen Konsulat in Konstantinopel die grössten Schwierigkeiten haben wollen“, sagte er auf russisch, „dann meiden Sie den Passagier da vorn wie den Antichrist!“
„Ich werde mit ihm ein Wort Russisch reden!“
„Er ist kein echter Russe. Er ist ein Fremdstämmiger. Ihr Landsmann. Ein deutscher Untertan des Zaren wie Sie!“
„. . . dann ein Wort Deutsch . . .“
„. . . und der grösste Herr, den ich an Bord habe! Sehen Sie — alle diese Russen, die da stehen und sitzen, sind mit ihm aus Odessa gekommen — sind sein Stab!“
Der russisch-schwäbische Heereslieferant rieb sich verblüfft das dank der Seefahrt unrasierte Stoppelkinn.
„Ich hatte mit meinem Vieh zu tun. Ich hatte nicht Zeit, mich um die Reisenden zu kümmern! Das ist — das ist doch nicht Paul Buddenhaus?“
„Sie sagen es! Pawel Germanowitsch Buddengaus selber!“ Der Russe sprach den deutschen Namen russisch aus.
„Er ist viel zu jung dazu!“
„Und doch stehen hinter ihm Petersburger Grossfürsten, Moskauer Altgläubige, Odessaer Millionäre. Oder haben Sie noch nie etwas von der Neuen Asiatischen Studiengesellschaft gehört?“
„Alle Welt spricht von den asiatischen Eisenbahnplänen!“
„Nun also: da haben Sie den starken Mann der Studiengesellschaft!“
„Wo kommt er her?“
„Aus Lissitschansk im Donezbecken. Dort ist sein Vater, ein eingewanderter Deutscher, seit vielen Jahrzehnten Leiter der grossen Aktienbrauerei Konstantinowska. Auch der Sohn half dort in seinen Anfängen, bayrisch Bier für die deutschen Kolonisten und die Kosaken zu brauen!“
„Und wie wurde er ein Mann der grossen Geschäfte?“
„Er ging auf gut Glück nach Petersburg. Dort schickte man ihn — einen waghalsigen Menschen — zur Anlegung der Baumwollkulturen zu den eben unterworfenen Turkmenen. Seine Gewinnung von Baumwollöl machte ihn mit einem Schlag bekannt. Er hat — begreifen Sie — eine besondere Gabe, die Asiaten zu nehmen!“
„Das ist nicht leicht!“ sprach bedächtig der Schwabe, der selbst unter Mohammedanern in der Krim lebte.
„Drei Jahre hat er sich im Innern Vorderasiens aufgehalten. Im letzten Kurden- und Tatarendorf ist er gewesen. Alles hofft dort auf ihn und seine Eisenbahn und sein Geld . . . Nun — mit Gott! Ich muss auf die Kommandobrücke!“
Es war auf Deck schon das Getümmel der nahen Landung. Eine Gruppe Russen bahnte sich ihren Weg zu dem jungen Mann am Bug. Lachende Rufe:
„Schauen Sie nicht immer auf den Bosporus zurück, Gospodin Buddenhaus! Da vor uns liegt Stambul in seiner Majestät!“
„. . . und bald uns zu Füssen!“ sagte Paul Buddenhaus lachend.
Das Brüllen der weiss dünstenden Sirenenschlote verschlang seine Worte. Der Rumpf der „Zariza“ zitterte nicht mehr im Keuchen der Kessel. Der Anker klatschte in das hoch aufspritzende Wasser des Goldenen Horns, inmitten eines Mastenwaldes aller Völker, ganz nahe die Riesenkuppeln der Riesenmoscheen.
In Mietgondeln, in Gemüsekähnen, in Fischerbooten umschwärmten schon seit einer Viertelstunde die Spione Abd ul Hamids den russischen Dampfer. Die Barkasse der Internationalen Sanitätskommission schoss heran, die gelbe Quarantäneflagge am Bug — ein Zollkutter, von zwölf Festrägern gerudert — ein Kaik, gedrängt voll von den grünen Passbeamten der Polizei.
Fremdendragomane brüllten aus Nachen, Lastträger vom Ufer. Eine Gruppe Franken stand dort vor der neugierigen Mauer des Morgenlandes — Herren mit dem roten Bändchen der Ehrenlegion — slawische Gesichter, hinter sich die goldglitzernden, bewaffneten Kawassen der Botschaft.
Die französischen und die russischen Geschäftsfreunde schwenkten hoffnungsvoll die Hüte. Paul Buddenhaus drüben an Bord brauchte den Zoll- und Pass- und Pestefendis nicht erst seine Papiere vorzuzeigen. Sie liessen ihn schweigend durch. Backschisch rechts und links in hohle Hände. Er stieg das Fallreep hinab in das Boot und fuhr an Land und sprang, den Europäern dort tatenfroh zuwinkend, auf das Pflaster des Kais von Galata — mit einem Rundblick über den weiten Bosporus: Konstantinopel — ich komme!