Читать книгу Schutzpatrone - Rudolf Trink - Страница 12
5.
ОглавлениеAm nächsten Morgen fuhr Rumpler gleich nach seinem Frühstück im Café Sperl zum Steinhof, suchte aber zunächst nicht die Psychiatrie auf, sondern umrundete die Otto Wagner Kirche. Rumpler fand es völlig richtig, dass dieses Bauwerk mit seiner perfekten Schönheit genau dort stand, zur Verfügung der Schwierigen und oft auch Verzweifelten, die in den Pavillons ganz in der Nähe untergebracht waren, und er hoffte, diese Schönheit würde auch und gerade ihnen, die es am meisten brauchten, helfen. Die Kirche am Steinhof faszinierte ihn nicht nur wegen ihrer augenscheinlichen Schönheit allein, sondern vor allem deshalb, weil der Architekt, Otto Wagner, seine ganze Sorgfalt und Aufmerksamkeit darauf ausgerichtet hatte, sie in allen Details für die doch sehr speziellen Bedürfnisse ihrer Besucher auszugestalten. Das Weihwasser wurde aus hygienischen Gründen nicht, so wie in anderen Kirchen üblich, in Becken angeboten, sondern es wurde durch Herabtropfen zur Verfügung gestellt, um das sonst kaum vermeidbare Gepritschel hintanzuhalten. Die Bänke waren sehr kurz, um im Bedarfsfall eine leichte Zugänglichkeit zu sichern, es gab eine Toilette und der Boden der Kirche fiel nach vorne hin etwas ab, um auch den weiter hinten Stehenden einen freien Blick auf den Altarraum zu sichern. All das war mit einer unglaublichen Schönheit umgesetzt worden. Einfach genial.
Nachdem Rumpler die Pracht der Kirche voll in sich aufgenommen – oder eigentlich eingeatmet – hatte, weil einen wirklich gute Bauwerke immer auch freier atmen lassen, obwohl man ihren Anblick doch paradoxerweise als atemberaubend bezeichnet, wie er dachte, ging er, geleitet von den Orientierungstafeln, zu Pavillon Nummer Vier, in dem Rudi Schätter, wie ihm Moser gesagt hatte, untergebracht war. Er sprach kurz mit der diensthabenden Schwester, um sich einen Spaziergang mit Rudi Schätter genehmigen zu lassen, was sich als völlig problemlos erwies, nachdem Moser offensichtlich bereits mit ihr gesprochen hatte. Sie begleitete Rumpler in ein Zimmer im ersten Stock, das am Ende eines langen Ganges mit vielen weiß lackierten Türen lag. Die Schwester klopfte energisch an und sperrte dann die Tür auf. Während des Hinaufgehens hatte sie Rumpler erklärt, dass Rudi Schätter sich auf ausdrücklichen eigenen Wunsch in seinem Zimmer einsperren ließ, weil er Angst hatte. Am Ende des eher schmalen Zimmers war ein Fenster und dort saß an einem kleinen Tisch mit Resopalplatte ein etwa vierzig- bis fünfundvierzigjähriger Mann, mittelgroß, mit mausgrauem, in Büscheln vom Kopf abstehendem Haar, erstaunlich großen Ohren, einem fliehenden Kinn und Augen von einem wässrigen Blau. Er ließ seinen ruhelosen Blick blitzartig über die beiden Eintretenden laufen. „Ah“, sagte er mit überraschend kräftiger Stimme. „Die Gretel hat einen Seppel mitbracht.“
„Sie haben Besuch, Herr Schätter“, sagte die Schwester etwas lauter als nötig in einem aufgesetzt fröhlichen Tonfall, dem der mühsam unterdrückte Ärger über Schätters Gretel-Zuschreibung deutlich anzumerken war.
„Der Herr Rumpler ist gekommen und macht mit Ihnen einen Spaziergang.“
„Der Kasperl fehlt halt sehr. Seppeln gibt’s genug, aber kan Kasperl.“
Rumpler wusste nicht recht, ob er darauf eingehen sollte, und entschied sich spontan dagegen. Er richtete ihm, um einen Anknüpfungspunkt zwischen ihnen herzustellen, Grüße vom Ferdl aus.
„Bist ein braver Seppel“, meinte Rudi nur und ließ sich von Rumpler zur Tür hinausführen.
Solange Rumpler ihn am Arm berührte, und sei es noch so leicht, ging Rudi mit ihm wie selbstverständlich mit, sobald dieser Kontakt jedoch unterbrochen war, blieb er sofort stehen wie eine Straßenbahn, die plötzlich keine Verbindung mehr zur Oberleitung hat. Rumpler verzichtete darauf, sich Rudi gegenüber als Hans vorzustellen, da er ja doch wusste, dass er ein Seppel war, Hans hin oder her. „Bist gut untergebracht?“
„Schon“, meinte Rudi. „Immer genug zum Essen und eine Dusch hab ich auch. Aber eingsperrt bin ich halt.“
„Darfst net raus?“
„Schon. Aber wohin sollt ich denn gehen?“
„Kriegst Besuch?“
„Na. Nur die Polizisten waren bei mir. Die ham mich komische Sachen gfragt und dann sinds wieder gangen.“
„Was hams dich denn gfragt?“
Bevor er hätte antworten können, blieb Rudi stehen und wies vorsichtig auf eine kleine Frau mit scharfen Gesichtszügen, die soeben aus dem Pavillon getreten war, an dem sie gerade vorbeikamen.
„Zerst hab ich glaubt, das is die Hex, aber es is die Großmutti. Schiach is halt wia in Teifl sei Hazer, aber liab.“
Während Rumpler noch ordentlich damit zu tun hatte, ein Lachen über den Vergleich mit dem Heizer des Teufels zu unterdrücken, grüßte sie, wie zur Bestätigung ihrer Rolle als Großmutti, die beiden Herren besonders freundlich. Rumpler war ziemlich überrascht, als Rudi die vorherige Frage problemlos wieder aufnahm, beinahe so, als hätte es überhaupt keine Unterbrechung gegeben. „Sie ham gsagt, ich wär ein Zeuge, und wollten wissen, ob ich was gsehn hätt, wegen dem Heinzi. Ich hab aber nix sagen können. Gar nix. Dann hams mich gleich herbracht.“
Mittlerweile waren sie wieder beim Ausgangspunkt ihres Rundgangs eingelangt.
„Magst wieder besucht werden?“, fragte Rumpler.
„Schon“, meinte Rudi. „Auch wennst kein Kasperl bist.“
„War der Heinzi einer?“, fragte Rumpler einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Ah, der Heinzi“, seufzte Rudi. „Ja, der war ein Kasperl. Aber jetzt is er weg. Nur Seppeln gibt’s viel. Bringst mir was mit, wennst wieder kommst?“
„Was denn?“
„Manner Schnitten. Aber Zitrone!“
„Mach ich.“ Rumpler erinnerte sich plötzlich an seine Schikurszeit vor etwa fünfzig Jahren, als ihm genau diese Manner Schnitten mit Zitronengeschmack die Abende in den Schikursquartieren versüßt hatten, und lächelte. „Ich komm wieder zu dir und bring dir welche mit.“
„Is gut.“
Rumpler meldete sich anlässlich ihrer Rückkehr bei der Schwester, einer Gretl, wie er bereits wusste, und verabschiedete sich.
Zu Hause angekommen, musste sich Rumpler mit Rosamundes Unmut auseinandersetzen. Ihr Stimmungsbarometer stand ganz offensichtlich auf not amused. Lange fortbleiben und dann auch noch nichts mitbringen, das ging gar nicht. Während er, dicht gefolgt von Rosamunde, rasch in die Küche ging, um seine Versäumnisse wieder gutzumachen, verlegte er sich aufs Verhandeln, auf das, was er schön sprechen nannte. Rumpler konnte das gut. Sein Charme in Verbindung mit seinen ausdrucksstarken Augen hatte oft genug Erfolg gehabt. Bei Rosamunde verfing das diesmal nicht. Sie warf ihm einen kalten Blick zu. Rumpler lächelte, während er für sie ein kleines Stück Schinken leicht anwärmte, der verführerische Duft machte Rosamunde wieder etwas umgänglicher. Als er schließlich ihren Napf mit dem fein geschnittenen Schinken auf den Boden stellte, rieb sie sich angelegentlich an seinen Beinen, aber nur kurz, weil ihre Mahlzeit duldete keinen Aufschub.
„Gute Katze“, sagte Rumpler, machte sich einen Espresso, in einer hell gehaltenen Schale, die er von einem Italienaufenthalt aus der Gegend von Palmanova mitgebracht hatte und die ihm Inspiration verhieß, und holte sein kürzlich eröffnetes Moleskinbuch hervor. Seine Eintragungen waren für Außenstehende völlig unverständliche Sätze, teilweise Abkürzungen und manchmal auch Zeichnungen. So zeichnete er beispielsweise ein gugelhupfartiges Gebilde für die Kuppel der Otto Wagner Kirche, die ihn auch diesmal, wie schon so oft, schwer beeindruckt hatte. Er genoss den ersten Schluck Kaffee aus seiner dickwandigen Schale, streifte dann seine Orchideen, die ihn immer wieder durch ihre Genügsamkeit überraschten, mit einem anerkennenden Blick auf ihre herrlichen Blüten, legte das Moleskinbuch schließlich zur Seite und nahm die Protokollkopien, die ihm Moser gegeben hatte, zur Hand.
Rosamunde, die in der Zwischenzeit ihre Mahlzeit schon längst verspeist hatte, war damit beschäftigt, sich mit größter Sorgfalt ihren Bart zu putzen. Auch hier im Wohnzimmer gab es für sie eine Aufstiegshilfe, eine stabile Schachtel, die Rumpler an einen der Sessel herangeschoben hatte, um ihr das Erklettern des Schreibtischs, an dem er arbeitete, zu ermöglichen. Sie liebte es, auf seinen Unterlagen zu ruhen, und griff so gelegentlich auch durch die Auswahl der Papiere, auf die sie sich legte, in Rumplers Arbeit ein. Obwohl er sonst alles andere als abergläubisch war, war Rumpler doch davon überzeugt, dass es sich auf das Lösen eines Falles gut auswirkte, wenn Rosamunde das eine oder andere Mal auf dem entsprechenden Moleskinbuch lag. Auch diesmal enttäuschte sie ihn nicht und lag schon nach kurzer Zeit schnurrend auf seinem neu eröffneten Notizbuch, das unter ihrer Leibesfülle fast verschwand und nur da und dort ein wenig hervorlugte.
„Gute Katze“, sagte Rumpler nochmals und vertiefte sich in die Moserschen Protokollkopien. Dank jahrzehntelangen Trainings hatte er diese in Polizeideutsch gehaltenen Texte, einer speziellen Sprache ähnlich dem Juristendeutsch in Urteilen oder Gerichtsbeschlüssen, die für Außenstehende befremdlich klingen musste, sehr rasch gelesen. Er blickte von den vor ihm ausgebreiteten Seiten auf und strich Rosamunde über den Rücken, nur ganz leicht, um sie nicht in ihrer Kontemplation zu stören. Als Reaktion auf seine behutsame Berührung schwoll ihr Schnurren für kurze Zeit ganz leicht an, um dann sofort wieder zur Ausgangslage zurückzukehren. Ob das als Zeichen der Zufriedenheit oder als kleine Warnung zu deuten war, ließ sich nicht sagen. Wahrscheinlich beides.
Die Protokolle hatten für Rumpler kaum neue Erkenntnisse über die Mordserie gebracht. Zwar enthielten sie ausführliche Beschreibungen der Obduktionsergebnisse, die aber kaum Abweichungen voneinander zeigten. Jedes Mal waren die Obdachlosen zunächst mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt worden und anschließend mit einem Holzprügel, vielleicht einem Baseballschläger, mit unglaublicher Brutalität erschlagen worden. Nach den Umständen der Fälle und dem Ausmaß der angewendeten Gewalt ging die Polizei von einem ziemlich kräftigen Mann als Täter aus. Ein ersichtliches Motiv fehlte und Zeugen gab es auch keine. Auch die bei den Mordopfern gefundenen DNA-Spuren erbrachten nichts, zum einen, weil es sich um ziemlich viele verschiedene DNA-Spuren handelte, zum anderen, weil es in der Mordserie keine DNA-Proben mit identem Code gab, die man dem unbekannten Täter hätte zuordnen können. Der Mörder war wohl sehr auf der Hut und trug mit großer Wahrscheinlichkeit Handschuhe.
Rumpler beschloss, auch die Zeitungsmeldungen zu der Mordserie zu studieren, und machte sich mithilfe seines Laptops auf die Suche. Der erste Mord war an einem Samstag am frühen Morgen entdeckt worden und laut Obduktionsbericht am Abend davor erfolgt, der nächste ebenfalls in der Abenddämmerung am darauf folgenden Montag. Der dritte Mord, jener am Totenvogel, war eine Woche später geschehen. Rumpler war über die sehr kurze Abfolge der Morde verblüfft. Gerade bei Serienmördern war es nach seiner Erfahrung häufig so, dass nach dem ersten Mord eine längere Pause folgte und sich erst mit der Zeit der Abstand zwischen den jeweiligen Morden verringerte. Hier war es umgekehrt. Interessant.
Rumpler zeichnete eine Zeitlinie in sein Moleskinbuch und markierte die Morde mit kräftigen Querstrichen. Beim Überfliegen der Nachrichten im Chronikteil der Zeitungen hielt er plötzlich inne. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Rumpler scrollte zurück und sah stirnrunzelnd die Meldung Junge Frau spurlos verschwunden. Der Artikel war an einem Dienstag, unmittelbar nach den Berichten über den zweiten Mord, erschienen. Das zugehörige Foto zeigte eine ausgesprochen hübsche junge Frau mit blasser Hautfarbe, einem vollen, sensiblen Mund, ausdrucksstarken Augen und fülligem blondem Haar, eine gewisse Anita Tolser. Aus dem Text war ersichtlich, dass sich der Freund der jungen Frau am Wochenende Sorgen gemacht hatte, weil er sie telefonisch nicht erreichen konnte und daher die Polizei kontaktiert hatte. Am folgenden Montag war es Arbeitskollegen von Anita Tolser ebenso ergangen und die Polizei startete ihre für Vermisste vorgesehenen Ermittlungsroutinen, allerdings ohne Erfolg. Die Tatsache, dass sich das Mobiltelefon der jungen Frau nicht orten ließ und zudem ihre Papiere, vor allem der Reisepass, in ihrer Wohnung gefunden wurden, ließen eher ein Verbrechen befürchten, als ein absichtliches Untertauchen. Jedenfalls blieb Anita Tolser spurlos verschwunden. Weder ihr aktueller Freund noch ihr Ex-Freund hatten zur Aufklärung ihres Verschwindens irgendetwas beitragen können. Die Zeitungen nutzten diesen Fall gleich für einen umfassenden Artikel über in Österreich spurlos verschwundene Personen, aber das war es dann auch schon.
Der dritte Mord im Obdachlosenmilieu, noch dazu am Totenvogel, war natürlich eine Sensation und verdrängte daher Anita Tolser aus den Zeitungen.
Rumpler griff zum Telefon und rief Moser an, der sich, wie gewohnt, sofort meldete. „Moser hier.“
„Hallo Stinker. Ich hätt gern eure Unterlagen zu der jungen Frau, die vor ungefähr zwei Wochen verschwunden ist, der Anita Tolser.“
„Das hat aber wirklich gar nichts mit den Obdachlosenmorden zu tun. Wir haben das schon genau abgeklärt.“
„Hab ich mir eh gedacht. Ich würds mir trotzdem gern anschauen.“
Moser seufzte resignierend. „Ist gut. Hast morgen früh Zeit für ein Frühstück im Café Rathaus? Dann bring ichs dir mit.“
„Passt neun Uhr für dich?“
„Bestens. Bis morgen.“
„Bis morgen, Stinker.“