Читать книгу Schutzpatrone - Rudolf Trink - Страница 14

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7.

Als Rumpler dann um Punkt vier Uhr vor dem wunderschönen runden Torbogen des alten Hauses stand, das Alma bewohnte, staunte er, wie rasch ihm dieses Haus vertraut geworden war, obwohl er es doch noch nicht einmal ein Jahr kannte. Es lag wohl daran, dass Almas ganzes Wesen dieses Haus für ihn so besonders machte, sehr einladend und auch ein wenig geheimnisvoll. Als sie ihm öffnete und nach dem Begrüßungskuss den Karton, in dem er den Kuchen für den Transport verpackt hatte, entgegennahm, schnupperte sie an dem Kuchen. „Der riecht ja fantastisch. Der Kaffee ist gleich fertig.“

Rumpler folgte ihr in den Wintergarten, wo der Rattantisch bereits gedeckt war. Sie genossen Kaffee und Kuchen weitgehend schweigend. Alma war eine Frau, mit der man beides gut konnte, schweigen und sprechen, je nachdem. Auch wenn sie beide schwiegen, war die Verbindung zwischen ihnen stark zu spüren. Nachdem sie sich gestärkt hatten, beugte sie sich vor und legte ihre Hand ganz leicht auf seine.

„Etwas hat dich erschreckt, Lieber. Willst mir davon erzählen?“

Er staunte längst nicht mehr über ihre Hellsichtigkeit und war einfach froh darüber, dass sie ihn auch ohne Worte verstand.

„Ich bin von den Kollegen gebeten worden, mich ein bissl bei den Obdachlosen umzuschauen und -zuhören, weißt eh, wegen der Morde, ich hab zu denen einen guten Draht, und da hab ich heute einen schwerbehinderten Bettler gesehen, mit nur einem Bein und einem völlig verkrümmten Rücken. Einfach schrecklich.“

„Es ist ganz normal, dass dich das erschreckt, Lieber. Es ist ja auch schrecklich.“

Rumpler wusste, dass Almas schon vor vielen Jahren verstorbener Vater im Krieg ein Bein verloren hatte.

„Wie war das für dich als Kind? Dein Vater hat ja auch nur ein Bein gehabt, aber du hast ihn halt nur so gekannt.“

„Er war mir ganz vertraut, so wie er war.“

„Aber wie geht man als Kind mit so was um?“

Sie lächelte das Lächeln, das Rumpler so sehr an ihr liebte, ein frohes und großzügiges Lächeln mit einem ganz leichten Anflug von Wehmut, aus dem Wissen um die Welt, so wie sie war.

„Kinder haben für so was ganz eigene Strategien. Mein kleiner Bruder …“, sie lächelte wieder, weil dieser kleine Bruder mittlerweile etwa fünfundvierzig Jahre alt war, „… konnte die Verwundung unseres Vaters nur ganz schwer ertragen. Er hat ihn daher in seiner Fantasie zu einer Art Actionheld umgemodelt und sich vorgestellt, seine Krücken wären in Wirklichkeit Schnellfeuergewehre, mit denen unser Vater jederzeit schießen und alle Schurken zur Strecke bringen konnte. Unser Vater hat das aber nicht wissen dürfen, denn er hat Waffen verabscheut. Also hat mein Bruder in seiner Fantasie die Krücken-Gewehre zusätzlich auch noch mit Schalldämpfern ausgestattet. Wenn wir mit dem Auto Ausflüge gemacht haben und mein Bruder hat ganz leise pffft gemacht, dann hab nur ich gewusst, dass er unseren Vater wieder einmal erfolgreich gegen das Böse hat kämpfen lassen.“

„Und wie war das bei dir?“

Sie schwieg kurz, bevor sie antwortete. „Ich hab begonnen, zu hinken.“

Rumpler blickte überrascht auf.

„Ich erzähl dir, wie das gekommen ist. Beim Gehen konnte mir mein Vater ja nicht die Hand geben, als ich noch klein war und an der Hand gehen musste, und so konnte er nur einen Zeigefinger wegstrecken, an dem ich mich mit meinen Fingern festgehalten hab, während er mit den Krücken ging. Ich hatte schon immer ein sehr gutes Gefühl für Rhythmus und so hab ich auch schnell den Takt seines Gehens in mich aufgenommen. Wenn er sich beim Gehen mit dem Fuß abgestoßen und die Krücken am Boden aufgesetzt hat, ist eine Schwebephase gekommen, die etwas länger war, als der nächste Schritt mit dem Fuß am Boden. Damit mein Vater nicht merken sollte, dass er nicht gleichmäßig gehen kann, hab ich mich dann perfekt an sein Gehen angepasst, immer mit einem schnelleren und einem langsameren Schritt. Und so hab ich begonnen zu hinken. Das ist mir auch später geblieben, als ich nicht mehr an der Hand gehen musste. In der Schule haben sie mich deshalb verspottet und Hatscherte zu mir gesagt. Ich hab damals ja gar nicht bewusst gespürt, dass ich hink, so normal ist mir das vorgekommen. Jahre später hat sich dann etwas ereignet, das alles für mich geändert hat. In der Schule gab es anlässlich eines Jubiläums ein großes Fest, bei dem auch ein getanztes Märchen, und zwar Dornröschen, geplant war. Ich war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt und wollte unbedingt mitmachen. Als ich mich für das Vortanzen gemeldet hab, das Voraussetzung für die Teilnahme war, hat ein Bub aus meiner Klasse geschrien: Die Hatscherte will tanzen. Und alle haben gebrüllt vor Lachen. Ich wäre damals am liebsten gestorben vor Scham. Die Lehrerin hat mich nur mitleidig angeschaut, aber gesagt hat sie nichts. Zu Hause hab ich darüber nicht gesprochen, weil ich meine Eltern nicht belasten wollte, aber zum Glück gab es eine Schwester meines Vaters, zu der ich immer kommen konnte, wenn ich was gebraucht hab. Sie hat erstaunlich schnell herausgefunden, warum ich gehinkt hab, und hat mir etwas klargemacht, für das ich ihr noch heute dankbar bin. Ich hatte das Hinken, wenn auch nicht bewusst, meinem Vater geschenkt, aber es war jetzt an der Zeit, ihm das Tanzen anstatt des Hinkens zu schenken. Ich hab sehr viel geweint an diesem Abend, vor Traurigkeit, aber noch viel mehr vor Erleichterung. Meine Tante ist dann auch mit mir zu einer Tanzlehrerin gefahren und hat mir Privatstunden bezahlt, obwohl sie nur eine kleine Pension hatte. Das Hinken ist von mir abgefallen, ohne jede Mühe, wie ein Blatt im Herbst, und ich hab das Tanzen für mich entdeckt. Meine Eltern hatten von all dem keine Ahnung. Meine Tante hat mich dann auch zum Vortanzen begleitet. Ich war als Letzte dran. Für die anderen war die Entscheidung schon längst gefallen. Ich kann mich noch gut an das boshafte Getuschel erinnern, als ich auf die kleine Bühne gekommen bin. Dann hat die Musik eingesetzt und ich hab getanzt, aber schon nach kurzer Zeit ist die Musik wieder gestoppt worden. Erst hab ich gedacht, sie schicken mich gleich wieder weg, aber dann hab ich geweint vor Glück, als ich erfahren hab, dass ich die wichtigste Rolle, das Dornröschen, tanzen darf. Als dann der Abend der Vorführung da war, hat es meine Tante so eingerichtet, dass sie mit meinen Eltern bei den Zuschauern war und hat ihnen eingeredet, ich könnt nicht bei ihnen sein, weil ich beim Buffet aushelfen müsse. Dann ist der Vorhang aufgegangen, sie haben mich gesehen und ich hab gespürt, wie sie den Atem angehalten haben. An diesem Abend hab ich buchstäblich um mein Leben getanzt, auch um mein künftiges Leben. Am Ende der Vorstellung war es im Zuschauerraum für kurze Zeit totenstill, dann hat das Publikum getobt vor Begeisterung. Ich hab Standing Ovations bekommen. Ich glaub, ich hab meinen Vater noch nie so froh und so stolz gesehen wie an diesem Abend.“

Rumpler schwieg, bewegt von der Geschichte, die sie ihm anvertraut hatte, und auch dankbar dafür, dass es diese Tante in Almas Leben gegeben hatte. „Eigentlich braucht jedes Kind einen solchen Menschen“, dachte er, „jemanden, der mit Mut und Klugheit eingriff, wenn etwas im kindlichen Leben zu entgleisen drohte.“

Alma stand auf, ging die paar Schritte zu ihrem erhöhten Liegeplatz, der durch dicke Teppiche und farbige Kissen besonders einladend wirkte, und streckte ihm die Hände entgegen. „Komm her zu mir, Lieber, ein bissl sumpern.“

Er folgte ihr, nahm sie in die Arme, sie ruhten aneinandergeschmiegt und schon nach kurzer Zeit hatte sich ihr Atem in einem gemeinsamen Rhythmus zusammengefunden. Im Halbschlaf sah er sie dann wie in ihrer Erzählung als Kind vor sich, eine Prinzessin, die sich dem Tanzen völlig hingab und damit die Welt beschenkte.

Schutzpatrone

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