Читать книгу Schutzpatrone - Rudolf Trink - Страница 7
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1.
Die Krähe legte ihren Kopf schief und sondierte die Lage. Der kleine Hund lag auf dem sonnendurchwärmten Boden, halb auf der Seite, und rührte sich nicht. Die Krähe hüpfte näher, ganz auf die paar Stücke Trockenfutter konzentriert, die auf der blau-weiß gemusterten Decke des Hundes lagen. Sein walzenförmiger Körper blieb völlig unbeweglich, kein Zucken der Ohren verriet, ob er überhaupt noch lebte. Erst in dem Moment, als die Krähe ihren starken Schnabel nach vorne stieß, um das nächstgelegene Futterstück zu ergattern, schnellte der kleine Hund plötzlich hoch und zeigte knurrend sein erstaunlich starkes Gebiss. Die Krähe flüchtete verärgert und Johann Rumpler atmete auf. Rumpler kannte diesen Hund schon lange, noch aus der Zeit, als er stellvertretender Leiter der Mordkommission gewesen war, und genauso lange kannte er Ferdinand „Ferdl“ Weitel, den obdachlosen Besitzer des Hundes. Der Hund war alt, aber seine Reflexe funktionierten zu Rumplers Erleichterung immer noch, er war schlau und erfahren, gewitzt vom Leben auf der Straße.
„Wir sind uns ähnlich“, dachte Rumpler, an dem seine fünfundsechzig Jahre zwar nicht spurlos vorübergegangen waren, der sich aber immer noch auf seine Reflexe und sein Gedächtnis und, mit nur geringen Einschränkungen, auf seinen kräftig gebauten und für sein Alter ziemlich beweglichen Körper verlassen konnte.
„Servus Ferdl. Deine Leni ist aber noch ordentlich auf Zack!“
„Servus Hans. Ja, die Leni is super gescheit.“
Rumpler drückte Ferdl die obligatorische Zwei-Euro-Münze in die Hand und nahm dafür den Augustin, das Überlebensblatt der Obdachlosen, entgegen. Wie gewohnt sagte Ferdl nichts, sein Dank bestand darin, dass er Rumplers Hand kurz drückte. Dieser spezielle, über beinahe zehn Jahre vertraute Händedruck mit Ferdls breitem Daumen genau in der Mitte von Rumplers Handfläche war ein völlig vertrautes Ritual zwischen den beiden und damit ein wichtiger Bestandteil des Rumplerschen Lebens. Er mochte und er respektierte Ferdl, der es trotz seiner Obdachlosigkeit immer geschafft hatte, sich seine Würde zu bewahren. Ebenso schätzte Ferdl Rumpler, der ihn mehr als einmal aus kleineren Schwierigkeiten, manchmal auch mit der Polizei, herausgeholt hatte.
„Scheißliche Sache“, sagte Ferdl schließlich, was grammatikalisch nicht stimmen mochte, inhaltlich aber schon. „Jetzt hams den Dritten von uns hamdraht.“
„Ganz grauslich“, bestätigte Rumpler. „Hört ma bei euch was?“
„Gredt wird viel, aber das heißt gar nix. Eigentlich sollt der Schätter Rudi was wissen, aber den verstehst ja kaum. An festen Huscher hat er schon, aber er is nicht blöd. Nur komisch, ein bissl kindisch.“
„Machst dir Sorgen?“
„Na, überhaupt net. Zu was?“
„Hast a wieder recht.“
Rumpler war von Ferdls Gleichmut beeindruckt. Er hockte sich auf den Boden neben Leni, wie jedes Mal, wenn er Ferdl und sie traf, und ließ sie an seinen großen Händen schnuppern. Leni liebte dieses Ritual, zum einen, weil Rumpler sich ihr im Gegensatz zu den meisten sonstigen Besuchern immer nur sehr behutsam und höflich näherte, zum anderen, weil seine Hände so aufregend nach Katze rochen, nach seiner Rosamunde. Nach ausreichender Würdigung dieses Duftes legte sie sich wieder auf die Seite nieder, seufzte kurz und genussvoll auf und lag wie zuvor unbeweglich in der Mittagssonne. Rumpler verabschiedete sich und machte sich vom Naschmarkt, wo Ferdl seinen Standplatz hatte, auf den Heimweg zu seiner Altbauwohnung in der Josefstadt, während er über die Mordserie an Obdachlosen nachdachte, die derzeit Wien erschütterte, wie die Zeitungen schrieben, obwohl das eigentlich nicht das richtige Wort war. In Wahrheit ging es dem Publikum eher um eine Art wohligen Gruselns, verbunden mit der Erleichterung, dass diese Morde ausschließlich an Obdachlosen begangen wurden, mit denen man glücklicherweise nichts zu tun hatte. Rumpler war es aus seiner früheren beruflichen Praxis gewohnt, den von ihm verfolgten Mördern möglichst neutral gegenüberzustehen, aber bei den aktuellen Morden gelang ihm das nicht. Es machte ihn wütend, dass sich jemand anmaßte, den Schwächsten in der Gesellschaft auch noch das Letzte zu nehmen.
Jenen Rudi Schätter, den Ferdl erwähnt hatte‚ kannte Rumpler nur vom Sehen her. Heinz Schummer, das erste Mordopfer, hatte sich um Rudi gekümmert und ihm damit wohl auch die sonst kaum vermeidbare Einweisung in die Psychiatrie erspart. Ihn hatte Rumpler etwas näher gekannt. Während seiner Aktivzeit hatte er sich überhaupt immer um Kontakte mit der Obdachlosenszene bemüht, er kannte viele der großen, aber auch manche der kleinen Sorgen der Wohnungslosen. Außerdem galt er in der Szene als Geheimtipp für die Vermittlung von kostenlosen Zahnbehandlungen, weil ein Schulfreund Rumplers, ein mittlerweile auch schon pensionierter Zahnarzt, der eigentlich seine wunderbar abgesicherte Pension hätte genießen können, nicht Nein sagen konnte, wenn seine Hilfe von den Obdachlosen gebraucht wurde.
„Ich könnt Moser anrufen und fragen, wie es in der Sache steht“, dachte Rumpler. Mittlerweile hatte er bereits die Fleischhauerei Korbes erreicht, die nur mehr ein paar hundert Meter von seiner Wohnung entfernt war und in der er als eher ambitionierter Koch ein ausgesprochen gern gesehener Kunde war. Diesmal kaufte er einige Stücke Hühnerleber, die er für sich mit Äpfeln und Jungzwiebeln, grob gemahlenem Pfeffer und mit einem Schuss Portwein zubereiten würde und die zart angebraten, aber natürlich ungewürzt, sicher auch von Rosamunde sehr geschätzt werden würde.
Als er die Wohnungstür öffnete, kam sie ihm bereits entgegen, strich ihm um die Beine und beroch ihn sorgfältig. So genau Rumpler sie auch kannte – und er war ein ausgezeichneter und langjähriger Beobachter Rosamundes – er hätte nicht sagen können, ob sie Lenis Geruch, den er von seinem kurzen Ausflug mitgebracht hatte, eher als angenehm empfand oder sogar als abscheulich, wenn auch in gewisser Weise vielleicht wieder faszinierend. Wie so oft ließ sie sich in keiner Weise in die Karten schauen. Als er sich schließlich ans Kochen machte, setzte sie sich zu ihm in die Küche. Er hatte ihr dort als permanenten Beobachtungsposten einen alten Küchensessel mit Polsterauflage zur Verfügung gestellt. In jüngeren Jahren, als sie ihm bei ihren Sprüngen noch federleicht, nahezu gewichtslos erschienen war, quasi ein Pegasus in Katzengestalt, war das Erreichen der Sitzfläche eines Sessels für sie natürlich nie ein Thema gewesen, aber in den letzten Jahren schon. Vor etwa einem Jahr hatte Rumpler daher für sie eine alte hölzerne Weinkiste als Aufstiegshilfe unter den Sessel geschoben, die nicht nur ihr, sondern auch ihm in seiner Erinnerung Freude machte, weil sie den herrlichen Bordeaux beherbergt hatte, den er zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Damals hatte seine Frau Elsa noch gelebt, die vor etwa fünf Jahren an Krebs gestorben war. Dann waren die Jahre der Einsamkeit gefolgt, bis er Alma, eine Ärztin, kennengelernt hatte, ein höchstpersönliches und ebenso unerwartetes wie wunderbares Geschenk des Schicksals an ihn, wie er dachte.
Während er die kurz mit den Jungzwiebeln gebratene Hühnerleber aus der Pfanne hob und im Rohr warm stellte, schälte er einen Apfel. Zum Glück gab es in den letzten Jahren wieder eine Vielfalt an Apfelsorten, denn zuvor hatte er manchmal das Gefühl gehabt, das Angebot der Geschäfte wäre fast nur auf Granny Smith und Gold Delicious beschränkt. Rumplers Lieblingssorten waren Cox Orange, Gravensteiner und Kronprinz Rudolf. Diese Äpfel erinnerten ihn an das großväterliche Haus in Friesach, wo er gemeinsam mit seinem Bruder die Ferien verbracht hatte und häufig ein leichter Duft dieser traditionellen Apfelsorten in der altertümlichen Küche in der Luft gelegen war.
Nachdem Rumpler überprüft hatte, dass Rosamundes Hühnerleber-Portion nicht zu heiß für sie war, stellte er ihr den Napf auf den Boden. Bis er für sich auch nur einen Teller und das Besteck gerichtet hatte, war sie bereits mit ihrer Mahlzeit fertig. Das hastige Fressen lag ihr im Blut, noch aus der gut zehn Jahre zurückliegenden Zeit, als sie in Kärnten als Streunerin um ihr Überleben hatte kämpfen müssen. Im Gegensatz zu ihr ließ sich Rumpler beim Essen besonders viel Zeit. Oft genug hatte er in seiner Aktivzeit nur sehr hastig oder bei schwierigen Einsätzen für längere Zeit manchmal auch gar nicht essen können und er hatte sich damals geschworen, das in seiner Pension gründlich zu ändern, was ihm auch gelungen war. Rumpler würzte die Hühnerleber mit einem speziellen Pfeffer aus Madagaskar, den ihm Sabine, die junge Witwe seines Neffen Karl, von einer Weltreise mitgebracht hatte und den er besonders schätzte, weil er sich nicht nur durch eine respektable Schärfe, sondern vor allem auch durch sein fruchtiges Aroma auszeichnete. In Verbindung mit dem wunderbaren Spiel von Süße und Säure, das der Cox Orange Apfel beitrug, den er mit Jungzwiebeln kurz angebraten und dann mit einem Schuss Portwein abgelöscht hatte, war seine kleine Mahlzeit einfach perfekt. Rumpler sah sich zufrieden in seiner ziemlich geräumigen und technisch sehr gut ausgestatteten Küche um, die er der Großzügigkeit eines schon vor Jahren verstorbenen entfernten Verwandten verdankte. Wenn er allein war, benutzte er praktisch immer den Essplatz in der Küche, der für zwei Personen gut und für vier Personen knapp ausreichend war. Erst wenn der Kaffee an der Reihe war, wechselte er normalerweise aus der Küche auf einen seiner abgeschabten, mit dunkelbraunem starkem Leder bespannten Fauteuils ins Wohnzimmer. Eben als er überlegte, welche seiner zahlreichen italienischen Kaffeeschalen er für seinen Espresso wählen sollte und er sich über den Duft des frisch gemahlenen Kaffees freute, läutete sein Telefon. Es war sein ehemaliger Kollege und noch immer aktueller Freund Alois Moser.
„Hallo Hans, wie geht’s dir?“
„Hallo Stinker. Mir geht’s in der Pension ausgezeichnet. Besser als euch jedenfalls.“
Der so despektierlich Angesprochene nahm diese Anrede mit völliger Gleichmut zur Kenntnis. Sie stammte aus der Zeit, als er noch ein starker Raucher gewesen war. Das Rauchen hatte er sich aufgrund eines sehr ernst gemeinten ärztlichen Rates schon vor vielen Jahren abgewöhnt, der Name war geblieben.
„Ich muss mit dir reden, Hans. Wegen der Obdachlosen.“
„Hab ich mir eh gedacht. Café Rathaus?“
„Gern. Wenn’s für dich passt, morgen um neun.“
„Ja, bestens. Bis morgen, Stinker.“
„Bis morgen. Servus Hans.“