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6.

Am nächsten Morgen war Rumpler schon etwas früher ins Café Rathaus gekommen und zu seiner Freude war der angestammte Platz, den Moser und er während seiner Aktivzeit meistens benutzt hatten, frei, was er als gutes Omen nahm. Der Tisch stand in einer Fensternische, wobei der unter dem Fenster platzierte Heizkörper mit einem Messinggitter verkleidet war, das von den darauf abgestützten Ellbogen der Besucher sowohl spiegelnd blank poliert als auch etwas durchgebogen war. Während Rumpler noch darüber sinnierte, wie viel dieser über die Jahre immer deutlicheren Veränderung wohl auf sein und Mosers Einwirken zurückzuführen war, traf dieser ein, wie üblich mit seiner speckigen Aktentasche versehen, die er gleich nach der Begrüßung öffnete und ihr einen ziemlich dicken Packen Unterlagen entnahm, den er vor Rumpler hinlegte. „Das ist alles, was wir zur Tolser haben. Viel Lärm um nichts. Wirst sehen, das bringt nichts.“

„Danke, Stinker. Kennst mich eh. Ich muss mir alles selber anschauen.“

„Passt schon. Bist beim Rudi Schätter weiterkommen?“

„Nicht wirklich. Ich hab ihn besucht, er hat sich drüber gfreut, aber sagen hat er mir nichts können. Er ist ganz in seiner Kasperlwelt drin mit Greteln, Seppeln und Großmuttis. Du bist wahrscheinlich auch ein Seppel, so wie ich.“

Moser verdrehte die Augen und grunzte etwas Unverständliches. „Und was machst jetzt weiter?“

„Ich bleib einfach dran und werd ihn wieder besuchen. Schau ma mal. Wenn er wirklich was weiß, wird’s nicht leicht, das aus ihm herauszukriegen.“

„Wenns einer schafft, dann du“, meinte Moser, der Rumplers legendäre Geduld und Ausdauer bei ihren gemeinsamen Fällen zur Genüge kennengelernt hatte und auch durchaus schätzte, obwohl, oder vielleicht sogar, weil er selbst völlig anders gestrickt war – lebhaft und ungeduldig.

Nach dem Kaffeehausbesuch machte Rumpler noch einen Spaziergang im Volksgarten und freute sich über die blühenden Rosen und auch über die ihnen durch ihre Paten zugeordneten Widmungsschilder. Plötzlich ertappte er sich dabei, wie er den Spaziergängern, denen er begegnete, Rollen als Seppeln, Greteln, Hexen oder Großmuttis zuteilte, je nachdem. Die Seppeln waren tatsächlich, wie Rudi Schätter es gesagt hatte, in der Überzahl. „Viele Seppeln“, dachte Rumpler, „aber weit und breit kein Kasperl.“ Also nach seiner Einschätzung vermutlich einer, der das Unglück wenden konnte und allen Hoffnung und Zuversicht verhieß.

Rumpler machte sich auf den Heimweg. Als er die abgezählten zweiundsiebzig Stufen zu seiner Wohnung emporgestiegen war, leicht außer Atem, steckte seine alte Nachbarin den Kopf zur Tür hinaus und übergab ihm ein Paket, das sie für ihn übernommen hatte. Sie musste trotz ihrer gut achtzig Jahre noch über ein ausgesprochen feines Gehör verfügen, sonst hätte sie sein Kommen nicht gehört. Rumpler bedankte sich, übernahm das ziemlich voluminöse und gar nicht so leichte Paket und wurde schon an der Wohnungstüre von Rosamunde empfangen, die sich sofort dafür interessierte.

„Kriegst dann die Schachtel, Maus“, versprach er ihr, während er sich erfolglos bemühte, den ziemlich krakelig geschriebenen Absender zu entziffern. Schließlich half ihm der Poststempel weiter. Das Paket war von seinem Großcousin, dem Vater jenes Kevin, dessen Zeichnung nach wie vor auf Rumplers Schreibtisch stand.

Rumpler holte sein Taschenmesser aus dem Sack, ein ganz aus Metall bestehendes, unverwüstliches und extrem scharfes Messer, das zur Standardausrüstung der japanischen Polizei gehörte, mit einem schmalen Griff und einer gezahnten Klinge, die auch für kleinere Sägearbeiten durchaus geeignet war. Er hatte es einmal von einem japanischen Kollegen als Abschiedsgeschenk bekommen, als in Wien ein internationaler Polizeikongress stattgefunden und er den Japaner unter seine Fittiche genommen und ihm die Wiener Cafés und Heurigen nähergebracht hatte. Er schnitt die starken Klebebänder auf dem Paket mühelos auf. In dem Paket waren Äpfel, verschiedene Sorten, beileibe nicht alle perfekt in ihrem Aussehen, aber doch verführerisch anzusehen, und der Duft, der von ihnen aufstieg, machte Rumpler Lust, gelegentlich wieder das Waldviertel aufzusuchen. Das ziemlich raue Klima des Waldviertels vertrug sich eigentlich nicht sehr gut mit dem Anbau von Äpfeln, nur einige eher robuste Sorten hielten sich dort. Obenauf im Karton lag eine Karte mit einem Dank für den Besuch, die auch Kevin mit einer etwas wackeligen Schrift unterschrieben hatte.

Rumpler warf einen Blick auf die gerahmte Zeichnung auf seinem Schreibtisch und lächelte. Einen Teil der Äpfel würde er für einen gedeckten Apfelkuchen verwenden, mit den durch das Teigrad gezackten Teigstreifen kreuz und quer belegt, eine Herrlichkeit zum Kaffee. Den Kuchen würde er Alma mitbringen, die sich über Gekochtes oder Gebackenes immer freute, zum einen, weil er mit viel Sorgfalt und Erfahrung ans Werk ging, zum anderen, weil sie es von ihrem verstorbenen Mann, einem Bildhauer, nicht gewohnt gewesen war, so verwöhnt zu werden. Rumpler freute sich auf Kaffee und Kuchen mit Alma, im großen Wintergarten ihres schönen alten Hietzinger Hauses, von Skulpturen und großen Kübelpflanzen umgeben. Dieser Platz war für ihn ein Sehnsuchtsort, voller Harmonie, eine Insel, die Rettung verhieß, wenn Rettung nottat.

Mittlerweile hatte Rumpler die Äpfel alle aus dem Karton geholt, sie einzeln begutachtet und berochen und am Rand seines Küchentisches in einer Zweierreihe aufgelegt. Die geleerte Schachtel hatte er auf den Boden gestellt, wo sie sofort von Rosamunde bezogen wurde, die es liebte, sich in Schachteln, womöglich kleinen, in die sie kaum hineinpasste, häuslich einzurichten. Rumpler griff zum Handy und rief seinen Großcousin an, bedankte sich für die Äpfel und richtete auch an Kevin schöne Grüße aus, heilfroh darüber, dass dieser in sicherer Entfernung im Waldviertel weilte.

Während er einen Teil der Äpfel schälte und die Kerngehäuse entfernte, dachte er über die Obdachlosen nach, die sich mit dem Verkauf des Augustin über Wasser hielten und ihre in den letzten Jahren aufgetauchten ausländischen Konkurrenten. Nicht weit von Ferdls Standplatz hatte er einen Bettler beobachtet, wie sie in letzter Zeit immer öfter zu sehen waren, mit schweren und zum Teil schwersten Behinderungen, fehlenden Gliedmaßen, schrecklichen Verkrüppelungen. Dem etwa vierzigjährigen Mann, sofern sich sein Alter überhaupt korrekt schätzen ließ, hatte ein Bein gefehlt und sein Rücken wies zusätzlich eine schlimme Verkrümmung auf. Noch in der Erinnerung an diesen Anblick schauderte es Rumpler und er fühlte die Betroffenheit und wohl auch die diffusen Schuldgefühle eines weitgehend Gesunden gegenüber jemandem, der vom Schicksal so sichtbar getroffen war.

Mittlerweile waren alle Äpfel säuberlich geschnitten in einem großen Topf – mit Zimt, Zitronensaft und etwas braunem Zucker – und dünsteten unter verführerischem Duft bei eher schwacher Hitze vor sich hin. Die Herstellung des Teigs war für Rumpler kein Problem, so oft hatte er diesen Kuchen schon gemacht. Das Rezept dazu stammte noch von seiner Mutter, die in ihrer bemerkenswert schönen, schwungvollen Handschrift Zutaten und Herstellung genau beschrieben hatte.

Rumpler erinnerte sich an die Zeit, als er als Bub seiner Mutter beim Kuchenbacken zugeschaut hatte. Sein Blick hatte damals gerade auf den Küchentisch gereicht, auf dem sie den Teig auswalkte und mit dem gezackten Teigrad die einzelnen Streifen schnitt. Manchmal machte sie einen Fehler, ein kleines Stück Teig war plötzlich ganz schief geschnitten und dieses Stück schob sie dann ihrem Sohn zu, der schon wusste, dass solche Fehler zum Ritual des Kuchenbackens gehörten. Rumplers älterer Bruder mochte Süßes nicht sehr und war daher diesbezüglich glücklicherweise keine Konkurrenz für ihn gewesen.

Als der Kuchen schließlich im Rohr war, rief Rumpler Alma an. Sie hatte am Vormittag in ihrer Ordination gearbeitet und sollte daher am Nachmittag frei sein.

„Hallo Alma.“

„Schön dich zu hören, Lieber.“

Sie sagte Lieber, nicht Liebster, aber die Wärme ihrer Stimme, mit der sie es sagte, löste in Rumpler eine ganze Welle von Glücksgefühlen aus.

„Ich hätt einen Apfelkuchen. Hast Zeit und Lust, dann bring ich ihn vorbei?“ Er spürte ihr Lächeln bis in seinen Bauch hinein.

„Du bist ein Schatz. Passt vier Uhr für dich?“

„Bestens. Ich freu mich auf dich.“

„Ich freu mich auch.“

Schutzpatrone

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