Читать книгу Systemische Beratung der Gesellschaft - Ruth Seliger - Страница 10
1.2Das dialektische Konzept: Tanz der Gegensätze
Оглавление»Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.« 7
Antonio Gramsci
Der Begriff Dialektik bezeichnet eine Form des Denkens, die durch den Prozess der Bearbeitung von Widersprüchen zu deren Aufhebung – in der doppelten Bedeutung von »Auf-Lösung« und »Aufbewahrung« – und damit zu neuen Erkenntnissen führt. Dialektik ist ursprünglich die Kunst des Diskurses, der Rede und Gegenrede, der Argumentation und Widerlegung zur Überwindung von Widersprüchen. Das Veränderungskonzept der Dialektik zeichnet ein dynamisches Bild von Prozessen, das in einer stetigen Auseinandersetzung zwischen These, Antithese und Synthese besteht, die zu einer Weiterentwicklung des Bewusstseins und Handelns führt.
»Die Wirklichkeit wird im dialektischen Denken als etwas aufgefasst, das sich in ständiger Bewegung befindet, das verändert wird und selbst verändert, das aufhebt und aufgehoben wird.«8
Im Zentrum des dialektischen Veränderungsmodells steht der Gegensatz, der Widerspruch, der Konflikt: ohne Gegensätze, ohne Widersprüche und Konflikt keine Veränderung. Das dialektische Konzept beschreibt Veränderung als einen kontinuierlichen Prozess der Bearbeitung von Widersprüchen. Weil aber das Leben voller Widersprüche und Konflikte ist, kann es keinen »veränderungslosen« Moment im Leben lebendiger Systeme geben, Veränderung ist Leben, das Leben ist Veränderung, keine Veränderung ist gleichbedeutend mit Tod.
Veränderungen lebender Systeme werden im dialektischen Verständnis nicht als lineare Prozesse gedacht, sondern als schleifenförmige Bewegungen, als kontinuierlicher Tanz der Widersprüche. Bei gesellschaftlichen Veränderungen sind wir selbst die Tänzer und Tänzerinnen, die widersprüchliche Themen, Interessen oder Vorstellungen in der Gesellschaft vertreten. Der Tanz ist also nicht harmonisch, man steigt einander durchaus auf die Füße, kämpft um die Führung.
Die Gegensätze werden bei diesem Tanz nicht zerstört und entfernt, sondern bleiben in den beiden Seiten aufgehoben. Das wunderbare Zeichen von Yin und Yang zeigt diese »Aufhebung« und »Behebung« der Gegensätze (siehe Abb. 2):
Abb. 2: Yin und Yang
Das einleitende Zitat von Antonio Gramsci beschreibt die gesellschaftliche Geschichte als einen kontinuierlichen Prozess des Entstehens und Vergehens: Das eine, die These, vergeht in einem Prozess der Dekadenz, des Abstiegs; das andere, die Antithese, entsteht in einem Prozess der Aszendenz, des Aufstiegs. Das dialektische Modell von Veränderung ist ein Prozess, in dem das Alte ein Neues hervorbringt und von diesem abgelöst wird. Das Neue enthält dabei Elemente des Alten, das Alte hat das Neue immer schon wie einen Samen in sich getragen.
Irgendwann wird das Neue selbst zu einem Alten und ein Neues, ein anderes Neues entsteht. Das ist der dialektische Gang der Geschichte und der Entwicklung: Jede gesellschaftliche Situation bringt durch die »Aufhebung der Widersprüche« eine neue Entwicklungsform hervor.
Dieser Prozess verläuft nicht harmonisch und glatt. Im Übergang des einen Prinzips zum anderen entsteht ein Moment des »Niemandslands«, eine Krise (siehe Abb. 3). Von Krise sprechen wir dann, wenn dieser Kampf der Widersprüche noch nicht entschieden ist: Wird sich das Alte – das Traditionelle, Gewohnte, Bekannte – durchsetzen, oder wird sich etwas Neues, das Zukünftige, Riskante, Aufregende Bahn brechen? In dieser Unentschiedenheit ist alles offen, es wird an unterschiedlichen Ecken und Enden gezogen, es wird gekämpft und schließlich entschieden.
Abb. 3: Dialektisches Konzept von Veränderung
In ihrer politischen Ökonomie wenden Karl Marx und Friedrich Engels diese Formen des dialektischen Prozesses auf gesellschaftliche Veränderungen an: Als Träger dieser gesellschaftlichen Hauptwidersprüche sahen Marx und Engels die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen, ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen und gegensätzlichen Ziele und Interessen:
»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«9
So lautet die einleitende These des Manifests der Kommunistischen Partei (erstmals veröffentlicht in London im Februar 1848). Gesellschaftliche Entwicklungen werden als Auseinandersetzungen zwischen den jeweils »herrschenden Klassen« und den »beherrschten« Klassen gesehen. Dieser Prozess – der Klassenkampf – treibt im marxistischen Bild die gesellschaftlichen Veränderungen, die Geschichte, an. Aus diesem Verständnis von Veränderung und Geschichte entstand der kommunistische Traum einer gesellschaftlichen Situation, in der die gesellschaftlichen Widersprüche aufgehoben sind und die zu einer neuen Synthese, der »klassenlosen Gesellschaft«, führt.
Die Phase des Übergangs ist eine Zeit des Kampfes, in der es um die Frage geht, welches Prinzip, welche Interessen, welche Standpunkte sich durchsetzen. Es sind Machtkämpfe, die diese Wendepunkte der Gesellschaft prägen.
Yuval Harari drückt das so aus: »Wir leben an der Schwelle zwischen Himmel und Hölle.«10