Читать книгу Das Königreich aus Kupfer - Daevabad Band 2 - S. A. Chakraborty - Страница 10
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ALI
Ali blickte zum Rand der Felsenklippe hinauf und kniff im grellen Sonnenlicht die Augen zusammen. Sein Herz schlug so schnell, dass er es in den Ohren hören konnte, und sein Atem ging stoßartig. Vor Nervosität stand ihm der Schweiß auf der Stirn und tränkte die Kufiya aus Baumwolle, die er sich um den Kopf gewickelt hatte. Er hob die Arme und schwankte auf nackten Füßen vor und zurück.
»Er wird es nicht schaffen«, hörte er einen der anderen Dschinn spotten. Sie standen zu sechst oben auf den Klippen, an die das Dorf Bir Nabat grenzte, und sie waren alle recht jung, denn das, was sie da taten, erforderte die Art von Leichtsinn, die man nur in der Jugend besaß. »Der kleine Prinz wird nicht riskieren, sich den königlichen Hals zu brechen.«
»Er wird es tun«, konterte ein anderer Mann – Lubayd, Alis engster Freund in Am Gezira. »Besser wäre es.« Er hob die Stimme. »Ali, Bruder, ich habe auf dich gewettet. Lass mich jetzt nicht im Stich!«
»Du solltest nicht spielen«, fauchte Ali nervös. Er holte abermals aufgeregt Luft und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Es war so gefährlich, so unnötig und töricht, dass man es beinahe als selbstsüchtig bezeichnen konnte.
Von jenseits der Klippe war ein reptilisches Schnuppern zu hören, gefolgt vom stechenden, unangenehmen Geruch von verbrannten Federn. Ali flüsterte leise ein Gebet.
Dann lief er auf den Rand der Klippe zu. Er rannte so schnell, wie er nur konnte, und als er keinen Boden mehr unter den Füßen spürte, schleuderte er sich nach vorn ins Leere. Einen entsetzlichen Augenblick fiel er, und der ferne, mit Steinen übersäte Boden, auf dem er aufkommen würde, kam rasend schnell näher …
Er landete hart auf dem Rücken des Zahhaks, der an der Felswand nistete. Ali keuchte auf und stieß einen Schrei aus, der zu gleichen Teilen triumphierend und panisch klang, während das Blut durch seine Adern toste.
Der Zahhak teilte seinen Enthusiasmus nicht einmal ansatzweise. Vielmehr erhob sich die geflügelte Schlange mit einem erbosten Schrei in die Lüfte.
Ali packte den Kupferkragen, den ein weitaus wagemutigerer Dschinn dem Zahhak schon vor Jahren umgelegt hatte, und presste die Beine gegen den schlanken, von silbrigen Schuppen bedeckten Körper, wie es ihm geraten worden war. Vier gewaltige Flügel, nebelhaft weiß und sich wie Wolken aufplusternd, schlugen um ihn herum durch die Luft und raubten ihm den Atem. Dieser spezielle Zahhak erinnerte an eine übergroße Eidechse – allerdings eine, die Flammen aus dem mit Fangzähnen bewehrten Maul speien konnte, wenn sie von Dschinn geärgert wurde. Er war angeblich über vierhundert Jahre alt und nistete seit Generationen in den Klippen rings um Bir Nabat, da er die Vertrautheit dieses Ortes anscheinend derart genoss, dass er sogar die Eskapaden der jungen Geziri ertrug.
Einer dieser jungen Männer kniff nun die Augen zu; das Sausen des Windes und der Anblick des Bodens, der unter ihm dahinraste, ließ Alis Herz erneut vor Furcht erstarren. Er klammerte sich an den Kragen und drückte sich gegen den Hals des Zahhaks.
Schau gefälligst hin, du Narr. Da es durchaus möglich war, dass er am Ende dieses Ausflugs mit gebrochenen Knochen unten im Sand endete, hielt Ali es für ratsam, wenigstens die Aussicht zu genießen.
Er schlug die Augen auf. Unter ihm breitete sich die Wüste aus, eine gewaltige Ausdehnung aus rotgoldenem Sand, die sich bis zum strahlend blauen Horizont erstreckte und nur von stolz aufragenden Felsen durchbrochen wurde, uralten Formationen, die über zahllose Jahrtausende vom Wind geformt worden waren. Zerklüftete Wege ließen den Verlauf des längst verschwundenen Wadis erkennen, und in der Ferne waren dunkle Palmen auszumachen, die im Norden eine winzige Oase bildeten.
»Gott sei gepriesen«, flüsterte er und betrachtete ehrfürchtig die Schönheit und Erhabenheit der Welt unter sich. Nun verstand er, warum Lubayd und Aqisa ihn gedrängt hatten, an dieser tödlichsten aller Traditionen von Bir Nabat teilzunehmen. Ali mochte in Daevabad aufgewachsen sein, doch er hatte noch nie etwas derart Außergewöhnliches wie diesen Flug erlebt.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er die Oase, und seine Neugier nahm zu, als er schwarze Zelte und Bewegungen zwischen den fernen Bäumen ausmachen konnte. Möglicherweise handelte es sich um eine Gruppe von Nomaden – laut des seit Langem bestehenden Brauchs gehörte die Oase den Menschen, und die Dschinn aus Bir Nabat wagten es nicht, auch nur einen Becher Wasser aus den Quellen zu schöpfen.
Er beugte sich vor und drückte sich an den Hals der Kreatur, um mehr sehen zu können, woraufhin der Zahhak einen rauchigen Protestlaut von sich gab. Ali musste husten, und beim Geruch des Atems des Wesens drehte sich ihm der Magen um. Die Knorpel seiner gerösteten Beute hingen noch zwischen seinen fleckigen Fangzähnen, und obwohl man Ali vor dem Gestank gewarnt hatte, wurde ihm ein wenig schwindlig.
Der Zahhak schien ebenso wenig von seinem Passagier zu halten. Ohne Vorwarnung legte er sich in die Kurve, sodass sich Ali nur panisch festhalten konnte, bevor sie den Weg zurückflogen, den sie gekommen waren, und der Zahhak wie eine Sense durch die Luft schnitt.
Vor sich konnte Ali den Eingang von Bir Nabat erkennen: ein unheilvolles, leeres dunkles Tor, das direkt in die Klippen gebaut worden war. Im umgebenden Sandstein gab es einige grobe Steinmetzarbeiten: zerbröckelnde Adler, die auf dekorativen Säulen thronten, und das Muster einer steilen Treppe, die zum Himmel hinaufführte. Diese Verzierungen waren vor Äonen von den ersten menschlichen Siedlern geschaffen worden, die sich in Bir Nabat niedergelassen hatten, einer uralten Gruppe, deren Namen verloren gegangen war und deren verfallende Gebäude nun den Dschinn als Behausungen dienten.
Seine Gefährten befanden sich direkt unter ihm, wedelten mit den Armen und schlugen eine Metalltrommel, um den Zorn des Zahhak auf sich zu ziehen. Die Kreatur bewegte sich im Sturzflug auf sie zu und stieß einen lauten Schrei aus. Ali wappnete sich und wartete, bis der Zahhak seinen Freunden sehr nahe gekommen war und das Maul öffnete, um vor lauter Zorn eine Wolke scharlachroten Feuers auszuspeien, der sie nur knapp entgingen. Dann sprang er ab.
Kaum war er auf dem Boden aufgekommen, zerrte Aqisa ihn gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor der Zahhak auch schon die Stelle versengte, an der er eben gelandet war. Mit einem weiteren entrüsteten Schrei flog die Kreatur davon, die für den heutigen Tag ganz offensichtlich von den Dschinn die Nase voll hatte.
Lubayd zog Ali auf die Beine und klopfte ihm jauchzend auf den Rücken. »Ich habe doch gesagt, dass er es macht!« Er grinste Ali an. »Und, war es das Risiko wert?«
Zwar hatte Ali Schmerzen am ganzen Körper, doch er war viel zu begeistert, um sie zur Kenntnis zu nehmen. »Es war unglaublich!«, stieß er keuchend hervor und zog die Kufiya zur Seite, die ihm der Wind ins Gesicht gepeitscht hatte. »Und weißt du was? Da ist eine neue Gruppe von Menschen in der …«
Ein vielstimmiges Stöhnen ertönte, bevor er den Satz auch nur beenden konnte.
»Nein«, fiel Aqisa ein. »Ich werde nicht wieder mit dir Menschen ausspionieren. Du bist ja besessen.«
Doch Ali ließ sich nicht so leicht von seinem Vorhaben abbringen. »Wir könnten dadurch etwas Neues lernen! Erinnert ihr euch an das Dorf im Süden, das wir erkundet haben, und an die Sonnenuhr, mit der sie ihre Bewässerung gesteuert haben? Das war sehr hilfreich.«
Lubayd gab Ali seine Waffen zurück. »Ebenso gut ist mir im Gedächtnis geblieben, wie uns die Menschen verjagt haben, sobald sie erkannten, dass sie Besuch von ›Dämonen‹ hatten. Sie haben eine ganze Menge dieser explosiven Stock…dinger abgefeuert. Und ich möchte wirklich nicht herausfinden, ob sich in diesen Projektilen Eisen befindet.«
»Diese ›explosiven Stockdinger‹ nennt man Gewehre«, korrigierte Ali ihn. »Und euch allen mangelt es bedauerlicherweise an Abenteuerlust.«
Sie gingen den Felskamm hinunter, der zum Dorf führte. Der Sandstein war mit Zeichnungen übersät: den Buchstaben eines Alphabets, das Ali nicht lesen konnte, und sorgfältig ausgearbeiteten Bildern von längst verschwundenen Tieren. In einer hohen Ecke überragte ein gigantischer glatzköpfiger Mann einfache Strichfiguren und hatte stilisierte Flammen zwischen den Fingern. Die Dorf-Dschinn hielten ihn für einen ursprünglichen Daeva aus der Zeit, bevor Suleiman sie gesegnet hatte. Angesichts der wilden Augen und spitzen Zähne der Gestalt mussten sie die menschlichen Siedler terrorisiert haben.
Ali und seine Freunde gingen unter der Eingangsfassade hindurch, in deren Schatten zwei Dschinn Kaffee tranken und den Zugang anscheinend bewachten. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sich ein neugieriger Mensch zu nah heranwagte, konnten sie heftige Winde und blendende Sandstürme herbeirufen, um Fremde abzuschrecken.
Sie blickten auf, als Ali und seine Freunde vorbeikamen. »Hat er es geschafft?«, erkundigte sich eine der Wachen grinsend.
Lubayd legte Ali stolz einen Arm um die Schultern. »Man hätte glatt glauben können, er würde schon seit seiner Entwöhnung Zahhak reiten.«
»Es war unglaublich«, gab Ali zu.
Der andere Mann lachte. »Wir machen noch einen anständigen Nordling aus dir, Daevabadi.«
Ali erwiderte das Grinsen. »So Gott will.«
Sie durchquerten die dunkle Kammer und kamen an den leeren Gräbern der schon lange toten Menschenkönige und -königinnen vorbei, die einst hier geherrscht hatten – niemand wollte Ali genau sagen, wohin ihre Leichen verschwunden waren, und er war sich auch nicht sicher, ob er das wirklich wissen wollte. Direkt voraus befand sich eine flache Steinmauer. Einem beiläufigen – menschlichen – Betrachter wäre daran, abgesehen von dem leichten Glühen der seltsam warmen Oberfläche, nichts Bemerkenswertes aufgefallen.
Dabei war es eine Oberfläche, die Ali direkt ansprach, weil die Magie in tröstlichen Wellen vom Stein ausging. Er legte eine Handfläche an die Mauer. »Pataru sawassam«, befahl er auf Geziriyya.
Die Mauer löste sich auf, und das üppige Grün von Bir Nabat erschien. Ali hielt inne und nahm sich einen Moment, um die noch sehr neue fruchtbare Schönheit des Ortes zu bewundern, den er seit fünf Jahren als sein Zuhause bezeichnete. Es war ein faszinierender Anblick, der sich drastisch von der von der Hungersnot gepeinigten Hülle unterschied, die ihn bei seiner Ankunft erwartet hatte. Obwohl Bir Nabat zur Zeit der Gründung offenbar ein grünes Paradies gewesen war – die Überreste von Wasserauffangbecken und Aquädukten sowie die Größe und Kunstfertigkeit der von den Menschen geschaffenen Tempel ließen auf eine Zeit mit mehr Regen und einer florierenden Bevölkerung schließen –, hatten die Dschinn, die später hier eingezogen waren, nie ein derartiges Bevölkerungswachstum erreicht. Dennoch hatten über Jahrhunderte die wenigen verbliebenen Quellen und ihre gelegentlichen Plünderungen zur Versorgung ausgereicht.
Bei Alis Eintreffen waren die Quellen jedoch so gut wie versiegt gewesen. Bir Nabat war zu einem trostlosen Ort geworden, in dem man sogar wagte, dem König zu trotzen und den seltsamen jungen Prinzen aufzunehmen, der sterbend in einer Felsspalte in der Nähe gefunden worden war. An diesem Ort war man bereit, die Tatsache zu ignorieren, dass seine Augen hin und wieder wie nasser Teer glänzten, wenn er sich aufregte, und dass seine Gliedmaßen mit Narben bedeckt waren, die keine Klinge zu durchdringen vermochte. All das war für die Geziri in Bir Nabat ohne Bedeutung. Allein die Tatsache, dass Ali vier neue Quellen und zwei ungenutzte Zisternen entdeckt hatte, sodass Bir Nabat über Jahrhunderte Wasser haben würde, zählte hier. Nun grenzten kleine, aber fruchtbare Felder, auf denen Gerste oder Melonen angebaut wurde, an neue Häuser, und immer mehr Einwohner beschlossen, die Zelte aus Rauch und Oryxhaut durch Gebäude aus abgebautem Stein und sandgestrahltem Glas zu ersetzen. Die Dattelpalmen waren gesund, dick und ragten zum Himmel empor, um kühlen Schatten zu spenden. In der Ostecke des Dorfes war ein Obstgarten entstanden: Ein Dutzend Feigensetzlinge wuchsen zwischen Zitronenbäumen heran und waren sorgfältig umzäunt worden, damit die gedeihende Ziegenbevölkerung von Bir Nabat sich nicht daran gütlich tat.
Sie kamen am kleinen Dorfmarkt vorbei, der im Schatten des riesigen alten, in die Felswand gehauenen Tempels lag, dessen sorgfältig mit Schnitzereien verzierte Säulen und Pavillons von magischen Gütern praktisch überquollen. Ali erwiderte lächelnd das Nicken und die Salaams der zahlreichen Dschinn-Händler, und eine tiefe Ruhe überkam ihn.
Eine Händlerin trat ihm unverhofft in den Weg. »Ah, Scheich, ich habe Euch gesucht.«
Ali blinzelte und wurde aus seiner euphorischen Benommenheit gerissen. Es war Reem, eine Frau aus einer der Familien aus der Kunsthandwerkerkaste.
Sie wedelte mit einer Schriftrolle vor seiner Nase herum. »Ihr müsst Euch diesen Vertrag ansehen. Ich sage Euch … dieser durchtriebene südländische Sklave aus Bilqis will mich übers Ohr hauen. Meine Zauber sind unvergleichlich, und ich weiß, dass ich für die Körbe, die ich ihm verkauft habe, einen höheren Ertrag erzielen müsste.«
»Ihr wisst schon, dass ich ebenfalls einer dieser durchtriebenen Südländer bin?«, merkte Ali an. Die Qahtani stammten ursprünglich von der bergigen Südküste von Am Gezira und waren recht stolze Nachfahren der Dschinn-Diener, die Suleiman einst Bilqis, der Menschenkönigin des einstigen Saba, geschenkt hatte.
Reem schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein Daevabadi. Das zählt nicht.« Sie hielt inne. »Eigentlich ist das sogar noch schlimmer.«
Seufzend nahm Ali den Vertrag entgegen; nachdem er an diesem Vormittag einen neuen Kanal ausgehoben hatte und am Nachmittag von dem Zahhak herumgeschleudert worden war, sehnte er sich so langsam nach seinem Bett. »Ich werde einen Blick darauf werfen.«
»Gott segne Euch, Scheich.« Reem wandte sich ab.
Ali ging zusammen mit seinen Freunden weiter, doch sie kamen nicht weit, da kurz darauf der Muezzin von Bir Nabat auf sie zugeeilt kam.
»Bruder Alizayd, Friede und Segen sei mit Euch!« Der Blick des Muezzins huschte über Ali hinweg. »Ach, Ihr seht ja aus, als könntet Ihr Euch vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.«
»Ja, ich wollte gerade …«
»Aber natürlich wolltet Ihr das. Was ich Euch fragen wollte …« Der Muezzin senkte die Stimme. »Könnt Ihr morgen vielleicht die Chutba halten? Scheich Jiyad fühlt sich nicht besonders.«
»Ist es nicht üblicherweise Bruder Thabits Aufgabe, die Predigt anstelle seines Vaters zu halten?«
»Durchaus, aber …« Der Muezzin sprach noch leiser. »Ich ertrage keine weitere seiner Schimpftiraden, Bruder. Das halte ich nicht aus. Als er das letzte Mal die Chutba gehalten hat, sprach er die ganze Zeit davon, dass die Lautenmusik die jungen Leute vom Gebet abhalten würde.«
Abermals seufzte Ali. Er kam auch nicht gerade gut mit Thabit aus, vor allem, weil dieser jeglichen Klatsch und Tratsch aus Daevabad glaubte und jedem, der ihm ein Ohr schenkte, auftischte, Ali wäre ein ehebrüchiger Lügner, der zu ihnen geschickt worden sei, um sie durch die »Stadtsitten« zu verderben. »Er wird nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass Ihr mich darum gebeten habt.«
Aqisa schnaubte. »Da irrst du dich, denn so hat er etwas Neues, worüber er sich beschweren kann.«
»Und die Leute mögen Eure Predigten«, fügte der Muezzin schnell hinzu. »Ihr wählt stets sehr schöne Themen aus.« Seine Stimme bekam einen listigen Unterton. »Das ist gut für ihren Glauben.«
Der Mann wusste, wie er ihn überzeugen konnte, das musste Ali ihm lassen, »Na gut«, brummte er. »Ich werde es tun.«
Der Muezzin drückte seine Schulter. »Danke.«
»Du kümmerst dich um Thabit, sobald er davon erfährt«, meinte Ali an Aqisa gewandt und taumelte fast schon den Weg entlang. Sie hatten sein Heim fast erreicht. »Du weißt, wie sehr er es verabscheut …« Ali hielt inne.
Zwei Frauen warteten vor seinem Zelt auf ihn.
»Schwestern!«, begrüßte er sie und zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn er innerlich fluchte. »Friede sei mit Euch.«
»Und mit Euch.« Umm Qays, eine der Steinmagierinnen des Dorfes, ergriff als Erste das Wort und schenkte Ali ein breites, seltsam mehrdeutiges Grinsen. »Wie geht es Euch heute?«
Ich bin so müde. »Gut, Gott sei’s gedankt«, antwortete Ali. »Und Euch?«
»Gut. Es geht uns gut«, erwiderte Bushra, Umm Qays’ Tochter, sofort. Sie wich Alis Blick aus, und ihre geröteten Wangen verrieten ihre Verlegenheit. »Wir kamen zufällig vorbei!«
»Unsinn.« Umm Qays zog ihre Tochter an sich, und die junge Frau kreischte erschrocken auf. »Meine Bushra hat vorhin ein köstliches Kabsa zubereitet … Sie ist eine außergewöhnlich begabte Köchin, müsst Ihr wissen, und kann aus einigen wenigen Knochen und ein paar Gewürzen ein Festmahl zaubern … Jedenfalls war ihr erster Gedanke, eine Portion für unseren Prinzen aufzubewahren.« Sie strahlte Ali an. »Ist sie nicht ein braves Mädchen?«
Ali blinzelte und staunte ein wenig über Umm Qays’ Enthusiasmus. »Äh … Vielen Dank«, murmelte er und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sich Lubayd den Mund zuhielt und seine Augen vergnügt funkelten. »Ich weiß das sehr zu schätzen.«
Umm Qays warf einen Blick in sein Zelt und machte ein missbilligendes Geräusch. »Wie einsam es hier ist, Alizayd al Qahtani. Ihr seid ein großer Mann und solltet ein anständiges Haus in den Klippen haben und jemanden, der sich um Euch kümmert.«
Gott steh mir bei. Nicht das schon wieder! Er stammelte eine Erwiderung. »Ich … ich danke Euch für Eure Besorgnis, aber ich bin wirklich sehr zufrieden. Mit meiner Einsamkeit.«
»Aber Ihr seid ein junger Mann.« Umm Qays schlug ihm auf die Schulter und drückte seinen Oberarm, wobei sie ihn erstaunt ansah. »Grundgütiger … Gott sei dafür gepriesen«, sagte sie bewundernd. »Ihr müsst doch gewiss Bedürfnisse haben, mein Guter. Das ist nur natürlich.«
Alis Wangen brannten – und das Ganze wurde noch schlimmer, als er merkte, dass Bushra ihn ansah. In ihrem Blick lag ein Hauch von Bewunderung, bei dem ihm ganz komisch im Bauch wurde – was durchaus nicht unangenehm war. »Ich …«
Zum Glück schritt Lubayd nun ein. »Das ist sehr freundlich von Euch, Schwestern.« Er nahm ihnen den Teller ab. »Wir werden dafür sorgen, dass er es zu schätzen weiß.«
Aqisa nickte, und in ihren Augen funkelte es. »Es riecht köstlich.«
Umm Qays schien zu merken, dass sie vorübergehend geschlagen war, und wackelte mit einem Finger vor Alis Nase herum. »Eines Tages.« Sie deutete im Gehen in sein Zelt. »Übrigens kam vorhin ein Bote mit einem Paket von Eurer Schwester.«
Die Frauen waren kaum außer Hörweite, als Lubayd und Aqisa schallend loslachten.
»Lasst das!«, zischte Ali. »Das ist nicht witzig.«
»Doch, das ist es«, konterte Aqisa mit bebenden Schultern. »Ich könnte mir das noch Dutzende Male ansehen.«
Lubayd johlte. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ihm Sadaf letzte Woche eine Decke brachte, weil sie meinte, sein Bett müsste ›aufgewärmt‹ werden.«
»Das reicht.« Ali streckte eine Hand nach dem Teller aus. »Her damit.«
Lubayd wich ihm aus. »Oh nein, das ist meine Belohnung dafür, dass ich dich gerettet habe.« Er hielt den Teller hoch und schloss die Augen, während er tief einatmete. »Vielleicht solltest du sie heiraten. Dann könnte ich mich immer selbst bei euch zum Essen einladen.«
»Ich werde niemanden heiraten«, entgegnete Ali mit schneidender Stimme. »Das wäre viel zu gefährlich.«
Aqisa verdrehte die Augen. »Du übertreibst. Es ist ein Jahr her, dass ich dich zuletzt vor einem Attentäter gerettet habe.«
»Jedenfalls vor einem, der nahe genug herankam, um das hier zu bewerkstelligen«, widersprach Ali und drehte den Hals, um die schwache perlmuttfarbene Narbe zu enthüllen, die direkt unter seinem Bartansatz an seiner Kehle verlief.
Lubayd winkte ab. »Nachdem er das getan hatte, wurde er von seinem eigenen Clan gefangen und ausgeweidet, der seine Leiche für den Zahhak liegen ließ.« Er warf Ali einen vielsagenden Blick zu. »Nur sehr wenige Attentäter sind so töricht, dem Mann etwas antun zu wollen, der für die Wasserversorgung des halben Nordens von Am Gezira verantwortlich ist. Du solltest dir hier wirklich ein Leben aufbauen. Eine Ehe würde deine Laune bestimmt deutlich verbessern.«
»Oh, ganz zweifellos«, stimmte Aqisa ihm zu. Lubayd und sie grinsten einander verschwörerisch an. »Jammerschade, dass es hier in Bir Nabat niemanden gibt, der ihm gefällt …«
»Du meinst jemanden mit schwarzen Augen und der Gabe der Heilung?« Lubayd lachte los, als Ali ihn wütend anstarrte.
»Ihr wisst, dass an diesen blödsinnigen Gerüchten nichts dran ist«, fauchte Ali. »Die Banu Nahida und ich waren bloß Freunde, und sie ist mit meinem Bruder verheiratet.«
Lubayd zuckte mit den Achseln. »Ich finde die blödsinnigen Gerüchte sehr erquicklich. Kannst du es den Leuten verdenken, dass sie aufregende Geschichten rund um das erfinden, was euch allen zugestoßen ist?« Seine Stimme bekam einen dramatischen Unterton. »Eine geheimnisvolle Nahid-Schönheit, die im Palast eingesperrt ist, ein böser Afshin, der sie in den Ruin zu treiben versucht, und ein reizbarer Prinz, den man in das Land seiner Vorväter verbannt …«
Ali riss der Geduldsfaden, und er griff nach der Zeltklappe. »Ich bin nicht reizbar. Und du bist doch derjenige, der sich diese Geschichten ausdenkt!«
Daraufhin lachte Lubayd nur erneut auf. »Geh hinein und sieh dir an, was dir deine Schwester geschickt hat.« Er musterte Aqisa und hielt den Teller hoch. »Hast du Hunger?«
»Oh ja.«
Kopfschüttelnd streifte sich Ali die Sandalen ab, duckte sich und betrat sein Zelt. Es war klein, aber gemütlich, und bot genug Platz für die Matratze, die einer von Lubayds Cousins freundlicherweise an Alis »groteske« Körpergröße angepasst hatte. Tatsächlich hatte er alles, was sich im Zelt befand, geschenkt bekommen. Er war nur mit seinen Waffen und der blutbedeckten Dishdasha in Bir Nabat eingetroffen, und seine Habseligkeiten spiegelten die hier verbrachten Jahre wider: die Ersatzrobe und die Sandalen waren das Erste, was er aus einer verlassenen Menschenkarawane geplündert hatte, den Koran hatte Scheich Jiyad ihm überlassen, als Ali seine Lehrtätigkeit aufgenommen hatte, und auf den vielen Seiten mit Notizen und Zeichnungen hatte er seine Beobachtungen zu den verschiedenen Bewässerungsanlagen festgehalten.
Sein Blick fiel auf etwas Neues: eine versiegelte Kupferröhre, die in etwa so lang wie sein Unterarm und so breit wie eine Faust war und auf seinem ordentlich gemachten Bett ruhte. Ein Ende war in pechschwarzes Wachs getaucht, und eine bekannte Signatur prangte auf dem Rand.
Lächelnd griff Ali danach, zog das Wachs herunter und enthüllte das klingenscharfe Muster, das es geschützt hatte. Dabei handelte es sich um ein Blutsiegel, das nur ein Blutsverwandter von Zaynab zu öffnen vermochte. Besser konnten sie ihre Privatsphäre nicht schützen … nicht, dass es von Bedeutung war. Bei dem Mann, der ihre Kommunikation höchstwahrscheinlich abfing, handelte es sich um ihren eigenen Vater, und er konnte problemlos sein Blut benutzen, um ihre Nachrichten zu lesen. Was er vermutlich auch tat.
Ali drückte seinen Arm gegen den Rand. Die Oberseite der Röhre löste sich in Rauch auf, kaum dass die Klingen ihn verletzt hatten, und Ali schüttete den Inhalt auf sein Kissen.
Ein Goldbarren, ein Kupferarmband und ein Brief auf mehreren Seiten. An dem Armband befand sich eine kurze, in Zaynabs Handschrift verfasste Notiz.
Gegen deine Kopfschmerzen, über die du dich ständig beschwerst. Pass gut darauf auf, kleiner Bruder. Die Nahid hat dafür einen horrenden Preis verlangt.
Ali berührte das Armband und betrachtete den Goldbarren und den Brief. Möge Gott dich beschützen, Zaynab. Bir Nabat mochte sich langsam erholen, doch das Leben hier war noch immer sehr rau, und mit diesem Gold konnte er einiges anfangen. Er konnte nur hoffen, dass seine Schwester deswegen keine Schwierigkeiten bekam. Obwohl er ihr schon mehrfach geschrieben hatte, um sie davor zu warnen, ihm Dinge zu schicken, ignorierte sie ihn und seinen Rat ebenso wie den inoffiziellen Erlass ihres Vaters, dass kein Geziri ihm helfen dürfe. Zaynab war vermutlich die Einzige, die damit durchkam; Ghassan hatte schon immer eine Schwäche für seine Tochter gehabt.
Er ließ sich auf die Matratze fallen und legte sich auf den Bauch, um den Brief zu lesen. Zaynabs vertraute Schrift und ihre bissigen Bemerkungen weckten ein Gefühl in ihm wie eine herzliche Umarmung. Er vermisste seine Schwester sehr; er war früher zu jung und selbstgerecht gewesen, um ihre Beziehung zu schätzen zu wissen, und nun, wo er es tat, musste er sich mit einem gelegentlichen Brief zufriedengeben. Ali würde Zaynab nie wiedersehen. Er würde nie wieder an einem sonnigen Tag am Kanal sitzen, um mit ihr einen Kaffee zu trinken und den Familienklatsch auszutauschen, ebenso wenig konnte er stolz an ihrer Seite sein, wenn sie den Bund der Ehe einging. Auch ihre zukünftigen Kinder würde er nie kennenlernen, all die Nichten und Neffen, die er in einem anderen Leben verwöhnt und denen er das Kämpfen beigebracht hätte.
Allerdings hätte es auch schlimmer enden können, wie er ganz genau wusste. Ali dankte Gott jeden Tag dafür, dass er bei den Dschinn von Bir Nabat gelandet war und nicht in den Händen Dutzender anderer, die seitdem versucht hatten, ihn zu ermorden. Aber die Sehnsucht beim Gedanken an seine Familie wollte einfach nicht vergehen.
Dann solltest du dir hier vielleicht wirklich eine neue aufbauen. Ali drehte sich auf den Rücken und genoss die Wärme der Sonne, die auf sein Zelt schien. In der Ferne konnte er lachende Kinder und zirpende Vögel hören. Bushras stilles Interesse ging ihm abermals durch den Kopf, und als er so allein in seinem Zelt lag, konnte Ali nicht leugnen, dass ihn dabei leichte Aufregung durchströmte. Daevabad schien unendlich weit weg zu sein, und es sah ganz danach aus, als wäre sein Vater zufrieden damit, ihn zu vergessen. Wäre es denn so schlimm, sich hier dauerhaft niederzulassen und sich still und leise ein Leben zu gönnen, das ihm als Muntadhirs Qaid nie vergönnt gewesen wäre?
Furcht überkam ihn. Ja, schien sie zu antworten, während sie die einfachen Fantasien verschlang, die ihm durch den Kopf gingen. Denn Ali hatte die Erfahrung machen müssen, dass der Traum von einer besseren Zukunft nur zu Leid und Verderben führte.