Читать книгу Das Königreich aus Kupfer - Daevabad Band 2 - S. A. Chakraborty - Страница 11
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NAHRI
Es war offensichtlich, dass ihre Daeva-Ältesten Nahris Begeisterung für das Nahid-Krankenhaus nicht teilten.
Nisreen starrte sie an. »Du bist deinen Wachen entwischt? Schon wieder? Hast du auch nur eine Ahnung, was Ghassan tun wird, wenn er das herausfindet?«
»Zaynab hat mich dazu überredet!«, verteidigte sich Nahri. Dann wurde ihr bewusst, dass es recht undankbar war, ihrer Schwägerin die Schuld an einem Ausflug zu geben, den sie durchaus genossen hatte, daher fügte sie rasch hinzu: »Sie sagte, sie würde solche Spaziergänge häufiger machen und wäre noch nie erwischt worden. Außerdem hat sie versprochen, notfalls die Schuld auf sich zu nehmen.«
Kartir wirkte richtiggehend alarmiert. Normalerweise zeigte der Hohepriester in Bezug auf Nahris … unorthodoxe Gepflogenheiten Nachsicht, doch dieses neueste Malheur schien ihn zu erschüttern. »Und Ihr vertraut ihr?«, fragte er und zog besorgt die Augenbrauen zusammen.
»In dieser Hinsicht schon.« Nahris Beziehung zu ihrer Schwägerin war nicht immer einfach, aber sie erkannte in ihr eine Frau, die jedes bisschen Freiheit, die sich ihr bot, zu nutzen versuchte. »Muss denn immer gleich alles beunruhigend sein? Das ist doch großartig! Könnt ihr euch das vorstellen? Ein Nahid-Krankenhaus?«
Kartir und Nisreen tauschten einen Blick. Er war nur kurz, doch die schuldbewusste Röte, die sich auf den Wangen des Priesters abzeichnete, ließ sich nicht leugnen.
Augenblicklich war Nahris Misstrauen geweckt. »Ihr wusstet längst von diesem Ort? Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?«
Kartir seufzte. »Weil es weder angenehm noch klug ist, über das zu sprechen, was sich in diesem Krankenhaus abgespielt hat. Ich bezweifle, dass außer dem König und einigen ergebenen Daevabadi-Historikern noch jemand etwas darüber weiß.«
Bei diesen vagen Worten runzelte Nahri die Stirn. »Wieso wisst ihr dann davon?«
»Banu Manizheh hat uns eingeweiht. Sie blätterte ständig in den alten Büchern ihrer Familie und erfuhr so von seiner Existenz und seinem Schicksal«, antwortete Nisreen leise.
»Was meinst du mit ›seinem Schicksal‹?« Als keiner der beiden antwortete, riss Nahri der Geduldsfaden. »Bei Suleimans Auge, muss denn hier alles ein Geheimnis sein? Ich habe in fünf Minuten mehr von Razu erfahren als von euch beiden in fünf Jahren!«
»Von Razu? Baga Rustams Razu?« Erleichterung stand in Kartirs Miene. »Dem Schöpfer sei Dank. Ich hatte das Schlimmste befürchtet, als ihre Taverne niedergebrannt ist.«
Nahri empfand Mitleid mit der freundlichen Spielerin, die sie derart herzlich begrüßt hatte. »Ich bin die Banu Nahida und sollte es wissen, wenn jemand Jagd auf Ifrit-Sklaven macht.«
Abermals tauschten Nisreen und Kartir einen Blick. »Wir hielten es für das Beste«, erklärte Nisreen schließlich. »Du warst noch in tiefer Trauer wegen Dara, und ich wollte dich nicht mit dem Schicksal seiner Leidensgenossen belasten.«
Bei der Erwähnung von Daras Namen zuckte Nahri zusammen; sie konnte nicht leugnen, dass sie in den Wochen nach seinem Tod am Boden zerstört gewesen war. »Trotzdem war es keine Entscheidung, die ihr für mich treffen durftet.« Sie musterte die beiden. »Ich kann nicht im Tempel und in der Krankenstube als die Banu Nahida auftreten, um mich dann wie ein Kind behandeln zu lassen, wenn es um politische Angelegenheiten geht, die mich eurer Meinung nach aufregen könnten.«
»Politische Angelegenheiten, die dich unserer Meinung nach das Leben kosten könnten«, korrigierte Nisreen sie unverblümt. »Im Tempel und in der Krankenstube ist kein Platz für Fehler.«
»Und was ist mit dem Krankenhaus?«, hakte Nahri nach. »Welchen politischen Grund könnte es dafür geben, dass ihr mir seine Existenz verschwiegen habt?«
Kartir blickte auf seine Hände hinab. »Seine Existenz ist nicht das Problem, Banu Nahida, sondern das, was dort während des Krieges geschehen ist.«
Als er erneut in Schweigen verfiel, kam Nahri ein Gedanke. »Wenn ihr mir keine bessere Erklärung geben könnt, dann sehe ich mich gezwungen, einen Weg zu finden, um dorthin zurückzukehren. Einer der befreiten Dschinn war Historiker und kann mir gewiss mehr darüber erzählen.«
»Auf gar keinen Fall!«, protestierte Nisreen sofort und seufzte schwer und resigniert. »Das Krankenhaus fiel als Erstes, als Zaydi al Qahtani Daevabad einnahm. Die Nahid, die sich dort aufhielten, bekamen nicht einmal mehr die Gelegenheit, zum Palast zu fliehen. Die Shafit rebellierten in dem Augenblick, in dem Zaydis Armee die Stadtmauern durchbrach. Sie stürmten das Krankenhaus und ermordeten alle Nahid darin. Einfach alle, Banu Nahida. Vom ältesten Apotheker bis hin zu Lehrlingen, die fast noch Kinder waren.«
Während Kartir mit ernster Stimme das Wort ergriff, wurden Nahris Wangen immer blasser. »Es soll äußerst brutal gewesen sein. Die Geziri hatten natürlich ihre Zulfiqare, aber die Shafit kämpften mit Rumi-Feuer.«
»Rumi-Feuer?«, wiederholte Nahri. Der Begriff kam ihr erschreckend vertraut vor.
»Das ist eine Erfindung der Menschen«, erklärte Nisreen. »Eine Substanz, die wie Teer klebt und sogar die Haut von Daeva verbrennt. ›Feuer für die Feueranbeter‹, sollen die Shafit gerufen haben.« Sie senkte den Blick und sah aus, als wäre ihr speiübel. »Einige verwenden es noch immer. So haben die Dschinn-Diebe meine Eltern ermordet, als sie den Tempel unserer Familie in Brand steckten.«
Unverhofft überkamen Nahri schreckliche Schuldgefühle. »Oh, Nisreen, das tut mir so leid. Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Es ist nicht deine Schuld«, erwiderte Nisreen. »Ich vermute sogar, dass im Nahid-Krankenhaus noch sehr viel schlimmere Dinge passiert sind. Ich habe nicht wie Banu Manizheh die Berichte gelesen, doch nachdem sie das getan hatte, sprach sie über Wochen so gut wie kein Wort.«
»Es gab Hinweise darauf, dass es sich um einen Racheakt handeltete«, gab Kartir zaghaft zu bedenken. »Die viele Gewalt … Das schien alles Absicht zu sein.«
Nisreen schnaufte. »Die Dschinn brauchen keinen Grund, um zu Gewalt zu greifen. Das liegt in ihrer Natur.«
Der Priester schüttelte den Kopf. »Wir sollten nicht so tun, als hätte unser Stamm kein Blut an den Händen, werte Nisreen. Das ist nicht die Lektion, die ich der jungen Nahid mit auf den Weg geben möchte.« Sein Gesicht überschattete sich. »Banu Manizheh war einst dieser Überzeugung, und das war nicht gut für ihre Seele.«
Nisreen kniff die Augen zusammen. »Sie hatte einen guten Grund dafür, wie Ihr ganz genau wisst.«
Es klopfte an der Tür, und Nisreen verstummte. Auch wenn sie sich im Tempel aufhielten, mussten sie vorsichtig sein, wenn sie in Daevabad schlecht über die Qahtanis redeten.
Aber der Mann, der hereinschaute, war alles andere als ein Spion. »Banu Nahida?« Jamshid legte respektvoll die Fingerspitzen aneinander. »Entschuldigt die Störung, doch der Palast hat Euch eine Sänfte geschickt.«
Nahri runzelte die Stirn. »Der Schöpfer bewahre uns davor, dass ich auch nur einen Augenblick länger als gestattet in meinem eigenen Tempel verbringe.« Sie erhob sich und sah Nisreen an. »Kommst du?«
Nisreen schüttelte den Kopf. »Ich habe hier noch etwas zu erledigen.« Sie blickte Nahri ernst an. »Bitte widersteh dem Drang, einen weiteren Abstecher zu machen. Ich flehe dich an.«
Nahri verdrehte die Augen. »Vermutlich wäre nicht einmal meine eigene Mutter so kontrollsüchtig, wie du es bist.«
Nisreen berührte im Vorbeigehen Nahris Handgelenk, was im Tempel eigentlich verboten war, und musterte sie sanft. »Aber sie ist nicht hier, Kind, daher liegt es an uns, dich zu beschützen.«
Die aufrichtige Sorge in ihren Augen ließ Nahris Verärgerung verpuffen. Trotz ihrer vielen Streitereien war Nisreen für Nahri in Daevabad zu so etwas wie einem Familienmitglied geworden, und sie wusste, dass ihrer Mentorin sehr viel an ihr lag. »Na gut«, brummelte sie und legte segnend die Hände zusammen. »Mögen die Feuer für euch beide hell brennen.«
»Und für Euch, Banu Nahida«, erwiderten sie.
»Einen Abstecher?«, wiederholte Jamshid, kaum dass die Tür zugefallen war. »Ihr seht aus wie jemand, der gerade eine Standpauke bekommen hat.«
»Eine neue, schaurige Lektion aus der Geschichte von Daevabad.« Nahri schnitt eine Grimasse. »Nur ein einziges Mal würde ich gern von einem Ereignis hören, bei dem es nur darum ging, dass unsere Vorfahren Regenbögen heraufbeschworen und zusammen auf den Straßen getanzt haben.«
»Es ist deutlich schwieriger, jemandem schöne Tage nachzutragen.«
Nahri rümpfte die Nase. »Stimmt.« Sie schob jegliche Gedanken an das Krankenhaus beiseite und drehte sich zu ihm um. Im schwach beleuchteten Korridor traten die Schatten unter Jamshids Augen deutlich hervor, und seine Wangenknochen und Nase wirkten noch markanter. Fünf Jahre nach Daras Angriff, der ihn beinahe umgebracht hatte, erholte sich Jamshid noch immer davon – derart entsetzlich langsam, dass es einfach unbegreiflich war. Er erinnerte kaum noch an den gesunden Bogenschützen, den Nahri erstmals gesehen hatte, als er geschickt Pfeile vom Rücken eines angreifenden Elefanten abschoss. »Wie fühlt Ihr Euch?«
»Als würdet Ihr mir jeden Tag dieselbe Frage stellen und stets dieselbe Antwort erhalten.«
»Ich bin Eure Banu Nahida«, sagte sie, als sie in die große Gebetshalle des Tempels hinaustraten. Dieser Raum war gewaltig und bot mehreren Tausend Gläubigen Platz. Reihen mit verzierten Säulen stützten die hohe Decke, und Schreine der wichtigsten Persönlichkeiten aus der langen Stammesgeschichte säumten die Wände. »Das ist meine Pflicht.«
»Es geht mir gut«, versicherte er ihr und blieb stehen, um das rege Treiben im Tempel zu betrachten. »Heute ist hier ziemlich viel los.«
Nahri folgte seinem Blick. Der Tempel war in der Tat gut besucht, und es hatte ganz den Anschein, als handle es sich beim Großteil der Gläubigen um Reisende: Asketen in abgenutzten Roben und Pilgerfamilien mit weit aufgerissenen Augen wetteiferten mit dem üblichen Daevabadi-Klüngel um den Platz.
»Euer Vater hatte recht mit seiner Vermutung, dass die Leute schon Monate vor Navasatem hier eintreffen würden.«
Jamshid nickte. »Das ist unser wichtigster Feiertag. Ein weiteres Jahrhundert der Freiheit von Suleimans Knechtschaft … Ein Monat, in dem wir das Leben feiern und unsere Ahnen ehren.«
»Das ist nur eine Ausrede, um einzukaufen und zu trinken.«
»Es ist eine Ausrede, um einzukaufen und zu trinken«, stimmte Jamshid ihr zu. »Aber es soll ein außergewöhnliches Spektakel sein. Es finden Wettbewerbe und alle möglichen Feierlichkeiten statt, und Händler schaffen die neuesten und aufregendsten Waren aus der ganzen Welt herbei. Dazu Paraden, Feuerwerk …«
Nahri stöhnte. »Die Krankenstube wird überquellen.« Die Dschinn nahmen das Feiern sehr ernst, ganz im Gegensatz zu den Risiken, die mit der Völlerei einhergingen. »Wird Euer Vater bis dahin wieder zurück sein?« Kaveh war vor Kurzem zum Ahnensitz der Pramukh nach Zariaspa gereist und hatte über einen Gewerkschaftsstreit unter seinen Kräuterbauern und eine besonders hartnäckige Plage ausgehungerter Frösche in den Silberminzepflanzen geschimpft.
»Ganz gewiss«, antwortete Jamshid. »Er will dem König sicher bei den letzten Vorbereitungen helfen.«
Sie setzten ihren Weg fort, der sie am gewaltigen Feueraltar vorbeiführte. Dieser war wunderschön, und Nahri verharrte jedes Mal kurz, um ihn zu bewundern, selbst wenn sie keine Zeremonie abhalten musste. Diese beeindruckenden Altäre spielten im Glauben der Daeva eine zentrale Rolle, die über die Jahrhunderte erhalten geblieben war, und bestanden aus einem Becken mit gereinigtem Wasser, in dessen Mitte so etwas wie eine Feuerschale aufragte. Darin brannte Zedernholz, das nur beim Tod eines Gläubigen gelöscht wurde. Jeden Tag beim Anbruch der Dämmerung wurde die Asche aus der Schale entfernt, um die Rückkehr der Sonne zu symbolisieren, und die gläsernen Öllampen, die im Becken schwammen, wurden wieder angezündet und sorgten dafür, dass das Wasser unablässig simmerte.
Eine lange Reihe von Gläubigen wartete darauf, den Segen des Priesters zu erhalten. Nahri erhaschte den Blick eines kleinen Mädchens in einem gelben Filzkleid, das neben seinem Vater herumzappelte. Sie zwinkerte der Kleinen zu, die daraufhin strahlte und aufgeregt an der Hand ihres Vaters zerrte, während sie auf Nahri zeigte.
Jamshid, der neben Nahri lief, geriet ins Taumeln und zischte vor Schmerz, ließ jedoch nicht zu, dass Nahri seinen Arm nehmen konnte.
»Ich schaffe das«, beharrte er und stützte sich auf seinen Gehstock. »Hoffentlich ist bis Navasatem wenigstens das vorbei.«
»Ein bewundernswertes Ziel«, sagte Nahri sanft. Doch als sie seine entschlossene Miene musterte, machte sie sich Sorgen. »Aber Ihr dürft Euch nicht überanstrengen. Euer Körper braucht Zeit zum Heilen.«
Jamshid verzog das Gesicht. »Verflucht zu sein hat offenbar einige Nachteile.«
Sie blieb plötzlich stehen und drehte sich zu ihm um. »Ihr wurdet nicht verflucht.«
»Habt Ihr eine bessere Erklärung dafür, warum mein Körper so schlecht auf die Nahid-Heilung reagiert?«
Nein. Nahri biss sich auf die Unterlippe. Ihre Fähigkeiten hatten sich enorm weiterentwickelt, doch es machte ihr schwer zu schaffen, dass es ihr einfach nicht gelingen wollte, Jamshid zu heilen. »Jamshid … Das ist alles noch sehr neu für mich, und Nisreen ist keine Nahid. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass es einen magischen oder medizinischen Grund für Eure langsame Genesung gibt. Dafür könnt Ihr mich verantwortlich machen«, fügte sie hinzu, »aber nicht Euch selbst.«
»Das würde ich niemals wagen.« Sie näherten sich nun den Schreinen entlang der Tempelmauer. »Aber wo wir gerade dabei sind … Ich würde es gern ein weiteres Mal versuchen.«
»Seid Ihr sicher? Bei unserer letzten Sitzung …« Nahri sprach nicht weiter, da ihr kein diplomatischer Weg einfallen wollte, um darauf hinzuweisen, dass er bei der letzten Heilung kaum fünf Minuten durchgehalten hatte, bevor er sich vor Schmerzen schreiend die Haut vom Leib kratzen wollte.
»Ja, ich weiß.« Er wandte den Blick ab, als würde er versuchen, sich ebenso die Hoffnung wie die Verzweiflung nicht anmerken zu lassen; anders als viele in Daevabad hatte Jamshid auf Nahri nie wie ein guter Lügner gewirkt. »Aber ich würde es gern noch einmal versuchen.« Er senkte die Stimme. »Der Emir … Sein Vater hat ihn gezwungen, einen neuen Hauptmann für seine Leibwache zu bestimmen.«
»Oh, Jamshid, das ist nur eine Position«, meinte Nahri. »Ihr wisst doch, dass Ihr trotzdem Muntadhirs engster Gefährte seid. Er ist stets voll des Lobes über Euch.«
Jamshid schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich sollte ihn beschützen.«
»Ihr wärt beinahe gestorben, als Ihr ihn beschützt habt.«
In diesem ungünstigen Augenblick tauchte Daras Schrein vor ihnen auf, und Nahri spürte, wie sich Jamshid verspannte. Dieser Schrein war einer der beliebtesten; Rosen schmückten die Messingstatue des berittenen Daeva-Kriegers, der stolz in den Steigbügeln stand und den Anschein erweckte, er würde mit einem Pfeil auf seine Anhänger zielen, und Opfergaben lagen rings um den Fuß der Statue herum. Im Tempel waren keine Klingen gestattet, daher hatte man stattdessen kleine Keramikscheiben abgelegt, auf denen die verschiedensten zeremoniellen Waffen – vor allem jedoch Pfeile – abgebildet waren.
Ein riesiger Silberbogen hing hinter der Statue an der Wand, und als Nahri ihn betrachtete, schnürte es ihr die Kehle zu. Sie hatte sehr viel Zeit damit verbracht, diesen Bogen anzusehen, allerdings nie in der Gesellschaft eines Mannes – eines Freundes –, der jedes Recht dazu hatte, den Afshin, der ihn führte, mit Leib und Seele zu hassen.
Doch Jamshid starrte nicht etwa den Bogen an, sondern musterte mit zusammengekniffenen Augen etwas am Fuß der Statue. »Ist das etwa ein Krokodil?«, fragte er und deutete auf ein kleines verkohltes Skelett.
Nahri presste die Lippen aufeinander. »Es sieht ganz danach aus. Alizayd der Afshin-Schlächter.« Sie sprach den Titel leise aus, da sie ihn abgrundtief verabscheute.
Jamshid machte ein angewidertes Gesicht. »Das ist obszön. Ich bin keiner von Alizayds Anhängern, aber wer die Ayaanle als Krokodile bezeichnet, nennt uns auch Feueranbeter.«
»Nicht jeder ist so tolerant wie Ihr«, gab sie zu bedenken. »Ich habe solche Skelette schon früher hier gesehen und vermute, dass einige Leute glauben, Dara würde es begrüßen, wenn man seinen Mörder vor seinen Augen verbrennt.«
»Das würde er bestimmt auch«, sagte Jamshid mit finsterer Miene. Als er sich zu ihr umdrehte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Macht Ihr das häufig? Hierherkommen, meine ich.«
Nahri zögerte und war sich nicht sicher, was sie darauf antworten sollte. Sobald das Gespräch auf Dara kam, traf das bei ihr selbst fünf Jahre nach seinem Tod einen empfindlichen Nerv – einen Dornbusch an Gefühlen, der umso verworrener wurde, je erbitterter sie versuchte, seiner Herr zu werden. Ihre Erinnerungen an den mürrischen, attraktiven Krieger, den sie während der gemeinsamen Reise nach Daevabad so ins Herz geschlossen hatte, wurde von der Gewissheit getrübt, dass er auch ein Kriegsverbrecher gewesen war, an dessen Händen das Blut Unschuldiger aus Qui-zi klebte. Dara hatte sich in ihr Herz gestohlen und es dann zerschmettert, weil er derart darauf erpicht gewesen war, sie zu retten – selbst gegen ihren Wunsch –, dass er sogar das Risiko einging, ihre Welt dadurch in einen Krieg zu stürzen.
»Nein«, erwiderte sie schließlich und hielt das Zittern ihrer Stimme im Zaum. Anders als Jamshid war Nahri daran gewöhnt, ihre Gefühle zu verbergen. »Ich versuche, es zu vermeiden. Das ist kein Schrein für den Dara, den ich gekannt habe.«
Jamshids Blick zuckte vom Schrein zu ihr. »Wie meint Ihr das?«
Nahri betrachtete die Statue des attackierenden Kriegers. »Für mich war er kein legendärer Afshin. Jedenfalls nicht am Anfang. Qui-zi, der Krieg, die Rebellion … Von alldem hat er mir nichts erzählt.« Sie hielt inne. Hier im Tempel waren Dara und sie drauf und dran gewesen, laut über das zu sprechen, was zwischen ihnen entstanden war, und der darauf folgende Streit hatte sie entzweit und Nahri den ersten Blick auf das ermöglicht, was der Krieg Dara genommen hatte – und wie sehr dieser Verlust ihn verändert hatte. »Ich glaube, er wollte nicht, dass ich es erfahre. Am Ende …« Ihre Stimme wurde sanfter. »Ich bezweifle, dass das der Mann war, der er sein wollte.« Sie errötete. »Bitte entschuldigt. Ich sollte nicht ausgerechnet Euch damit belasten.«
»Ihr dürft mich mit allem belasten«, erwiderte Jamshid leise. »Es ist schwer mit anzusehen, wie diese Stadt diejenigen zerstört, die wir lieben.« Seufzend wandte er sich ab und stützte sich auf seinen Stock. »Wir sollten in den Palast zurückkehren.«
Nahri hing ihren Gedanken nach und sagte nichts weiter, als sie den Tempel verließen und über das gepflegte Grundstück zur wartenden Sänfte schritten. Die Sonne ging hinter den fernen Bergen am grünen Horizont unter, und aus dem Inneren des Tempels war das Schlagen einer Trommel zu hören. Irgendwo in der Stadt ertönte der Dschinn-Ruf zum Gebet, der vielfach aufgenommen wurde. Bei der Verabschiedung der Sonne waren die Dschinn- und Daeva-Gläubigen kurzfristig vereint.
Nach dem Einsteigen machte es sich Nahri auf den Kissen in der Sänfte bequem und ließ sich von den schaukelnden Bewegungen auf dem Weg durch das Daeva-Viertel einlullen.
»Müde?«, erkundigte sich Jamshid, als sie gähnte.
»Ich bin eigentlich immer müde. Und ich hatte bis spät in die Nacht eine Patientin. Eine Agnivanshi-Weberin, die die Dämpfe eingeatmet hat, mit denen sie ihre Teppiche fliegen lässt.« Nahri rieb sich die Schläfen. »Es wird doch niemals langweilig.«
Jamshid schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich kann Euch nachher gern helfen.«
»Das wäre großartig. Ich lasse uns aus der Küche etwas zum Abendessen heraufbringen.«
Er stöhnte auf. »Nicht wieder Euer seltsames Menschenessen.«
»Ich mag mein seltsames Menschenessen«, verteidigte sich Nahri. Einer der Palastköche war ein alter Mann aus Ägypten, ein Shafit, der immer genau zu wissen schien, wann er die tröstlichen Gerichte aus ihrer alten Heimat zubereiten musste. »Und außerdem …«
Vor der Sänfte hallte der Schrei einer Frau durch die Luft. »Lasst ihn gehen! Bitte! Ich flehe Euch an! Wir haben nichts falsch gemacht!«
Nahri richtete sich ruckartig auf. Die Sänfte kam abrupt zum Stillstand, und sie zerrte den Brokatvorhang auf. Sie befanden sich noch im Daeva-Viertel und auf einer ruhigen Straße, die an einigen der ältesten und schönsten Häuser der Stadt vorbeiführte. Vor dem größten standen ein Dutzend Mitglieder der Königsgarde und kramten in Möbelstücken herum. Zwei Daeva und ein Junge, kaum mehr als ein Teenager, knieten gefesselt und geknebelt daneben auf der Straße.
Eine ältere Daeva flehte die Soldaten an. »Bitte, mein Junge ist doch noch ein Kind. Er hat nichts damit zu tun!«
Ein weiterer Soldat trat aus der eingetretenen, schief in den Angeln hängenden Tür des Hauses heraus. Er rief aufgeregt etwas auf Geziriyya und schleuderte eine mit Schnitzereien verzierte Holztruhe mit so großer Gewalt auf den Boden, dass sie zerbrach. Münzen und ungeschliffene Edelsteine fielen heraus und landeten glitzernd auf dem nassen Boden.
Ohne groß darüber nachzudenken, sprang Nahri aus der Sänfte. »Was in Gottes Namen geht hier vor sich?«, verlangte sie zu erfahren.
»Banu Nahida!« Aus tränenfeuchten Augen sah die Frau sie erleichtert an. »Sie beschuldigen meinen Mann und seinen Bruder des Verrats und wollen mir auch meinen Sohn wegnehmen!« Sie schluchzte und wechselte ins Divasti. »Es ist alles gelogen! Sie haben sich nur getroffen, um über die neue Landsteuer auf Daeva-Grundstücke zu sprechen. Der König hat davon gehört, und jetzt bestraft er sie dafür, dass sie die Wahrheit sagen!«
Wut durchtoste Nahri, und ihr wurde ganz heiß. »Wie lauten eure Befehle?«, wollte sie von den Soldaten wissen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass man euch die Erlaubnis gegeben hat, dieses Haus zu plündern.«
Die Soldaten schienen von ihrem Versuch, Autorität auszustrahlen, wenig beeindruckt zu sein. »Neue Befehle«, erwiderter einer barsch. »Die Garde bekommt nun ein Fünftel von allem, was von Ungläubigen konfisziert wird – und damit seid ihr Daeva gemeint.« Seine Miene verfinsterte sich. »Ist schon seltsam, dass in dieser Stadt jeder leidet, mit Ausnahme der Feueranbeter.«
Die Daeva ging vor Nahri auf die Knie. »Bitte, Banu Nahida! Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich das Geld und den Schmuck nehmen können, wenn sie nur meine Familie verschonen! Wenn man sie in den Kerker wirft, sehe ich sie nie wieder.«
Jamshid trat neben sie. »Eure Familie geht nirgendwohin«, versicherte er ihr und wandte sich mit stählerner Stimme an die Soldaten. »Schickt einen Eurer Männer zum Emir. Ich verlange, dass niemand mehr Hand an diese Leute legt, bevor er hier ist.«
Der Dschinn-Offizier schnaubte. »Ich bekomme meine Befehle direkt vom König. Nicht vom Emir und erst recht nicht von irgendeinem nutzlosen Afshin-Nachahmer.« Er deutete auf Jamshids Gehstock und sprach mit grausamer Stimme weiter. »Euer neuer Bogen ist nicht ganz so beeindruckend wie Euer alter, Pramukh.«
Jamshid zuckte zurück, als wäre er geschlagen worden, und Nahri trat vor und war um seinetwillen entrüstet. »Wie könnt Ihr es wagen, derart respektlos mit ihm zu reden? Er ist der Sohn des Großwesirs!«
Im Handumdrehen hatte der Soldat sein Zulfiqar gezogen. »Sein Vater ist nicht hier und auch nicht Eure verdammte Geißel.« Er bedachte Nahri mit einem eisigen Blick. »Legt Euch nicht mit mir an, Nahid. Die Befehle des Königs waren eindeutig, und ich kann Euch versichern, dass ich nur wenig Geduld für die Feueranbeterin aufbringe, die ihren Afshin auf meine Kameraden gehetzt hat.« Er hob sein Zulfiqar und hielt es Jamshid gefährlich nah an die Kehle. »Wenn Ihr also nicht wollt, dass ich damit anfange, Daeva zu exekutieren, dann solltet Ihr jetzt besser in Eure Sänfte zurückkehren.«
Bei der Drohung erstarrte Nahri – auch vor dem, was seine unverhohlene Feindseligkeit offenbar bedeutete. Ghassan hatte Daevabad in einem eisernen Griff: Wenn seine Soldaten keine Bedenken hatten, zwei der mächtigsten Daeva der Stadt zu bedrohen, dann mussten sie sich offenbar keine Sorgen machen, deswegen bestraft zu werden.
Jamshid wich als Erster zurück und griff nach Nahris Hand. Die seine war kalt. »Lasst uns gehen«, sagte er leise auf Divasti. »Je eher wir weg sind, desto schneller kann ich Muntadhir darüber in Kenntnis setzen.«
Nahri war zutiefst betrübt und konnte die Frau kaum ansehen. In diesem Augenblick verabscheute sie zwar die Erinnerung an den Krieger Dara, wünschte sich aber dennoch, er wäre jetzt hier, würde Shedu-Statuen zum Leben erwecken und seinen Bogen gegen jene einsetzen, die Angehörigen ihres Stammes schaden wollten. »Es tut mir leid«, flüsterte sie und verfluchte sich innerlich dafür, dass sie nicht mehr tun konnte. »Wir werden mit dem Emir reden, das verspreche ich euch.«
Die Frau weinte bitterlich. »Spart Euch die Mühe«, erwiderte sie verzweifelt. Ihre nächsten Worte trafen Nahri bis ins Mark. »Wenn Ihr nicht einmal Euch selbst schützen könnt, wie wollt Ihr das dann bei uns anderen schaffen?«