Читать книгу Das Königreich aus Kupfer - Daevabad Band 2 - S. A. Chakraborty - Страница 9

Оглавление

1

NAHRI

Nahri schloss die Augen, hielt das Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme auf ihrer Haut. Sie atmete tief ein und ließ den erdigen Geruch der fernen Berge und die frische Brise, die vom See herüberwehte, auf sich wirken.

»Sie kommen zu spät«, beschwerte sich Muntadhir. »Sie kommen immer zu spät. Ich vermute fast, sie lassen uns gern in der Sonne schmoren.«

Zaynab schnaubte. »Du warst noch nicht ein einziges Mal in deinem Leben pünktlich, Dhiru. Willst du deswegen wirklich einen Streit anzetteln?«

Nahri ignorierte ihr Gezänk, atmete erneut die kühle Luft tief ein und genoss die Ruhe. Es kam nur selten vor, dass man ihr derart viel Freiheit gewährte, und sie hatte vor, das Beste daraus zu machen. Schließlich hatte sie auf die harte Tour lernen müssen, dass ihr auch gar keine andere Wahl blieb.

Kurz nach jener Nacht auf dem Boot hatte Nahri zum ersten Mal versucht, sich aus dem Palast zu schleichen. Sie hatte sich verzweifelt nach Ablenkung gesehnt und wollte in den Stadtteilen herumschlendern, die sie noch nicht besucht hatte und an denen die Gedanken an Dara sie nicht heimsuchen würden.

Daraufhin hatte Ghassan ihre Dienerin Dunoor herschaffen lassen und die Zunge des Mädchens verhext, weil es die Abwesenheit der Banu Nahida nicht gemeldet hatte, damit es nie wieder sprechen konnte.

Das zweite Mal hatte Nahri es aus reinem Trotz versucht. Muntadhir und sie sollten bald heiraten. Sie war die Banu Nahida. Was bildete sich Ghassan ein, sie in der Stadt ihrer Vorfahren einsperren zu können. Sie hatte sich besser vorbereitet, dafür gesorgt, dass ihre Gefährten über Alibis verfügten, und den Palast zu ihren Gunsten genutzt, indem sie sich in den Schatten verbarg und sich durch die am seltensten genutzten Korridore schlich.

Dennoch hatte Ghassan es herausgefunden. Er hatte die schlafende Torwache herbeizitiert, an der sie vorbeigeschlichen war, und den Mann vor ihren Augen auspeitschen lassen, bis sein Rücken nur noch aus blutigen Hautfetzen bestand.

Beim dritten Mal hatte Nahri es gar nicht erst mit Heimlichkeit versucht. Da sie frisch mit Muntadhir verheiratet gewesen war, hatte sie an einem sonnigen Tag einfach beschlossen, zu Fuß vom Großen Tempel zum Palast zu gehen, statt ihre bewachte Sänfte zu nehmen. Sie wäre nicht einmal im Traum darauf gekommen, dass Ghassan – der nun ihr Schwiegervater war – Anstoß daran nehmen könnte. Unterwegs hatte sie in einem kleinen Café im Daeva-Viertel haltgemacht und sich einige wunderschöne Augenblicke mit den überraschten und hocherfreuten Besitzern unterhalten.

Am folgenden Tag hatte Ghassan das Paar in den Palast holen lassen. Diesmal musste er niemandem mehr etwas tun. Nach einem Blick in die verängstigten Gesichter der beiden war Nahri auf die Knie gefallen und hatte geschworen, sich nie mehr unerlaubt irgendwo hinzubegeben.

Was auch bedeutete, dass sie jetzt keine Gelegenheit zum Verlassen des Palastes mehr ausließ. Abgesehen vom Streit der Geschwister und dem Ruf eines Falken war es vollkommen ruhig am See, und die Luft umgab sie mit herrlichem, himmlischem Frieden.

Ihre Erleichterung blieb nicht unbemerkt.

»Deine Frau sieht aus, als wäre sie gerade nach einem Jahrhundert im Gefängnis entlassen worden«, murmelte Zaynab in der Nähe. Sie senkte zwar die Stimme, doch Nahri besaß ein Talent dafür, Geflüster zu belauschen. »So langsam tut sie sogar mir leid, und als wir das letzte Mal in ihrem Garten Tee getrunken haben, riss mir eine der Reben die Tasse aus der Hand.«

Muntadhir brachte seine Schwester zum Schweigen. »Das hat sie bestimmt nicht mit Absicht gemacht. Manchmal passieren … solche Dinge einfach, wenn sie in der Nähe ist.«

»Ich hörte, eine der Shedu-Statuen hätte einen Soldaten gebissen, der ihre Assistentin geschlagen hat.«

»Vielleicht hätte er ihre Assistentin nicht schlagen sollen.« Muntadhirs Stimme wurde schärfer. »Aber genug von diesem Klatsch. Ich möchte nicht, dass Abba so etwas zu Ohren kommt.«

Nahri lächelte hinter ihrem Schleier und war angenehm überrascht, dass er sie verteidigte. Obwohl sie nun seit fast fünf Jahren verheiratet waren, ergriff Muntadhir seiner Familie gegenüber nur selten Partei.

Sie schlug die Augen auf und bewunderte die Aussicht. Es war ein wunderschöner Tag, einer der wenigen, an dem keine Wolke am strahlenden, unergründlich blauen Himmel über Daevabad stand. Sie warteten zu dritt im einst großen Hafen der Stadt. Die Docks waren zwar immer noch brauchbar, aber der Rest des Hafens zerfiel immer mehr, wie er es anscheinend schon seit Jahrhunderten tat. Unkraut wucherte aus den Rissen zwischen den Pflastersteinen, und die dekorativen Säulen lagen zerschmettert am Boden. Der einzige Hinweis auf die frühere Erhabenheit des Hafens lag in ihrem Rücken: die glänzenden Messingfassaden ihrer Ahnen, die die mächtigen Stadtmauern zierten.

Vor ihnen erstreckte sich der See, an dessen gegenüberliegendem Ufer die nebelverhangenen grünen Berge in einen schmalen, mit Kieselsteinen übersäten Strand übergingen. Der See war ruhig, das trübe Wasser schon vor langer Zeit während einer längst vergessenen Fehde mit dem Nahid-Rat von den Marid verflucht worden. Doch das war ein Fluch, an den Nahri auf keinen Fall denken wollte. Ebenso wenig vermochte sie in Richtung Süden zu blicken, wo die hohen Klippen unterhalb des Palastes auf das dunkle Wasser trafen. Das, was an dieser Stelle des Sees vor fünf Jahren geschehen war, sollte besser unangetastet bleiben.

Die Luft schimmerte und funkelte, und Nahri wandte ihre Aufmerksamkeit der Mitte des Sees zu.

Die Ayaanle waren eingetroffen.

Das Schiff, das den Schleier durchquerte, wirkte wie etwas aus einem Märchen, und es bewegte sich mit einer Anmut, die seine Größe Lügen strafte, durch den Nebel. Nahri war am Nil aufgewachsen und den Anblick von Booten gewohnt, das Chaos aus schlanken Feluken, Fischerbooten und schwer beladenen Handelstransportschiffen, die unablässig über den breiten Fluss fuhren. Doch dieses Schiff war damit ganz und gar nicht zu vergleichen. Es schien groß genug zu sein, um mehreren Hundert Passagieren Platz zu bieten, und das dunkle Teakholz strahlte im Sonnenlicht, als es sanft über den See glitt. Blaugrüne Banner, die mit den Symbolen stumpfer Goldpyramiden und sternförmiger silbriger Salztafeln verziert waren, flatterten an den Masten. Die zahlreichen bernsteinfarbenen Segel – von denen Nahri wenigstens ein Dutzend zählte – ließen die glänzenden Decks sehr klein erscheinen. Mit den Unterteilungen und Rippen sahen die Segel eher aus wie Flügel als wie etwas, das auf ein Schiff gehörte, und sie bebten und wogten im Wind wie etwas Lebendiges.

Staunend trat Nahri näher an die Qahtani-Geschwister heran. »Wie haben sie ein Schiff hierherbekommen?« Jenseits der magischen Schwelle, die Daevabads gewaltigen See und neblige Berge umgab, lag nichts als eine gewaltige felsige Wüste.

»Das ist nicht nur irgendein Schiff.« Zaynab grinste. »Es ist ein Sandschiff. Die Sahrayn haben sie erfunden und halten die Magie, die dafür benötigt wird, geheim, aber ein erfahrener Kapitän kann damit um die ganze Welt fliegen.« Sie betrachtete das Schiff seufzend mit einem ebenso bewundernden wie sehnsüchtigen Blick. »Die Sahrayn verlangen von den Ayaanle ein Vermögen, damit sie sie benutzen dürfen, aber sie machen auch wirklich was her.«

Muntadhir schien das schöne Schiff bei Weitem nicht so sehr zu beeindrucken. »Interessant, dass sich die Ayaanle so etwas leisten können, wo die Steuereinnahmen aus Ta Ntry arg zu wünschen übrig lassen.«

Nahri musterte ihren Gatten. Zwar hatte Muntadhir nie mit ihr über die wirtschaftlichen Probleme in Daevabad gesprochen, doch sie waren für jeden offensichtlich – insbesondere für die Banu Nahida, die die Trainingsverletzungen der Soldaten heilte, während sich diese über gekürzte Rationen beschwerten, oder die Flüche der zunehmend gereizten Beamten der Schatzkammer rückgängig machte. Glücklicherweise waren ihre Daeva bislang nicht groß von diesem Niedergang betroffen – was vor allem daran lag, dass sie nicht länger mit den anderen Stämmen Handel trieben, seitdem Ghassan nach Daras Tod stillschweigend die Zerstörung der Daeva-Stände und die Belästigung der Händler auf dem Großen Basar hinnahm. Warum sollte man das Risiko eingehen, mit Dschinn zu handeln, wenn niemand bereit war, sie zu beschützen?

Das Ayaanle-Schiff kam näher, und die Segel erschlafften, als Deckarbeiter in bunt gestreifter Leinenkleidung mit auffälligen Goldornamenten auf dem Boot herumhuschten. Auf dem oberen Deck rüttelte eine schimärenartige Kreatur mit einem mit rubinroten Schuppen bedeckten Katzenkörper an einem goldenen Harnisch, wobei ihre wie Diamanten schimmernden Hörner aufblitzten und sie mit dem schlangenartigen Schwanz um sich peitschte.

Das Schiff hatte kaum angedockt, da kamen auch schon mehrere Passagiere auf die königliche Abordnung zu. Unter ihnen befand sich ein Mann in einer voluminösen blaugrünen Robe, der einen silbernen Turban um Kopf und Hals gewickelt trug.

»Emir Muntadhir.« Er lächelte und verbeugte sich tief. »Friede sei mit Euch.«

»Und auch mit Euch«, erwiderte Muntadhir höflich. »Erhebt Euch.«

Der Ayaanle kam der Aufforderung nach und schenkte Zaynab ein deutlich aufrichtigeres Lächeln. »Ihr seid aber groß geworden, kleine Prinzessin!« Er lachte auf. »Ihr erweist diesem Münzwechsler eine große Ehre, dass Ihr ihn persönlich begrüßt«.

»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite«, versicherte Zaynab mit einer Anmut, die Nahri nie und nimmer aufgebracht hätte. »Verlief Eure Reise gut?«

»Gott sei gepriesen.« Der Mann wandte sich Nahri zu, und in seinen goldenen Augen spiegelte sich Erstaunen wider. »Ist dies das Nahid-Mädchen?« Er blinzelte, und Nahri entging nicht, dass er leicht zurückwich.

»Das ist meine Frau«, korrigierte Muntadhir ihn deutlich distanzierter.

Nahri sah dem Mann in die Augen und straffte sich, während sie ihren Tschador um sich zog. »Ich bin die Banu Nahida«, teilte sie ihm durch den Schleier mit. »Man sagte mir, Ihr wärt Abul Dawanik.«

Er verbeugte sich. »Das ist korrekt.« Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, was sie immer unruhiger machte. Dann schüttelte er den Kopf. »Erstaunlich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einer echten Nahid begegne.«

Nahri mahlte mit dem Kiefer. »Hin und wieder lässt man uns vor die Tür, damit wir die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen können.«

Muntadhir räusperte sich. »Ich habe für Euch und Eure Männer Platz in der königlichen Karawanserei schaffen lassen. Es wäre mir eine Freude, Euch persönlich dorthin zu begleiten.«

Abul Dawanik seufzte. »Bedauerlicherweise haben wir kaum Fracht dabei. Mein Volk braucht mehr Zeit, um die Karawane mit den Steuern vorzubereiten.«

Muntadhirs höfliche Maske blieb unversehrt, doch Nahri spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. »Das ist nicht das, worauf wir uns geeinigt hatten.« Die Warnung in seiner Stimme erinnerte sie derart an Ghassan, dass es ihr kalt den Rücken hinablief. »Ihr seid Euch doch bewusst, dass Navasatem kurz bevorsteht? Es ist ziemlich schwer, eine Feier zu planen, die in jedem Jahrhundert nur einmal stattfindet, wenn die Steuerzahlungen ständig zu spät eintreffen.«

Abul Dawanik warf ihm einen verletzten Blick zu. »Kommen wir also direkt auf das Thema Geld zu sprechen, Emir? Die Geziri-Gastfreundschaft, die ich gewohnt bin, beinhaltet normalerweise, dass wir noch wenigstens weitere zehn Minuten höfliche Nichtigkeiten austauschen.«

Muntadhirs Antwort war ebenso direkt. »Vielleicht würdet Ihr die Gesellschaft meines Vaters der meinen vorziehen.«

Abul Dawanik wirkte nicht eingeschüchtert; Nahri meinte vielmehr, einen Hauch von Gerissenheit in seiner Miene zu bemerken, bevor er erwiderte: »Es gibt keinen Grund für Drohungen, Eure Hoheit. Die Karawane ist nur wenige Wochen in Verzug.« Seine Augen funkelten. »Und Ihr werdet zweifellos genießen, was sie Euch bringt.«

Jenseits der Stadtmauer rief der Adhan die Gläubigen zum Mittagsgebet. Der Ruf vervielfachte sich, als immer mehr Muezzins ihn aufnahmen, und Nahri kämpfte gegen einen vertrauten Anflug von Heimweh an. Beim Adhan musste sie immer an Kairo denken.

»Das kann doch gewiss warten, Dhiru«, schaltete sich Zaynab ein, die offensichtlich versuchte, die zwischen den beiden Männern vorherrschende gereizte Stimmung zu besänftigen. »Abul Dawanik ist unser Gast. Er hat eine lange Reise hinter sich. Warum geht ihr nicht beide zusammen beten und besucht danach die Karawanserei? Ich kann Nahri zurück zum Palast bringen.«

Muntadhir sah nicht erfreut aus, protestierte jedoch auch nicht. »Macht es dir etwas aus?«, fragte er Nahri höflich.

Habe ich denn eine Wahl? Zaynabs Diener brachten bereits ihre Sänfte herüber, und der hübsche Käfig würde Nahri in ihr goldenes Gefängnis zurückbringen. »Natürlich nicht«, murmelte sie und wandte sich vom See ab, um ihrer Schwägerin zu folgen.

Auf dem Rückweg sprachen sie nicht viel. Zaynab wirkte gedankenverloren, und Nahri war damit zufrieden, ihren Augen ein wenig Ruhe zu gönnen, bevor sie in die geschäftige Krankenstube zurückkehren musste.

Auf einmal blieb die Sänfte wackelnd stehen. Nahri schreckte aus ihrem Halbschlummer hoch, rieb sich die Augen und runzelte die Stirn, als sie sah, dass sich Zaynab hastig einen Teil ihres Schmucks abstreifte. Danach türmte sie ihn neben sich auf das Kissen und holte zwei schlichte Baumwoll-Abayas unter ihrem mit Brokat besetzten Sitz hervor, von denen sie sich eine über das Seidengewand streifte.

»Werden wir ausgeraubt?«, fragte Nahri und hoffte fast schon, dass dem so wäre. In diesem Fall würde ihr ein Aufschub gewährt und sie müsste nicht unverzüglich in den Palast und Ghassans ständige, wachsame Obhut zurückkehren.

Zaynab wickelte sich einen dunklen Schal um das Haar. »Natürlich nicht. Ich mache einen Spaziergang.«

»Einen Spaziergang?«

»Du bist nicht die Einzige, die hin und wieder mal raus möchte, und ich nutze jede Gelegenheit, die sich mir bietet.« Zaynab warf Nahri die zweite Abaya zu. »Zieh das rasch über. Und achte darauf, dass der Schleier vor deinem Gesicht nicht verrutscht.«

Nahri sah sie überrascht an. »Du willst, dass ich mitkomme?«

Zaynab beäugte sie. »Ich kenne dich seit fünf Jahren und lasse dich auf keinen Fall mit meinem Schmuck allein.«

Trotz der Versuchung zögerte Nahri. Die verängstigten Gesichter all jener, die Ghassan an ihrer statt bestraft hatte, standen ihr sofort wieder vor Augen, und ihr Brustkorb zog sich vor Furcht zusammen. »Ich kann nicht. Dein Vater …«

Zaynabs Miene wurde sanfter. »Er hat mich noch nie erwischt. Und ich übernehme die Verantwortung, falls es heute passiert, das verspreche ich dir.« Sie bedeutete Nahri, sie zu begleiten. »Komm. Du siehst aus, als würdest du das dringender brauchen als ich.«

Rasch ging Nahri ihre Optionen durch. Ghassan hatte ein Faible für seine einzige Tochter, daher gewann nach kurzer Unentschlossenheit die Verlockung die Oberhand. Sie streifte sich die sichtbarsten königlichen Juwelen ab, schlüpfte in das Gewand, das Zaynab ihr gegeben hatte, und stieg hinter ihr aus der Sänfte.

Nach einem leisen Wortwechsel und einem vielsagenden Augenzwinkern, das die Prinzessin und eine ihrer Wachen austauschten – Nahri spürte, dass es sich um eine eingespielte Routine handelte –, wurden die beiden Frauen vom Strom der Fußgänger mitgezogen. Nahri war schon häufig mit Muntadhir im Geziri-Viertel gewesen, um seine Verwandten zu besuchen, hatte jedoch alles nur durch die Vorhänge der Sänften sehen können, in denen sie reisten, und kannte ansonsten nur das prunkvolle Innere der Villen. Die Frauen des Palasts hatten sich nicht unter das gewöhnliche Volk zu mischen und erst recht nicht auf den Straßen der Stadt herumzulaufen.

Auf den ersten Blick wirkte das Viertel klein – obwohl eine Geziri-Familie über die Stadt herrschte, zogen es die meisten Stammesangehörigen angeblich vor, im zerklüfteten Gelände ihres Heimatlandes zu leben. Dennoch bot es einen angenehmen Anblick. Windtürme ragten um sie herum auf und schickten die frische Brise vom See an den Reihen hoher Ziegelsteingebäude entlang, deren helle Fassaden mit Kupferfensterläden und weißem Stuck verziert waren. Vor ihnen lag der Markt, der durch gewebte Strohmatten vor der Sonne geschützt wurde, und ein glitzernder, mit verzaubertem Eis gefüllter Wasserkanal war in die Hauptstraße eingelassen. Auf der anderen Seite des Marktplatzes befand sich die Hauptmoschee des Viertels, und daneben stand ein großer schwebender Pavillon im Schatten von Dattel- und Zitronenbäumen, unter dem sich Familien an dunklem Halwa, Kaffee und anderen Leckereien vom Markt labten.

Und über allem thronte der schlichte Turm der Zitadelle, der Heimat der Königsgarde, die ihren Schatten auf das Geziri-Viertel und den benachbarten Großen Basar warf und sich vor der Messingmauer erhob, die Daevabad von dem tödlichen See trennte. Nisreen hatte ihr einmal – bei einer ihrer vielen unheilvollen Warnungen vor den Geziri – erzählt, die Zitadelle sei das erste Gebäude gewesen, das Zaydi al Qahtani einst errichten ließ, nachdem er dem Nahid-Rat Daevabad abgenommen hatte. Von dort aus hatte er jahrelang geherrscht und den Palast als verlassene, mit dem Blut ihrer Vorfahren befleckte Ruine verfallen lassen.

Zaynab ergriff in genau diesem Moment ihren Arm, um sie in Richtung Markt zu ziehen, was Nahri nur zu gern geschehen ließ. Fast schon unbewusst ergriff sie im Vorbeigehen unauffällig eine reife Orange von einem Obststand. Diese zu stehlen war vermutlich unklug, doch es hatte etwas ungemein Befreiendes an sich, so durch die Straßen der Stadt zu schlendern. Dies mochte zwar nicht Kairo sein, aber das Gesäusel der ungeduldigen Passanten, der Duft der um sie herum feilgebotenen Gerichte und die Scharen von Männern, die die Moschee verließen, hatten etwas Vertrautes an sich, das sie ihr Heimweh kurz vergessen ließ. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie sich anonym bewegen, was sie ungemein genoss.

Sobald sie den schattigen Markt erreicht hatten, drosselten sie das Tempo und schlenderten herum. Nahri ließ wie benommen den Blick umherschweifen. Eine Glasbläserin verwandelte heißen Sand mit ihren feurigen Händen in eine gemaserte Flasche, während auf der anderen Seite der Gasse ein hölzerner Webstuhl ganz von selbst arbeitete und die bunten Wollfäden überschlug und verdrehte, um das Muster eines halb fertigen Gebetsteppichs zu vollenden. Von einem Stand, der vor Blumen nahezu überquoll, wehte ein betörender Duft herüber, und ein Parfümeur tropfte Rosenwasser und Moschus auf ein glitzerndes Tablett voller geschmolzener Ambra. Gleich nebenan lagen zwei Jagdgeparden mit edelsteinbesetzten Halsbändern auf erhöhten Kissen und teilten sich die Ladenfront mit krächzenden Feuervögeln.

Zaynab blieb stehen, um die Großkatzen zu streicheln, während Nahri schon weiterschlenderte. In einer angrenzenden Gasse gab es eine ganze Reihe mit Buchhändlern, und sie hielt sofort darauf zu und war fasziniert von den Folianten, die auf Teppichen und Tischen ausgelegt waren. Einige wenige Bücher besaßen eine magische Aura, waren in Schuppen gebunden und hatten sanft schimmernde Seiten, aber der Großteil schien von Menschen geschaffen zu sein. Das überraschte Nahri nicht; von allen Dschinn-Stämmen standen die Geziri den Menschen angeblich am nächsten, mit denen sie auch stillschweigend das Land teilten.

Sie sah sich am nächsten Stand um. Die meisten Bücher waren auf Arabisch verfasst, und bei diesem Anblick kam ein seltsamer Schmerz in ihr auf. Das war die erste Sprache, die sie zu lesen gelernt hatte, und mit dieser Fähigkeit würde wohl auf ewig der Gedanke an den jungen Prinzen verbunden sein, der sie ihr beigebracht hatte. Da sie jedoch nicht an Ali denken wollte, sah sie sich gemächlich auf dem nächsten Tisch um, in dessen Mitte ein Buch mit einer Skizze von drei Pyramiden lag.

Im nächsten Moment stand Nahri auch schon davor und griff nach dem Buch, als wollte sie eine lange vermisste Freundin umarmen. Das waren die berühmten Pyramiden von Gizeh, wie sie sofort erkannte, und als sie durch die Seiten blätterte, sah sie noch weitere markante Wahrzeichen Kairos: die beiden Minarette des Bab-Zuweila-Tors und das gewaltige Innere der Ibn-Tulun-Moschee. Da waren Frauen in den schwarzen Kleidern, die Nahri einst ebenfalls getragen hatte, wie sie Wasser aus dem Nil schöpften, und Männer, die Haufen aus Zuckerrohr sortierten.

»Ihr habt ein gutes Auge, Herrin.« Ein älterer Geziri trat näher. »Das ist eine meiner neuesten Anschaffungen aus der Welt der Menschen, und ich habe so etwas noch nie gesehen. Ein Sahrayn-Händler hat es bei einer Nilüberquerung erworben.«

Nahri strich mit den Händen über die erste Seite. Das Buch war in einer Schrift verfasst, die sie noch nie gesehen hatte. »Was für eine Sprache ist das?«

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Ich bin mir nicht sicher. Sie erinnert mich an einige der alten lateinischen Texte in meinem Besitz. Der Händler, der es mir verkauft hat, hielt sich nicht lange in Ägypten auf; er sagte, es sähe ganz so aus, als wären die Menschen in eine Art Krieg verwickelt.«

In eine Art Krieg. Sie presste die Finger fester auf das Buch. Ägypten war gerade erst von den Franzosen erobert worden, als Nahri das Land verlassen hatte, und zuvor hatten die Ottomanen geherrscht – anscheinend war es Nahris Schicksal, einem besetzten Volk anzugehören, wo immer sie auch lebte. »Wie viel wollt Ihr dafür?«

»Drei Dinare.«

Sie starrte den Händler mit zusammengekniffenen Augen an. »Drei Dinare? Sehe ich aus, als wäre ich aus Gold gemacht?«

Der Mann wirkte brüskiert. »Das … das ist der Preis, Herrin.«

»Vielleicht für jemand anderen«, erwiderte sie verächtlich und verbarg ihre Freude hinter einer gespielten Kränkung. »Ich gebe Euch dafür höchstens zehn Dirham.«

Er keuchte auf. »Aber so machen wir das …«

Auf einmal stand Zaynab neben Nahri und umklammerte fest ihren Arm. »Was treibst du da?«

Nahri verdrehte die Augen. »Ich feilsche, werte Schwester. Du musstest so etwas vermutlich noch nie tun, aber …«

»Geziri feilschen nicht auf unseren Gemeindemärkten.« Zaynabs Stimme troff vor Verachtung. »Das sät nur Misstrauen.«

Nahri war empört. »Dann zahlt ihr also einfach, was verlangt wird?« Sie konnte nicht fassen, dass sie in ein derart naives Volk eingeheiratet hatte. »Und was ist, wenn der Händler einen übers Ohr hauen will?«

Zaynab reichte dem Buchhändler bereits drei Goldmünzen. »Vielleicht wäre es besser, nicht ständig davon auszugehen, dass dich jeder nur betrügen will, meinst du nicht?« Sie zog Nahri mit sich und drückte ihr das Buch in die Hand. »Und hör auf, hier eine Szene zu machen. Wir wollen schließlich nicht auffallen.«

Nahri drückte sich leicht beschämt das Buch an die Brust. »Das zahle ich dir zurück.«

»Beleidige mich nicht.« Zaynabs Stimme wurde sanfter. »Du bist nicht die Erste, für die ich auf dieser Straße ein überteuertes Menschenbuch gekauft habe.«

Nahri warf der Prinzessin einen Seitenblick zu und war sich nicht sicher, ob sie nachhaken oder das Thema auf sich beruhen lassen sollte. Damit fasste sie im Grunde genommen auch gut zusammen, was sie über Alizayd al Qahtani dachte.

Lass es gut sein. Es gab genug anderes, über das sie mit ihrer Schwägerin plaudern konnte. »Ich habe Gerüchte gehört, dass dir ein Edelmann aus Malacca den Hof macht«, sagte sie fröhlich, als sie weitergingen.

Zaynab blieb abrupt stehen. »Wo hast du das gehört?«

»Ich unterhalte mich gern mit meinen Patienten.«

Die Prinzessin schüttelte den Kopf. »Deine Patienten sollten lieber lernen, den Mund zu halten. Genau wie du. So viel habe ich doch wohl verdient, wo ich dir eben das Buch über seltsame Menschengebäude gekauft habe.«

»Möchtest du ihn denn nicht heiraten?«, fragte Nahri und schälte die Orange, die sie geklaut hatte.

»Selbstverständlich möchte ich ihn nicht heiraten«, antwortete Zaynab. »Malacca liegt jenseits des Meeres. Ich würde meine Familie so gut wie nie sehen.« Verachtung stahl sich in ihre Stimme. »Außerdem hat er drei andere Frauen, ein Dutzend Kinder und geht auf das zweite Jahrhundert zu.«

»Dann lehne den Antrag ab.«

»Das ist die Entscheidung meines Vaters.« Zaynab verzog das Gesicht. »Und mein Freier ist ein sehr wohlhabender Mann.«

Ah! Muntadhirs Besorgnis hinsichtlich der leeren Schatzkammern ergab auf einmal deutlich mehr Sinn. »Kann deine Mutter denn nicht widersprechen?«, fragte sie. Königin Hatset jagte Nahri schreckliche Angst ein, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Frau tatenlos zusah, wie ihre einzige Tochter im Austausch für wer weiß wie viel Gold nach Malacca verschifft wurde.

Zaynab schien zu zögern. »Meine Mutter hat momentan wichtigere Schlachten zu schlagen.«

Sie schlenderten durch eine ruhigere Straße, die an der Zitadelle vorbeiführte. Die schweren Steinmauern ragten hoch über ihren Köpfen auf und versperrten auf eine Art und Weise den Blick auf den blauen Himmel, dass sich Nahri ganz klein und unbedeutend vorkam, was sie nervös machte. Durch eine offene Doppeltür drangen Gelächter und das unverkennbare Zischen aufeinandertreffender Zulfiqar-Klingen an ihr Ohr.

Da sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte, reichte sie Zaynab die Hälfte ihrer Orange. »Das tut mir leid.«

Zaynab starrte die Frucht an, und in ihren grau-goldenen Augen stand Unsicherheit. »Mein Bruder und du, ihr wart Feinde, als ihr geheiratet habt«, begann sie zaghaft. »Manchmal hat es fast den Anschein, als wärt ihr das noch immer. Wie … wie habt ihr …?«

»Man findet einen Weg.« Die Worte kamen aus einer verhärteten Stelle in Nahris Innerem, an die sie sich schon zahllose Male zurückgezogen hatte, seitdem sie aus dem Nil gezogen und allein und verängstigt in Kairo ausgesetzt worden war. »Du wärst überrascht, was man alles auf sich nehmen kann, um zu überleben.«

Zaynab stutzte. »Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, ich müsste Muntadhir raten, eine Klinge unter seinem Kissen aufzubewahren.«

»Ich würde davon abraten, dass dein Bruder irgendetwas Scharfes mit ins Bett nimmt«, entgegnete Nahri im Weitergehen. »Wenn man die Vielzahl an Besuchern bedenkt …« Sie konnte nicht mehr weitersprechen und ließ die Orange fallen, als sich Kälte in ihr ausbreitete.

»Geht es dir gut?«, fragte Zaynab, die sofort stehen geblieben war.

Nahri hörte die Frage kaum. Es fühlte sich so an, als hätte sie eine unsichtbare Hand am Kinn gepackt und ihren Kopf herumgedreht, damit sie die dämmrige Straße entlangblickte, die sie eben passiert hatten. Zwischen der Zitadelle und dem fleckigen Messing der Stadtmauer befand sich ein Häuserblock, der schon vor Jahrhunderten geschleift worden sein musste. Pflanzen und Erde bedeckten die geborstenen Pflastersteine, und Brandspuren zierten die nackten Steinwände. Ganz am Ende der Gasse war ein halb zerfallenes Gebäude aus Ziegelstein zu sehen. Zerbrochene Fenster gingen auf die Straße hinaus, und die schwarzen Flecken wirkten wie fehlende Zähne in einem geöffneten Mund. Hinter dem Portikus ragten die grünen Kronen wild gewachsener buschiger Bäume empor. Efeu überwucherte das Gebäude, wand sich um Säulen und hing wie eine Vielzahl an Schlingen aus den zertrümmerten Fenstern.

Nahri ging etwas näher, atmete tief ein und spürte ein intensives Kribbeln auf der Haut. Sie hätte schwören können, dass sich die schweren Schatten ein wenig erhellten, wann immer sie sich bewegte.

Sie drehte sich zu Zaynab um, die ihr gefolgt war. »Was ist das für ein Ort?« Ihre Stimme hallte vom Stein wider.

Zaynab schaute sich skeptisch um. »Eine Ruine? Ich bin nicht gerade eine Expertin für verschimmelnde Bauwerke in einer dreitausend Jahre alten Stadt.«

Die Straße wurde unter Nahris Füßen wärmer; sogar so heiß, dass sie es durch die Sandalen hindurch spüren konnte. »Ich muss da reingehen.«

»Du musst was?«

Aber Nahri hatte sich schon in Bewegung gesetzt, und jeder Gedanke an die Prinzessin und sogar an Ghassans grausame Bestrafungen verblasste. Sie konnte einfach nicht anders und hielt den Blick starr auf den geheimnisvollen Gebäudekomplex gerichtet.

Vor einer großen Doppeltür aus Messing blieb sie stehen. Piktogramme waren in die Oberfläche geritzt – eine springende Oryx und ein Schiffsbug, ein Daeva-Feueraltar und ein Schuppenpaar –, und das Messing schimmerte vor Magie. Zwar konnte sich Nahri nicht vorstellen, dass hier noch jemand lebte, dennoch hob sie die Hand, um anzuklopfen.

Ihre Knöchel hatten die Tür kaum berührt, da schwang diese stöhnend auf und enthüllte ein klaffendes schwarzes Loch.

Auf der anderen Seite stand niemand.

Inzwischen hatte Zaynab sie eingeholt. »Auf gar keinen Fall«, sagte sie. »Du bist mit der falschen Qahtani unterwegs, wenn du glaubst, ich würde diese verfluchte Ruine betreten.«

Nahri schluckte schwer. Wäre sie in Ägypten gewesen, hätte dies der Anfang einer Geschichte sein können, mit der man Kindern Angst einjagen wollte und in der es um geheimnisvolle verfallene Bauwerke und furchterregende Dschinn ging.

Nur dass sie im Grunde genommen selbst die furchterregende Dschinn war und der eisige Griff, mit dem das Gebäude ihr Herz umschlungen hatte, jetzt noch fester wurde. Es war leichtfertig und ein Impuls, der keinen Sinn ergab – aber sie musste hineingehen.

»Dann bleib hier draußen.« Nahri wich Zaynabs Hand aus und trat ein. Die Dunkelheit verschluckte sie. »Naar«, flüsterte sie. Flammen wallten in ihrer Handfläche auf und erhellten etwas, das einst eine große Eingangshalle gewesen sein musste. Überreste von Farbe klammerten sich noch an die Wände und umrissen die Formen von geflügelten Bullen und stolzierenden Phönixen. Überall prangten Löcher, wo man vermutlich Edelsteine aus den Wänden gebrochen hatte.

Sie ging weiter und hielt die Flammen höher. Dann riss sie die Augen auf.

In den Fragmenten und Schatten auf der Wand lag die Schöpfungsgeschichte der Nahid vor ihr ausgebreitet. Suleimans uralter Tempel erhob sich über die Köpfe der ackernden Daeva-Arbeiter. Eine Frau mit spitzen Ohren in einem blau-goldenen Tschador kniete zu Füßen eines Menschenkönigs. Während Nahri das Wandbild staunend betrachtete, hätte sie schwören können, dass sich die Figuren bewegten und vermengten: ein verschmierter glasierter Farbfleck wurde zu einer Herde aufsteigender Shedu, die schlichte Strichzeichnung verschleierter Nahid-Heilerinnen, die Tränke brauten, füllte sich mit Farbe. Der leise Klang marschierender Stiefel und jubelnder Zuschauer drang leise an ihr Ohr, als eine Parade aus Bogenschützen an ihr vorbeiflanierte und die zeremoniellen Helme mit dem Kamm aus wippenden Federn zur Schau stellte.

Nahri keuchte auf, und dabei wirbelte die Flamme von ihrer Handfläche weg und die durch die Luft tanzenden Lichtpunkte erhellten den Rest der Kammer. Es war ein Ausbruch unbewusster Magie von der Art, wie sie sie mit dem Palast assoziierte, dem königlichen Herzen der Nahid, deren Macht noch immer in ihrem Blut floss.

Unverhofft verharrten die Wandbilder. Zaynab war hereingekommen und bahnte sich einen Weg über die auf dem Boden herumliegenden Trümmer.

»Ich glaube, dieser Ort hat einst meiner Familie gehört«, wisperte Nahri ehrfürchtig.

Zaynab sah sich unsicher um. »Ehrlich gesagt … könnte man das von fast ganz Daevabad behaupten.« Sie wirkte genervt, als Nahri sie erbost anstarrte. »Entschuldige, aber es fällt mir schwer, diplomatisch zu sein, wenn ich befürchten muss, dass das Gebäude jeden Augenblick über mir einstürzt. Können wir jetzt bitte gehen? Mein Vater lässt mich gleich morgen nach Malacca schicken, wenn seine Nahid unter einem Haufen einstürzender Ziegelsteine begraben wird.«

»Ich bin nicht seine Nahid, und ich gehe erst, wenn ich herausgefunden habe, was das früher für ein Ort war.« Das Kribbeln der Magie auf Nahris Haut hatte zugenommen, und die feuchte Hitze der Stadt wirkte in der kleinen Kammer nahezu erdrückend. Sie löste den Schleier, da sie nicht davon ausging, hier jemandem zu begegnen, ignorierte Zaynabs Warnung und kletterte über eine der eingestürzten Mauern.

Dahinter lag ein langer, noch intakter Korridor, aus dem eine Reihe Sandsteinbögen mehrere Türen von einem überwucherten Hofgarten abtrennte. Der Weg war in einem deutlich besseren Zustand als der Eingang; der Boden schien frisch gefegt zu sein, die Wände waren verputzt und mit bunter Farbe verziert.

Leise fluchend folgte Zaynab ihr. »Ich weiß nicht, ob ich es in letzter Zeit erwähnt habe, aber ich hasse dich.«

»Für ein magisches Wesen bist du erstaunlich wenig abenteuerlustig«, stellte Nahri fest und berührte einen der Farbwirbel, eine blaue Woge, die wie eine Welle aussah. Davor war der Umriss eines schwarzen Bootes zu erkennen. Bei ihrer Berührung bewegten sich die Wellen, als wären sie lebendig, und ließen das Boot über die Wand schlingern.

Nahri grinste. Obwohl sie fasziniert war, ging sie weiter und spähte im Vorbeigehen in die Räume. Abgesehen von einigen zerbrochenen Regalen und verrottenden Teppichresten waren sie alle leer.

Bis auf einen. Vor dem letzten Raum blieb Nahri stehen. Regale aus Zedernholz, die überquollen von Schriftrollen und Büchern, bedeckten die Wände bis hinauf zur fernen Decke. Weitere Texte waren zu wackligen hohen Haufen auf dem Boden gestapelt.

Sie war bereits eingetreten, bevor sie den flachen Schreibtisch zwischen zwei Manuskriptstapeln bemerkte. Eine Gestalt beugte sich über die mit Papieren übersäte Tischplatte, ein älterer Ayaanle in einer gestreiften Robe, die seinen runzligen Körper fast zu verschlucken schien.

»Nein, nein, nein …«, murmelte er auf Ntaran und strich durch, was er eben mit einem Kreidestift geschrieben hatte. »Das ergibt keinen Sinn.«

Nahri zögerte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ein Ayaanle-Gelehrter in einem Raum voller Bücher in einem fast zerfallenen Gebäude zu suchen hatte, aber er schien harmlos zu sein. »Friede sei mit Euch«, grüßte sie ihn.

Er hob ruckartig den Kopf.

Seine Augen hatten die Farbe von Smaragden.

Er blinzelte mehrmals schnell, kreischte auf und rutschte von seinem Kissen. »Razu!«, schrie er. »Razu!« Schon hatte er sich eine Schriftrolle geschnappt und hielt sie wie ein Schwert vor sich.

Nahri wich rasch zurück und hielt ihr Buch schützend vor sich. »Zurück!«, rief sie, während Zaynab angelaufen kam. Die Prinzessin hatte einen Dolch in der Hand.

»Oh, Issa, was ist denn jetzt wieder los?«

Nahri und Zaynab zuckten zusammen und wirbelten herum. zwei Frauen waren so schnell aus dem Hof herbeigeeilt, dass man fast glauben konnte, sie wären herbeschworen worden. Eine schien eine Sahrayn zu sein und hatte rötlich schwarze Locken, die ihr bis auf die Taille ihrer mit Farbe bekleckerten Dschallabija fielen. Die größere Frau – die eben gesprochen hatte – war eine Tukharistani und trug einen leuchtenden Umhang sichtlich magischen Designs, der sich wie ein Mantel aus geschmolzenem Kupfer von ihren Schultern ergoss. Ihr Blick fiel auf Nahri. Abermals grüne Augen. Dasselbe strahlende Grün wie bei Dara.

Der Ayaanle-Gelehrte – Issa – spähte durch die Türöffnung und hielt noch immer seine Schriftrolle umklammert. »Es sieht menschlich aus, Razu! Ich lasse mich nie wieder mitnehmen, das habe ich geschworen!«

»Das ist kein Mensch, Issa.« Die Tukharistani trat vor, ohne Nahri aus den Augen zu lassen. »Ihr seid es«, flüsterte sie. Ehrfurcht zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, und sie fiel auf die Knie und legte respektvoll die Finger aneinander. »Banu Nahida.«

»Banu Nahida?«, wiederholte Issa. Nahri sah, dass sein Zittern noch nicht nachgelassen hatte. »Bist du dir sicher?«

»Ja.« Die Tukharistani deutete auf einen mit Smaragden besetzten Reif an ihrem Handgelenk. »Ich kann das Ziehen in meinem Gefäß spüren.« Sie berührte ihre Brust. »Und in meinem Herzen«, fügte sie leise hinzu. »Wie einst bei Baga Rustam.«

»Oh!« Issa ließ die Schriftrolle sinken. »Ach herrje …« Er versuchte sich an einer Verbeugung. »Verzeiht, meine Damen. Man kann heutzutage nie vorsichtig genug sein.«

Zaynab atmete schwer neben ihr und hielt den Dolch noch immer erhoben in der Hand. Nahri drückte sanft ihren Arm herunter, um das seltsame Trio dann verwundert zu mustern. »Entschuldigt …«, begann sie und wusste nicht mehr weiter. »Aber wer seid Ihr alle?«

Die Tukharistani erhob sich. Ihr silbrig-golden gestreiftes schwarzes Haar wurde von einem komplizierten Spitzennetz gehalten, und ihr Gesicht war von Falten übersät; wäre sie menschlich gewesen, hätte Nahri sie auf über sechzig geschätzt. »Ich bin Razu Qaraqashi«, stellte sie sich vor. »Issa habt Ihr schon kennengelernt, und das ist Elashia.« Sie berührte sanft die Schulter der Sahrayn neben sich. »Wir sind die letzten Ifrit-Sklaven in Daevabad.«

Bei diesen Worten runzelte Elashia die Stirn, und Razu neigte leicht den Kopf. »Verzeih mir, meine Liebe.« Sie wandte sich wieder Nahri zu. »Elashia mag es nicht, als Sklavin bezeichnet zu werden.«

Nahri musste sich Mühe geben, um sich den Schreck nicht anmerken zu lassen. Unauffällig setzte sie ihre Fähigkeiten ein. Nun verwunderte es sie nicht länger, dass sie geglaubt hatte, hier würde sich niemand aufhalten; im ganzen Gebäude schlugen nur ihres und Zaynabs Herzen. Von den Körpern der Dschinn vor ihr ging kein Geräusch aus, genau wie es bei Dara gewesen war.

Weil es eigentlich gar keine Körper sind, begriff Nahri und erinnerte sich an das, was sie über den Sklavenfluch wusste. Die Ifrit ermordeten die Dschinn und übernahmen sie. Und als die Nahid die Dschinn befreiten, beschworen sie neue Gestalten herauf, neue Körper, die die zurückgewonnenen Seelen aufnehmen konnten. Nahri wusste nicht viel mehr über diesen Vorgang; die Dschinn fürchteten die Versklavung und sprachen nur selten davon, als könnte allein die Erwähnung des Wortes »Ifrit« dafür sorgen, dass sie ein Schicksal erleiden mussten, das schlimmer war als der Tod.

Ein Schicksal, das die drei Personen vor ihr überlebt hatten. Nahri machte den Mund auf, rang jedoch nach Worten. »Was macht Ihr hier?«, fragte sie schließlich.

»Wir verstecken uns«, antwortete Issa bedrückt. »Nach dem, was mit dem Afshin geschehen ist, will uns hier in Daevabad niemand mehr haben. Die Leute fürchten, wir könnten den Verstand verlieren und anfangen, Unschuldige mithilfe von Ifrit-Magie zu ermorden. Daher dachten wir, das Krankenhaus wäre der sicherste Ort für uns.«

Nahri blinzelte. »Das hier war ein Krankenhaus?«

Issa kniff die leuchtenden Augen zusammen. »Ist das nicht offensichtlich?« Er deutete umständlich auf die einstürzenden Ruinen um sie herum. »Was glaubt Ihr denn, wo Eure Vorfahren praktiziert haben?«

Razu trat rasch vor. »Wie wäre es mit ein paar Erfrischungen?«, schlug sie vor. »Es kommt nur selten vor, dass wir angesehene Mitglieder des Königshauses zu Gast haben.« Sie lächelte, als Zaynab zusammenzuckte. »Keine Sorge, Prinzessin, ansonsten ist das eine hinreißende Verkleidung.«

Während ihr das Wort »Krankenhaus« noch in den Ohren hallte, folgte Nahri der Frau. Der Hof befand sich in einem ähnlich bedauernswerten Zustand wie der Rest des Anwesens, und Wurzeln schlängelten sich um zertrümmerte blaue und limettengelbe Kacheln, dennoch hatte die Ruine etwas Schönes an sich. Üppige, wilde dunkle Rosen wuchsen hier und verströmten einen betörenden Duft; ihre dornigen Ranken wanden sich um eine vor langer Zeit umgestürzte Shedu-Statue. Zwei Bulbuls planschten trällernd in einem rissigen Brunnen, der vor den kaskadenartigen Ästen mehrerer schattenspendender Bäume stand.

»Achtet nicht weiter auf Issa«, sagte Razu leichthin. »Seine Umgangsformen sind ausbaufähig, aber er ist ein brillanter Gelehrter, der ein außergewöhnliches Leben geführt hat. Bevor er den Ifrit in die Hände fiel, verbrachte er Jahrhunderte damit, durch die Länder entlang des Nils zu reisen, die Bibliotheken zu besuchen und Kopien der Schriften nach Daevabad zu schicken.«

»Entlang des Nils?«, wiederholte Nahri begeistert.

»Ganz genau.« Razu musterte sie. »Ach ja … Ihr seid dort aufgewachsen. In Alexandria, richtig?«

»In Kairo«, korrigierte Nahri sie und spürte Sehnsucht in sich aufsteigen.

»Verzeiht mir den Fehler. Ich bin mir nicht sicher, ob es zu meiner Zeit schon ein Kairo gab«, sinnierte Razu. »Allerdings habe ich von Alexandria gehört. Von allen.« Sie schüttelte den Kopf. »Was für ein eingebildeter junger Schnösel Alexander doch war, dass er all diese Städte nach sich benannt hat. Seine Armeen haben den armen Menschen in Tukharistan große Angst eingejagt.«

Zaynab keuchte auf. »Soll das etwa heißen, dass Ihr zur selben Zeit gelebt habt wie Alexander der Große?«

Razus Lächeln sah nun noch rätselhafter aus. »So ist es. Beim diesjährigen Generationenfest werde ich dreiundzwanzig Jahrhunderte alt sein. Anahids Enkel haben über Daevabad geherrscht, als mich die Ifrit holten.«

»Aber … das ist nicht möglich«, hauchte Nahri. »Nicht bei Ifrit-Sklaven.«

»Ah! Vermutlich hat man Euch erzählt, dass wir alle verrückt werden, wenn wir mehrere Jahrhunderte gelebt haben?« Razu beäugte sie kritisch. »Wie die meisten Dinge im Leben ist die Wahrheit etwas komplizierter. Und meine besonderen Umstände waren durchaus ungewöhnlich.«

»Inwiefern?«

»Ich habe mich den Ifrit freiwillig überlassen.« Sie lachte auf. »Ich war ein schrecklich verruchtes Ding mit einer Vorliebe für Geschichten über verlorene Schätze. Wir hatten uns eingeredet, dass wir alle möglichen legendären Reichtümer finden würden, wenn wir die Kräfte zurückerhielten, die wir vor Suleiman gehabt hatten.«

»Ihr habt Euch den Ifrit ausgeliefert?« Zaynab war entsetzt, aber Nahri fühlte sich dieser geheimnisvollen Frau immer mehr zugetan.

Razu nickte. »Einem meiner entfernten Vettern. Er war ein dickköpfiger Narr, der sich Suleiman nicht unterwerfen wollte, aber ich mochte ihn.« Sie zuckte mit den Achseln. »Damals waren die Beziehungen zwischen den verschiedenen Spezies gewissermaßen eine … Grauzone.« Sie hob eine Handfläche, auf der drei schwarze Linien zu sehen waren. »Aber es war töricht. Ich schickte meine Meister auf die Suche nach fantastischen Dingen, die mein Vetter und ich uns nach meiner Befreiung aneignen wollten. Als ich gerade mit meinem dritten Menschen einige alte Gräber aushob, brach alles zusammen, tötete ihn und begrub meinen Ring in der Wüste.«

Sie schnippte mit den Fingern, und ein Ballen Seide erhob sich aus einem Korb unter einem Neembaum, verlängerte sich und nahm die Form einer Schaukel an. Sie bedeutete Nahri und Zaynab, sich zu setzen.

»Es dauerte zweitausend Jahre, bis mich ein anderer Dschinn fand. Er brachte mich zurück nach Daevabad, wo ich bis heute geblieben bin.« Razus helle Augen schimmerten. »Ich habe meinen Ifrit-Vetter nie wiedergesehen. Vermutlich hat ihn letzten Endes doch eine Nahid oder ein Afshin erwischt.«

Nahri legte sich eine Hand an die Kehle. »Das tut mir sehr leid.«

Razu stieß sie sanft an der Schulter an. »Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ich hatte eindeutig größeres Glück als Issa und Elashia; meine wenigen menschlichen Meister waren stets gut zu mir. Aber als ich zurückkehrte, existierte meine Welt nicht mehr, sämtliche meiner Nachfahren waren von der Geschichte vergessen und die Tukharistan, die ich kannte, galten in den Augen meines Volkes als Legende. Es war einfacher, in Daevabad von vorn anzufangen. Jedenfalls bis vor Kurzem.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber was fasele ich denn hier von der Vergangenheit … Was hat Euch hierhergeführt?«

»Sorglosigkeit«, murmelte Zaynab leise.

»Ich … ich kann es nicht genau sagen«, gab Nahri zu. »Wir kamen hier vorbei, und ich spürte …« Sie brach ab. »Ich spürte die Magie, die von diesem Ort ausgeht, und sie hat mich an den Palast erinnert.« Sie schaute sich staunend um. »War das hier früher wirklich ein Krankenhaus?«

Razu nickte. »Ja, das war es.« Mit einem weiteren Fingerschnippen ließ sie einen rauchenden Glaskrug und drei Kelche erscheinen. Sie schenkte Nahri und Zaynab etwas von einer wolkenfarbigen Flüssigkeit ein. »Ich habe hier einige Zeit als Patientin verbracht, nachdem es mir nicht gelungen war, einem meiner Gläubiger aus dem Weg zu gehen.«

Zaynab nippte vorsichtig an ihrem Becher und spuckte die Flüssigkeit sofort äußerst unelegant zurück in den Kelch. »Oh, das ist eindeutig verboten.«

Neugierig kostete Nahri ebenfalls und musste husten, als ihr der Alkohol die Kehle versengte. »Was ist das?«

»Soma. Das Lieblingsgetränk Eurer Ahnen.« Razu zwinkerte ihr zu. »Trotz Suleimans Fluch hatten die Daeva meiner Zeit die Wildheit noch nicht ganz verloren.«

Was immer Soma auch war, es entspannte Nahri sichtlich. Zaynab sah aus, als wäre sie bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen, aber Nahri genoss ihre Zeit hier mit jeder Andeutung über Razus verbrecherische Vergangenheit mehr. »Wie war es damals – als Ihr hier Patientin wart, meine ich?«

Razu ließ den Blick nachdenklich umherschweifen. »Es war ein erstaunlicher Ort, selbst in einer so magischen Stadt wie Daevabad. Die Nahid müssen Tausende behandelt haben, und alles lief so reibungslos wie ein gut geöltes Uhrwerk. Ich war mit einer recht ansteckenden Verzweiflungssträhne verhext worden, daher hat man mich dort drüben in Quarantäne behandelt.« Sie deutete mit dem Kopf auf einen einstürzenden Flügel und nippte an ihrem Getränk. »Sie haben sich hervorragend um uns gekümmert. Ein Bett, ein Dach über dem Kopf und warme Mahlzeiten? Das war es beinahe wert, krank zu sein.«

Nahri stützte die Handflächen hinter sich und lehnte sich zurück, während sie sich alles ausmalte. Krankenhäuser kannte sie recht gut; sie hatte sich oft in Kairos berühmtestes geschlichen – das majestätische alte Bimaristan im Qalawun-Komplex –, um Vorräte zu stibitzen, sich dort umzusehen und sich auszumalen, sie könnte sich den Studenten und Ärzten in den luftigen Korridoren anschließen.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie es hier ausgesehen hatte, als das Krankenhaus noch ganz und voller Nahid gewesen war. Dutzende von Heilern, die sich Notizen machten und Patienten behandelten. Das musste eine außergewöhnliche Gemeinschaft gewesen sein.

Ein Nahid-Krankenhaus. »Ich wünschte, ich hätte auch so etwas«, murmelte sie.

Razu grinste und prostete Nahri zu. »Solltet Ihr je einen Wiederaufbau in Betracht ziehen, stehe ich an Eurer Seite.«

Zaynab hatte die ganze Zeit mit dem Fuß gewippt und stand nun auf. »Wir sollten gehen, Nahri.« Sie deutete warnend zum Himmel hinauf. Die Sonne war bereits hinter den Mauern des Krankenhauses verschwunden.

Nahri berührte Razus Hand. »Ich werde versuchen, wieder herzukommen«, versprach sie. »Ihr drei … seid Ihr hier sicher? Braucht Ihr irgendetwas?« Zwar waren Razu und ihre Gefährten gewiss besser als Nahri in der Lage, für sich zu sorgen, aber sie verspürte plötzlich den Drang, die drei Seelen zu beschützen, die ihre Familie befreit hatte.

Razu drückte ihre Hand. »Wir kommen zurecht«, versicherte sie ihr. »Aber es wäre schön, wenn Ihr zurückkehrt. Ich glaube, das Gemäuer mag Euch.«

Das Königreich aus Kupfer - Daevabad Band 2

Подняться наверх